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Schwerpunkt: Tanz

Wenn selbst die Götter tanzen

Tanz in der Antike

Von Michaela Schneider

Tanz – das sei die Kunst, die die Seele des Menschen am meisten bewege: Um die 2.400 Jahre ist es her, dass der griechische Philosoph Platon zu seiner zeitlosen Erkenntnis kam. Getanzt wird wohl, seit es Menschen gibt: Im prähistorischen Höhlensystem von Tuc d’Audoubert in den französischen Pyrenäen fanden Wissenschaftler neben Höhlenmalereien auch Fußspuren im verkrusteten Erdreich – und zwar in einem Bereich ausschließlich Fersenabdrücke. Sie folgerten: Hier wurde einst getanzt, vermutlich zu kultischen Zwecken. Über Tanzrituale erklärten Menschen aller Kulturen von jeher die Welt und kommunizierten – mit ihresgleichen, mit der Natur, mit Göttern. Das spiegelt sich selbst in der Bibel, etwa im alttestamentarischen „Tanz ums goldene Kalb“. Erst in den frühen Hochkulturen allerdings entwickelte sich Tanz zur Kunstform: Er löste sich im Zuge seiner Säkularisierung vom rituellen und religiösen Charakter.

Amphora des Silene-Malers, um 330 vor Christus, mit vier Silene oder Satyrn, die Schwänze, Ohren und Hufe von Pferden tragen. Alle Fotos: Michaela Schneider

Amphora des Silene-Malers, um 330 vor Christus, mit vier Silene oder Satyrn, die Schwänze, Ohren und Hufe von Pferden tragen. Alle Fotos: Michaela Schneider

Der Archäologe Max Wegner formulierte schon in den 1960er-Jahren trefflich: Der Natur des Tanzes entspreche nicht, dass er gesehen, sondern dass er vollzogen werde „im kunstvollen Ablauf von Gebärden und Bewegungen“. Der Altertumswissenschaft aber stehen nur Bild- und Sprachwerke zur Verfügung, um sich mit dem Tanz auseinanderzusetzen. Es gab in der Antike Tanz – doch wie er ablief, bleibt heutige Interpretation. Der Archäologe und Kulturwissenschaftler Felix Röhr macht sich deshalb beim Rundgang durchs Martin von Wagner Museum in Würzburg auf die Suche nach Tanzmotiven. Der unterfränkische Kunsttempel gilt als eines der bedeutendsten Universitätsmuseen Europas. Den Schwerpunkt bilden in der Antikenabteilung griechische Vasen der Blütezeit. Doch auch ägyptische, römische und etruskische Kleinkunst lassen Vergangenes aufleben.

Zuvor allerdings ein gedanklicher Abstecher in ein außereuropäisches Land, das man bis heute gern mit farbenfroh gekleideten Tempeltänzern und Tempeltänzerinnen verbindet, denn in Indien findet sich eines der bedeutendsten alten schriftlichen Dokumente zur Geschichte des Tanzes: Das „Natya Shastra“ entstand wohl zwischen dem zweiten vorchristlichen und zweiten nachchristlichen Jahrhundert und gilt als umfangreichste Abhandlung zur Theaterkritik und Schauspielerei, die je in einer Sprache verfasst wurde. Shivas Tanz umfasst darin 32 Bewegungssequenzen und 108 Posen. Selbst die Bewegung der Augen, der Lider und der Brauen wird detailliert beschrieben. In Europa entstand die erste verschriftlichte Choreografie im Spätmittelalter. Nataraja, der „König des Tanzes“, ist eine Erscheinungsform des Hindu-Gottes Shiva.

Im Alten Ägypten gab es mit Hathor – gleichzeitig Göttin der Liebe – eine Göttin des Tanzes. Andere Gottheiten ehrte man mit Tanz, so zum Beispiel den Gott Bes in der Hoffnung, dass er vor Geistern und Tieren aus der Wüste beschütze. Das gelang, so glaubte man, am ehesten, wenn Kleinwüchsige tanzten. Tatsächlich verschleppten die Ägypter deshalb Pygmäen aus Zentralafrika und ließen sie als Tanzzwerge am königlichen Hof auftreten, nachzulesen in einem Brief aus der Zeit um 2700 vor Christus: „Bringe diesen (…) mit, den Du aus dem Geisterland geholt hast, für die Gottestänze (…).“ Im Martin von Wagner Museum zeigt Felix Röhr eine tanzende Groteskfigur. Ausgemergelt und verkrüppelt wirkt die Gestalt aus dem hellenistischen Ägypten (2. Jahrhundert vor Christus). Darstellungen wie dieser sprach man eine Übel abwehrende Wirkung zu.
Professionelle Tänzerinnen waren in Ägypten wohl in den meisten Fällen Sklavinnen. Getanzt wurde bei politisch bedeutenden Ereignissen wie Königskrönungen oder militärischen Erfolgen. Reliefs in Gräbern geben Einblicke in prozessionsartige Begräbnistänze. Der Grieche Platon berichtet vom astronomischen Tanz ägyptischer Priester, in dem der Lauf der Gestirne nachgetanzt wurde. Es entwickelten sich erste Tanzchoreografien mit strengen Abläufen. Im Neuen Reich entstanden Schriftzeichen, die verschiedene Tanzstile beschrieben: langsamer Tanz, akrobatischer Springtanz oder auch synkopischer Tanz. Kurzum: Tänze spielten in der 2.500 Jahre dauernden ägyptischen Kultur eine zentrale Rolle – vielfach kultisch motiviert, jedoch auch zur Unterhaltung sowie politisch instrumentalisiert, um Macht und Herrschaft zu demonstrieren.

Attische Trinkschale um 510 vor Christus mit betrunkenen Satyrn im wilden Tanz

Attische Trinkschale um 510 vor Christus mit betrunkenen Satyrn im wilden Tanz

In Europa entwickelte sich zwischen 1600 und 1200 vor Christi Geburt mit der kretisch-mykenischen die erste Hochkultur. Im Martin von Wagner Museum steuert Felix Röhr zwei weibliche Tonidole an. Die eine Figur ist hochtailliert, die andere trägt einen langen Zopf. Dass hier Bewegung dargestellt sein könnte, lässt sich allenfalls erahnen. Doch weiß man aufgrund anderer archäologischer Funde wie Figurengruppen und Zeichnungen, dass Tanz bei kultisch-rituellen Festen, aber auch bei gesellschaftlichen Ereignissen im Alltagsleben eine wichtige Rolle spielte. Es gab Kreisreigen um Laienspieler, kultische Paartänze und Tänze großer Frauenchöre. Die deutsche Soziologin sowie Kultur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein spricht in ihrem Standardwerk „Frauen Körper Tanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes“ von der „Entstehung einer ‚Hochkultur‘ des Tanzes“ auf Kreta. Als Ursache macht sie (auch) die Bildung sozialer Klassen aus: Der Tanz höherer Gesellschaftsschichten grenzte sich von dem des Volkes ab.

Im antiken Griechenland wird der Begriff „Tanz“ dann weit gefasst: Prozessionen zu Ehren der Götter, Gymnastik und selbst die Militärausbildung fallen darunter. Den Waffentanz Pyrrhiche etwa macht Platon als hervorragendes Training aus, um Wurfgeschossen auszuweichen und Feinde zu attackieren. Tanz solle den Körper und seine Fähigkeiten harmonisch ausbilden; Tanz, so war man überzeugt, verbessere nicht nur die körperliche, sondern auch die emotionale Gesundheit. Der Kalamatianos, einer der ältesten bis heute in Kreisform praktizierten griechischen Tänze, wird bereits in den Inschriften von Delfi erwähnt. In frühgriechischen bildlichen Darstellungen indes spielt zunächst vor allem der Klagereigen eine Rolle, dabei wurde die Totenbahre rhythmisch umschritten und um Klagegebärden zur Musik ergänzt.

Fragment eines Puteals mit tanzender Mänade. Es entstammt wohl einem luxuriösen römischen Wohnhaus aus dem ersten Jahrhundert vor Christus

Fragment eines Puteals mit tanzender Mänade. Es entstammt wohl einem luxuriösen römischen Wohnhaus aus dem ersten Jahrhundert vor Christus

Später widmete man sich der schönen Bewegung im Alten Griechenland zu allen Anlässen: Es gab Fruchtbarkeits-, Mannbarkeits- oder Kriegstänze. Reigentanz und Gesang seien die Zierden des festlichen Mahls, schrieb Homer. Und – anders als etwa in Ägypten oder später in Rom – wurden nicht Tänzer aus anderen Kulturen ins Land geholt, sondern Griechen tanzten für Griechen. Zwar zeigt im Würzburger Museum eine apulische Weinkanne einen Tänzer in persischer Tracht, doch handelt es sich hier wohl eher um eine Art folkloristische Verkleidung. Woher rührte diese Leidenschaft für die Tanzkunst? Tanzen sei ein Geschenk der Götter, heißt es bei Platon. Oder, mit den Worten des Kulturhistorikers Max von Boehn in seinem Standardwerk „Der Tanz“ von 1925: „Alle Götter tanzen, selbst Zeus mischt sich in den Reigen.“ Boehn schlussfolgerte: Es gebe keinen griechischen Tanz, der nicht ursprünglich auf den Kult zurückzuführen wäre.

Im Martin von Wagner Museum finden sich auf Vasen und anderen Gefäßen vor allem auch zahlreiche Tanzmotive mit Satyrn und Silenen – dämonenhaften Mischwesen im Gefolge des Dionysos. „Anfangs mit Knubbelnasen, zotteligem Haar, Hufen und Schwanz, werden sie in Darstellungen über die Zeit immer menschlicher“, erzählt Archäologe Röhr und zeigt eine etruskische Amphore mit tanzenden Silenen aus der Zeit um 530 vor Christus. Die wilden Typen haben Pferdeohren, Schweife und Hufe. Ihr übergroßes Geschlecht ragt in die Höhe. Ganz ähnlich verhält es sich auf einer attischen Trinkschale mit betrunkenen Satyrn im wilden Tanz, einer inklusive Trinkschlauch.

Als weibliche mythische Begleiterinnen hat Dionysos zudem oft tanzende Mänaden dabei – und auch sie verändern sich von wilden Wesen wie der Medusa mit Fratze in hinreißende Frauen, wie sie als schwarze Silhouette auf einer Hydria abgebildet sind. Was anfangs der Fantasiewelt entsprang, schwappte über ins echte Leben: Mänaden nannten sich fortan auch die Anhängerinnen des mänadischen Kults. Rasend und ekstatisch sollen die Frauen dem geliebten Gott des Weines und Rausches gehuldigt haben. Es entwickelten sich Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos, die so genannten Dionysien. Im Laufe der Zeit entstanden daraus die Grundformen des griechischen Theaters inklusive Chören, die sich in formalisierten Abläufen bewegten als frühe Form der Bühnenchoreografie. Männer und Frauen tanzten der Wissenschaft zufolge üblicherweise getrennt: Jünglinge als Horen, Nymphen und Mänaden; junge Frauen traten gern mit Kastagnetten und Kunsttänzen auf. Es entwickelten sich drei Genres – und mit jedem gingen spezielle Tanzformen einher. Feierliches Schreiten war Teil der Tragödie, übertriebene, drastische Gesten gehörten in die Komödie und das Satyrspiel kennzeichneten vor allem auch wilde, schnelle Bewegungen. Wie dies ausgesehen haben könnte, zeigt unter anderem ein attischer Glockenkrater aus der Zeit um 390/380 vor Christus mit Satyrspielmotiv. Erzählt wird darauf die Geschichte der Amymone. Als ein Satyr die Quellnymphe vergewaltigen will, kommt Poseidon ihr zur Hilfe, am Ende wird sie seine Braut.
Dass Tanz im Alltagsleben höherer Gesellschaftsschichten auch im Privaten eine Rolle spielte, zeigen Figurenfunde in hellenistischen Häusern und Gräbern. Weil es den Frauen allerdings in der patriarchalen, griechischen Gesellschaft in den meisten Fällen verboten war, das Haus überhaupt zu verlassen, tanzten zur Unterhaltung oberer Gesellschaftsschichten vor allem Hetären: weibliche Prostituierte, die gebildet waren sowie die Kunst des Tanzes beherrschten, sangen und verschiedene Musikinstrumente spielten. „Zwischen Escort und Geisha“, beschreibt Felix Röhr die erotischen Begleiterinnen bei Symposien.

Sogenannte Dickbauchtänzer: Mehr noch als deren mächtigen Bäuche fallen ihre riesigen Hinterteile auf.

Sogenannte Dickbauchtänzer: Mehr noch als deren mächtigen Bäuche fallen ihre riesigen Hinterteile auf.

Dann hat der Archäologe noch eine griechische Tanzbesonderheit in petto: Auf einem Gefäß sind sogenannte Dickbauchtänzer dargestellt. Mehr noch als deren mächtige Bäuche fallen ihre riesigen Hinterteile auf. Sie tanzen einen komischen Tanz, die Knie sind eingeknickt, die dargestellte Bewegung lässt sich am ehesten als „hopsender Gangreigen“ beschreiben.

Bleibt am Ende der Blick aufs antike Rom. Dass sich im Martin von Wagner Museum kaum Objekte finden, die hier Tanz thematisieren, hat seine Gründe, denn in altrömischer Zeit hatten die herrschenden Schichten wenig übrig für die schöne Kunst. Das Zitat „Niemand tanzt, wenn er nüchtern ist, er müsse denn wahnsinnig sein“ geht zurück auf Cicero. In Quellen finden sich nur wenige Hinweise etwa auf Waffenreigen oder Frühjahrsgänge der Saatpriester. Das änderte sich erst, als Rom den hellenistischen Osten eroberte – und kurzerhand die Kultur der Griechen zu kopieren begann, angefangen bei der Götterwelt bis hin zu kulturellen Errungenschaften. So zeigt nun im Museum eine runde Relief-scheibe aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, wie sie in der frühen Kaiserzeit in römischen Villen zu finden war, in Anlehnung an den dionysischen Kult eine Tänzerin mit einer Fackel in den Händen sowie einen mit Girlanden geschmückten Opferaltar. Und wohl ebenfalls aus einem luxuriösen römischen Wohnhaus: Das Fragment einer Brunnenmündung (Puteal) mit tanzender Mänade und einer Art Tambourin. Selbst allerdings entwickelten die Römer wenig eigene Tanzkultur. Berufstänzerinnen und Berufstänzer waren in der Regel versklavt und stammten aus eroberten Gebieten. Als wohl einziger typisch römischer Ausdruckstanz entstand der „Pantomimus“, bei dem ein Solist mit Masken und in kunstvollen Gebärden eine tragische Geschichte „erzählte“. Verpönt blieb Tanz dennoch, der Geschichtsschreiber Sallust hielt entsprechend einer Römerin im ersten Jahrhundert vor Christus vor: Sie könne besser tanzen „als es sich für eine Frau von Ehre passen wolle“.

Michaela Schneider

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