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Kulturpolitik
Zwischen Pandemie und Krieg
Musiktheater in Zeiten der Krise
Reaktionen auf die Pandemie zeigen es: Die subventionierten Musiktheater-Sparten und Opernhäuser sind keineswegs so langsam und starr, wie man ihnen nachsagt. Für diese Flexibilität benötigen sie unter allen Kultursparten die aufwändigste Organisation und Logistik. Neuinszenierungen subventionierter Musiktheater, das Eintakten großer Orchester-, Chor- und Tanzbesetzungen, nicht zuletzt das Marketing und die Außenkommunikation erzwingen unter heutigen Gegebenheiten einen Vorlauf von zwei bis zu fünf Jahren. All das war mit der Pandemie seit dem ersten Lockdown empfindlich in Frage gestellt. Wenn derzeit wieder vollzählige Platzangebote in den Verkauf kommen, bleiben in Opernhäusern und Mehrspartentheatern viele Sitze leer. Die drei großen Erschütterungen – die Pandemie, der russische Angriff auf die Ukraine, der Klimawandel – werden das Angebot und das Publikumsverhalten an kleinen und großen Musiktheatern in den kommenden Spielzeiten spürbar beeinflussen. Grund genug, bei einigen Musiktheatern in Deutschland nachzufragen: Gab es Lerneffekte aus der Pandemie für eine zukünftige Planungssystematik, die über eine flexible Gestaltung des Vorstellungsbetriebs hinausgehen? Einige der angefragten Bühnen entschuldigten sich bei dieser Umfrage mit einem hohen Arbeitsaufkommen infolge der von Februar bis April besonders hart grassierenden Corona-Welle oder wegen außergewöhnlicher Hilfsinitiativen für die Ukraine und Flüchtende.
Aufwändige Ausstattungskonzepte geraten zunehmend in die Diskussion. Massive Sparpläne von Trägern der Opernhäuser zum Beispiel in Frankfurt und München werfen bedrohliche Schatten. Die Unsicherheit merkt man allerdings am meisten daran, dass viele Theater die sonst im März stattfindende Bekanntgabe des Spielplans für 2022/2023 und Abo-Angebote auf Mai, also einen weitaus späteren Zeitpunkt, verschoben haben.
„Der Lappen muss hochgehen“ am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin. Foto: Silke Winkler
Der Regisseur Martin G. Berger verwendete im Corona-Buch der Oper Dortmund das Wort „liveness“ für alle, auch neuartigen Aufführungsformate – physisch, digital und hybrid. Das bisherige Wort „Vorstellung“ beinhaltet spätestens seit Beginn der Pandemie nicht mehr alle potenziellen Gegebenheiten und Lösungen, mit denen eine Aufführung unter ständigen Änderungen möglich werden kann. Zum Beispiel hatte das Gärtnerplatztheater München besonders effiziente Modi entwickelt. Im Bedarfsfall wurde dort der personelle Aufwand von Repertoirestücken verkleinert und bis fast unmittelbar vor dem Vorstellungstermin offengelassen, ob es auf eine physische Aufführung mit Publikum, einen Livestream
mit wenigen Hausmitgliedern im Zuschauerraum oder auf eine Streamaufzeichnung zur zeitversetzten Sendung hinauslief.
Hans-Georg Wegner, Generalintendant am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, sagt unverblümt: „Wir haben versucht, der Maxime ‚Der Lappen muss hochgehen‘ Rechnung zu tragen.“ Diese flapsig wirkende Anmerkung zeugt von hoher Wertschätzung gegenüber dem gesellschaftlichen Auftrag, dem Publikum und einem den Mitarbeitenden entgegenbrachten Arbeitsethos. Wegner setzte aber relativierend hinzu: „Wer immer spontan planen muss, dem fehlt die Zeit, langfristig gut zu planen. Das ist gefährlich.“ Immerhin entwickelten sich durch Corona Erfahrungswerte, welche dann für erschwerte Vertragsgestaltungen mit ausländischen Kolleg/-innen aus Krisengebieten anwendbar wurden.
Viele Theater geraten schon wieder an ihre Grenzen. Die Antworten der kleineren und großen Bühnen lassen in den kommenden Jahren auf eher regionale Lösungen bei den Säulen Besetzungsstrategie und Außenkommunikation schließen. „Die Pandemie hat die logistischen Anforderungen, zum Beispiel Anreise und Visa, verkompliziert. Diese Erfahrungen kann man teilweise auch in diesen Kriegszeiten anwenden“, beschreiben Geschäftsführerin Natascha Müllauer und PR-Referentin Angelika Ruge, Tiroler Festspiele Erl, die Lerneffekte aus der Pandemie sowie aus den notwendig gewordenen Ausfällen und Verschiebungen. Zumal größere und viel mit Gästen arbeitende Häuser auf längere Sicht bis zum Ende des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine in Konflikte zwischen kosmopolitischer Offenheit und eingeforderten politischen Bekenntnissen geraten.
„Für die Flexibilität hat sich als günstig erwiesen, möglichst auf Gäste zu verzichten“, bestätigt Kay Kuntze, Generalintendant des Theater Altenburg Gera. Kuntze setzte während der Pandemie Kammeropern ohne Chor auf die große Bühne des Theaterhauses Gera und in das während des Umbaus als Ersatzspielstätte dienende Theaterzelt Altenburg. Er löste die Abonnement-Strukturen für die Dauer der Pandemie auf und gliederte die letzten beiden Spielzeiten in mehrere Planungsperioden, deren Inhalte kurzfristig an geltende Sicherheitsbestimmungen angepasst werden konnten. Das künstlerische Personal, die Gewerke und Verwaltung erklärten sich zu außerplanmäßig durchgängiger Sommerbespielung und Urlaubsverzicht bereit. Das fordert für die Mitglieder des Theaters Altenburg Gera noch größere Anerkennung, weil diese lange Jahre im Rahmen eines Haustarifvertrags durch Lohnverzicht einen Beitrag zum Bestand des Theaters beigetragen hatten.
Nach der Pandemie nicht für alle attraktiv: Formate wie „The Seven Deaths of Maria Callas“. Foto: Bettina Stöß
Unter den ständig neuen Bedingungen – vor allem Reisehandicaps und kurzfristige Umstellungen – sind Musiktheater mit großen beziehungsweise stabilen Ensembles gegenüber Bühnen, die überwiegend mit Gästen arbeiten, im Vorteil. Dazu Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt: „So manche Vorstellung wurde schon gerettet, weil Ensemblemitglieder bereit waren, innerhalb von ein paar Stunden eine neue Partie zu erlernen. Je nach Seltenheitswert der gespielten Stücke kann man auch von Beginn an mit Doppelbesetzungen arbeiten. In der Corona-Zeit kam erschwerend hinzu, dass die Ausfälle oftmals erst kurz vor Vorstellungsbeginn feststanden und Sänger/-innen dann für einen längeren Zeitraum ausfielen. Dann kommt es auf Improvisationsbereitschaft an. Es gab beispielsweise einen Abend, an dem im Wesentlichen nur die beiden Sängerinnen der Titelpartien übrig blieben und der Dirigent einen sehr besonderen, konzertanten Abend auf die Bühne zauberte.“
Neben den stabilisierenden Aspekten stehen menschliche. Zum Umgang unter Festangestellten antwortete Dietmar Schwarz, Intendant der Deutschen Oper Berlin: „In unserem Haus besteht auch nach Beginn des Krieges ein kollegialer Umgang zwischen Menschen russischer und ukrainischer Herkunft. Gewiss wird in der aktuellen Anspannung heftiger diskutiert, zum Beispiel im Ballett. Aber die Grenzen des Respekts und des Anstands werden nicht überschritten.“ Solidarisches kann auch Ulrike Schumann, Operndirektorin am Theater Heidelberg, melden: „Inzwischen sind erste ukrainische Künstler/-innen bei uns im Theater angekommen und integriert, so im Orchester, in der Bühnentechnik, im Schauspiel und im Dance-Theater. Unsere russischsprachigen Kolleg/-innen helfen, wo sie nur können, mit Dolmetschen, Behördengängen und allem, was sonst noch bewältigt werden muss. Beispielsweise gibt es Patenschaften zwischen Musiker/-innen unseres Hauses und den neuen Kolleg/-innen aus der Ukraine. Am Haus gilt das Credo, dass für diesen Krieg die russische Regierung verantwortlich ist, nicht die Bevölkerung.“ Vielleicht erweisen sich Kultur und Kollegialität doch stärker als das Ertrotzen von Stellungsmaßnahmen gegen ein System oder einen Machthaber. „Nie würde ich mir von einem gastierenden Künstler das Parteibuch zeigen lassen“, sagt Dietmar Schwarz. Wegner konstatiert für Schwerin: „Hier herrscht Konsens, auch unter unseren ukrainischen Künstler/-innen, dass russische Kultur nicht für Putin verantwortlich zu machen ist.“
Die Deutsche Oper Berlin und die Oper Frankfurt sind von hoher Attraktivität für das lokale und internationale Publikum. Loebe bestätigt: „Natürlich hat sich ein Teil der Abonnenten dafür entschieden, eine Auszeit zu nehmen, aber es gab eben auch viele, die bereit waren, solidarisch mit uns durch diese Zeit zu gehen. Sie haben es in Kauf genommen, nicht zu wissen, auf welchem Platz und unter welchen Zugangsbedingungen sie in der nächsten Vorstellung sitzen werden und sich wenig beklagt, wenn wir unsere Besucher wegen geringer Platzkapazität ausladen mussten. Die Bindung ist dadurch eher noch enger geworden. Wir denken positiv und hoffen, dass die übrigen in der kommenden Spielzeit wieder zurückkehren.“ Mit verhältnismäßig wenig Aufwand können Besucher mit geringer Anreisedauer auch bei häufigen Terminänderungen und Umbesetzungen gehalten werden. Anders schaut es an Theaterorten wie Schwerin aus, wo die Publikumskommunikation aufgrund des großen regionalen Einzugsgebiets weitaus schwieriger ist. Dazu Wegner: „Wer viel ändern und mit Absagen hantieren musste, bei dem gewöhnt sich das Publikum das langfristige Karten-Kaufen ab.“ Kleinere Häuser wie Heidelberg können mit kleineren Formaten das Publikum nicht mehr nachdrücklich anlocken, wie Ulrike Schumann bestätigt: „Aber jetzt merken wir zunehmend: Es braucht mal wieder die große Form mit vollem Orchester- und Chorklang, auf den wir zwei Jahre verzichten mussten.“ Damit erweisen sich besondere Stücke, wie die neuen Werke in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin oder Marina Abramovićs „The Seven Deaths of Maria Callas“, eine performative Koproduktion der Deutschen Oper Berlin, der Bayerischen Staatsoper und der Griechischen Nationaloper, als nur zu einem Teil für neue Publikumsgruppen attraktiv. Obwohl klein besetzte Projekte und Kammeropern zahlenmäßig überall zunehmen, halten alle Musiktheater-Leitungen große Besetzungen für den Bestand und das anhaltende Publikumsinteresse für unverzichtbar. Als persönliches Ziel formuliert Kay Kuntze: „Unsere Branche ist von der Pandemie schwer getroffen, unsere große Aufgabe ist, wieder Vertrauen und Angstfreiheit aufzubauen – in den Ensembles, aber auch im Publikum.“
Die nächsten Spielzeiten werden zu einem hohen Anteil durch in den letzten beiden Jahren entfallene Produktionen geprägt. Das Risiko von Absagen wird höchstwahrscheinlich geringer. Dietmar Schwarz zeigt sich wie die Berliner Tourismusbranche zuversichtlich, dass bald wieder Erfolgszahlen geschrieben werden können. Für Theater in ländlichen Regionen wird es dagegen weitaus schwieriger, das Publikum für mittel- und langfristige Angebote zu gewinnen. Durch den sich auflösenden Premieren-Stau kommt es ab Spätsommer 2022, sofern sich keine neue Pandemie-Welle ankündigt, zu einer Überzahl groß besetzter Produktionen. Wagners Opern-Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“ wird es in den nächsten zwölf Monaten bei den Bayreuther Festspielen, an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, in Leipzig zum Festival „Wagner22“, in Stuttgart, konzertant bei der Dresdner Philharmonie und an anderen Orten geben. Ist das nicht ein Überangebot, zumal das Publikum beim Kartenkauf derzeit noch zögert? Dietmar Schwarz glaubt fest daran, dass die bisherige Reisefreude von Musiktheater-Anhängern bald wieder die Intensität der Zeit vor Corona erreichen wird.
Die nächste Drehung der allgemeinen Problemspirale wurde in den Korrespondenzen und Gesprächen nicht berührt: Wie wirken sich die rapiden Preissteigerungen auf das Besuchsverhalten der Theater und Konzerte aus? Werden Konsumenten die explodierenden Kosten mit Verzicht auf Kulturausgaben auszugleichen versuchen? Hinzu kommt die Frage nach den kommunalen Haushalten: Die von der Stadt Frankfurt am Main angekündigten Kürzungen würden für die Oper Frankfurt eine massive Beeinträchtigung, wenn nicht sogar Spielunfähigkeit bedeuten.
Herausforderungen an ihre interne und externe Kommunikationsfähigkeit haben die Musiktheater bisher achtbar bis hervorragend gemeistert. Wie in anderen Bereichen erweist sich eine Konzentration auf regionale Lösungen als vorteilhaft. Das gilt für Besetzungen und für die Ausrichtung auf das Publikum. Für die wirtschaftliche Situation sind allerdings noch viele Fragen offen, zumal sich die Auswirkungen der Preissteigerung auf das Musiktheater erst in den kommenden Monaten realistisch beurteilen lassen.
Roland H. Dippel
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