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Schwerpunkt: Tanz

Eine unendliche Geschichte

„Schwanensee“ im Verlauf der Geschichte

Von Dieter David Scholz

Wenn Ballett „die auf die Spitze getriebene Anmut“ ist, dann ist „Schwanensee“ das wohl anmutigste Ballett, das romantische Ballett an sich, eine Ikone des klassischen Balletts als Zwiesprache zwischen Musik und Tanz, die seit seiner Uraufführung immer wieder Choreografen und Komponisten, Tänzer und Musiker angeregt hat, neue Versionen, Adaptionen, Variationen zu kreieren.

Pjotr I. Tschaikowski wurde 1875 von der Moskauer Theaterdirektion zu seinem ersten Ballett beauftragt und stürzte sich damit als Gattungsfremder in den „Schwanensee“. Seine Ballettmusik kam allerdings bei zeitgenössischen Kritikern nicht gut an: zu monoton, „untanzbar“ und stark abweichend von herkömmlichen Konventionen sei sein Stil. Der Komponist habe zu wenig Ahnung vom Ballett, erfülle nicht die gattungsspezifischen Anforderungen und würde anatomische Voraussetzungen nicht berücksichtigen. Auch die überarbeitete zweite Fassung, in die Kompositionen anderer Musiker eingearbeitet wurden, am 27. Januar 1895, zwei Jahre nach dem Tod Tschaikowskis, in St. Petersburg unter der Choreografie Wenzel Julius Reisingers uraufgeführt, war kein Erfolg. Erst die Version Marius Petipas und Lew Iwanows in St. Petersburg brachte den Durchbruch.

„Schwanensee“ ist seither zum Ballettklassiker geworden, zum Ballettmysterium par excellence. An der Petersburger Inszenierung von Marius Petipa und Lew Iwanow (1895) orientieren sich die meisten Choreografen, sie wirkt bis heute in Neuinszenierungen nach.

Viele Choreografen erlagen immer wieder dem Wagnis wie der Versuchung, „Schwanensee” im Sinne ihrer Ästhetik des Tanzes und zeitgenössischer Ansätze zu bearbeiten, in Russland (eine Geschichte für sich) wie außerhalb des Landes. Es ist nahezu unmöglich, alle Bearbeitungen des Balletts zu kennen oder aufzulisten. Marksteine neuer Versionen des alten Klassikers außerhalb Russlands waren unter anderem die Produktionen von George Balanchine (New York City Ballett 1951), ein Paradebeispiel des Neoklassizismus im Ballett.

John Cranko zeigte in seiner 1963 ersten, zehn Jahre später variierten Version mit dem Stuttgarter Ballett das Kunstmärchen eines unglücklichen Prinzen, den Abschied eines jungmännlichen Helden von seiner unbeschwerten Jugend mit Bauern und Bürgern, volksverbunden in der freien Natur. Es war sein internationaler Durchbruch.

Rudolf Nurejew ging einen Schritt weiter. Der Startänzer, einer der besten Ballett-Tänzer des 20. Jahrhunderts und schon zu Lebzeiten eine Ikone des Tanzes, hat mehrere Versionen geschaffen. Seine Fassung des „Schwanensee“ für die Wiener Staatsoper aus dem Jahr 1964 ist bis heute legendär. Doch schon als er 1963 bei John Cranko in Stuttgart gastierte, entdeckte Nurejew eine psychologische Interpretation des Balletts, die ihn in seiner Eingebung bestärkte: Der Prinz muss als Mensch auftreten, der eine dramatische Erfahrung gemacht hat, und nicht als ein unbedarfter junger Mann. Im Jahr 1984 überarbeitete Nurejew seine Version im Sinne der Psychoanalyse für die Pariser Oper.

Tom Schilling, der Erfinder des Tanztheaters in der DDR, von 1965 bis 1993 war er Ballettchef an der Komischen Oper Berlin (dem profiliertesten Ballett-Ensemble der DDR), schuf 1978 seinen „Schwanensee“. Den Bewegungskanon des klassischen Balletts verband er mit Elementen des Ausdruckstanzes. Tom Schilling wollte mit seinen Choreografien Geschichten erzählen, er wollte die Beziehungen von Menschen schildern, ihre Konflikte. Dabei war ihm immer der Gegenwartsbezug wichtig. Schilling hat sich in dieser Inszenierung von der klassischen russischen Choreografie verabschiedet und aus dem Prinzen einen aristokratischen Außenseiter gemacht.

John Neumeiers 1976 herausgekommene Version „Illusionen – wie Schwanensee“, die in Hamburg mehr als 40 Jahre Triumphe feierte, erzählt von der „unverwirklichbaren Liebe“. „Die Erzählung vom unglücklichen König, der seine Lieben – zur Kunst und zu einem Mann – nicht ausleben darf, hat immer noch ihre Gültigkeit, lässt staunen, rührt an. Es sind Menschen von heute, die Neumeier auf die Ballettbühne bringt.“ (Ditta Rudle)

Mats Ek, der Sohn der Grande Dame des schwedischen Balletts, Birgit Cullberg, und des Schauspielers Anders Ek, hat nach diversen Stationen an verschiedenen Opernhäusern von 1983 bis 1993 die Künstlerische Leitung des Cullberg Balletts übernommen. Für dieses hat er 1987 seine ganz eigene Version des „Schwanensee“ in choreografischen Bildern geschaffen, die mit ihrer nordischen Kargheit und archaischen Kraft verortet sind als Psychodrama zwischen Traum und Realität. Auch er legte den Prinzen auf die Couch des Psychologen.

Spektakulärer war die Version von Matthew Bournes, einem der gefeiertsten britischen Choreografen, „Swan Lake“, in dem die Schwäne ausschließlich von Männern getanzt werden. Diese Choreografie wurde 1995 in London am Sadler’s Wells Theatre uraufgeführt. Sie feierte Erfolge bei weltweiten Tourneen. „Der liebeskranke, von seiner dominanten Mutter vernachlässigte Prinz Siegfried ist schwul. Und erlebt sein Coming-out am Vogelteich, wo die wilden Kunst-Schwäne als ziemlich brutale, zischende, flatternde, gar nicht tuntige Kerle mit nackter Brust, barfuß und in faunischen Flokati-Hosen mehr ihren Artgenossen in freier Wildbahn entsprechen als die anämisch trippelnden Ballerinen mit dürren Armen als Schwanenjungfern auf der Tanzbühne.“ (Manuel Brug)

Dada Masilos freche Neuinterpretation des Klassischen Balletts aus südafrikanischer Sicht (Johannesburg 2010) mit Kompositionen von Peter I. Tschaikowsky, Camille Saint-Saëns, Arvo Pärt und Steve Reich wagt am meisten. Der Shootingstar der südafrikanischen Tanzszene schuf mit Humor und hervorragenden Tänzern eine Dekonstruktion des europäischen Ballettklassikers. Ihr „Schwanensee“ thematisierte aktuelle Themen wie Geschlechterrollen, Homophobie oder AIDS und verbindet klassische mit zeitgenössischer und afrikanischer Bewegungssprache. Ein „Schwanensee“-Crashkurs aus afrikanischer Sicht, der den Dualismus von „weißem“ und „schwarzem“ Schwan mit Witz und zugleich Respekt für die Vorlage konterkariert, eine Verschmelzung nicht nur zweier Tanz-Techniken, sondern auch unterschiedlicher Kulturen und Ästhetiken.

Am radikalsten dem biografischen Entstehungsgeheimnis des Werks auf die Spur kommen wollte beim „Festival del Maggio Musicale Fiorentino” 2011 der Kanadier Paul Chalmer in seiner Choreografie „Il lago dei cigni. Lo scandalo Tchaikovsky”. In seiner zweiaktigen Fassung untersucht Chalmer Zusammenhänge zwischen Tschaikowskys Komposition und seinem Leben, seiner allenfalls versteckt gelebten Homosexualität, seiner unglücklichen Ehe.

„Schwanensee“ in Oslo (Choreografie von Alexander Ekman): ein spritziges Satyrspiel. Foto: Erik Berg

„Schwanensee“ in Oslo (Choreografie von Alexander Ekman): ein spritziges Satyrspiel. Foto: Erik Berg

Der schwedische Choreograf Alexander Ekman hat 2014 für das Osloer Opernhaus und für das Norwegische Nationalballett eine weitere Version des „Schwanensee“ kreiert: Er setzte die Bühne unter Wasser und ließ nicht nur Schwäne plantschen. „Schwanensee“ wurde ein spritziges Satyrspiel, mit Musik für Wasserklänge und Orchester. „Ein Tubaspieler in Gummistiefeln, Männer lassen ihr Wasser ins Wasser – was sonst, Menschen spielen Wasserspeier, Wasserbälle, Schwimmringe, eine Unmenge kleiner Quietscheentchen fällt vom Bühnenhimmel ins Wassertheater... Eine große feuchte Show...“ (Boris Michael Gruhl).
Es scheint, es ist alles getanzt und gesagt zum Thema „Schwanensee“. Aber wer weiß? „Schwanensee“ hat das Potenzial für eine unendliche Geschichte.

Dieter David Scholz

 

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