Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Berichte

Zeitlose Tragödien

Humperdinck und Wagner bei den Festspielen Erl

Erstaunen: Eine Landesregierung erkennt, dass die Kultur ein zentraler Faktor in und für die Region ist. Also richtet die für Erl zuständige Behörde eine eigene Station ein – und impft das gesamte Personal der Festspiele. Alle können arbeiten, proben und sich umarmen. Dann kommt die staatliche Erlaubnis für geimpfte oder getestete Besucher, sich auf dem gesamten Festspielgelände maskenfrei ohne Platzbeschränkung aufzuhalten: Theater-Erlebnis wie „damals“. Gibt es da noch etwas zu kritisieren?

Welches Musikdrama erhebt sich im 3. Akt aus jeglicher „Tümlichkeit“? Der lange „Wagner-dominierte“ Engelbert Humperdinck hat sich 1910 für den „Königskinder“-Auftrag der New Yorker Metropolitan Opera aus aller „Hänsel-und-Gretel“-Seligkeit gelöst. Da ist zwar der Stoff um die Gänsemagd und den Königssohn: Er verliebt sich in sie und löst sie aus aller Hexen-Dominanz. Er will vor seinem Königtum alle Realität kennenlernen und nimmt den Dienst als Schweinehirt in der „Hellastadt“ an; deren Bürger sehen trotz ihrer Goldkrone nur die Gänsemagd, verjagen sie und den Königssohn und schlagen den sie als mögliches Herrscherpaar feiernden Spielmann zum Krüppel – zwei Akte lang Märchenhandlung mit schön eingängiger Musik.

„Königskinder“ in Erl. Foto: Xiomara Bender

„Königskinder“ in Erl. Foto: Xiomara Bender

Doch dann führt ein langes Vorspiel zum letzten Akt in eine Leidens- und Klage-Tiefe, die das Werk auf eine Ebene mit den großen Tragödien des Musiktheaters erhebt: Die beiden Liebenden erfrieren hungernd und obdachlos im Winter. Einzig die Kinder der Stadt und der Spielmann hoffen auf Hellsichtigkeit künftiger Generationen – all das 1910, inmitten des protzenden Wilhelminismus! Da wäre auch 2021 etwas herauszulesen: die Utopie eines Herrschaftssystems, das ganz und gar humanistisch orientiert ist, seine Bürger achtet und fördert, also das Individuum zum schätzenswerten Mittelpunkt seines Regierens macht. Da könnte doch ein „angestaubtes Opernmärchen“ wie ein Fanal leuchten: Hat nicht das Pandemie-Jahr auch denkenden Theaterbesuchern abermals das Elend aller Ungleichheit offengelegt? Das hat allerdings den Jungregisseur Matthew Wild und seinen Ausstatter Herbert Murauer gar nicht interessiert.

Dafür stellt Festspielintendant Bernd Loebe gezielt junge Solisten vor. Prompt erntete der anfangs fröhlich vitale, dann als Krüppel ohne Verbitterung lebensweise Spielmann von Iain MacNeil mit warm leuchtendem Bariton den größten Applaus. Als Titelpaar überzeugten die mädchenhaft kleine Gänsemagd-Sopranistin Karen Vuong und der stattliche Königssohn-Tenor Gerard Schneider sowohl äußerlich als auch vokal. Beiden gelang ein anrührendes „Liebe besteht auch den bitter frühen Tod“-Finale. Zuvor hatten die Nebenrollen-Solisten, voran Katharina Magieras Hexe, der Chor, insbesondere der Kinderchor der Schule für Chorkunst München, überzeugt – bis hin zu der kleinen Alena Sys, die als einzig hellsichtiges Kind erkennt: „Das ist der König und seine Frau gewesen.“ Am Ende trägt die Fidel die Musik des Spielmanns weiter.

Dass die symbolhafte Tiefe dieses 3. Akts anrührte, war Dirigent Karsten Januschke zu danken. Er hatte den mehrfach aufbrechenden Losspiel-Enthusiasmus des wagnerianisch großen Orchesters gedämpft, ohne darüber die immer wieder hochwallende Emotion, das klangliche Leuchten um die Humanität der Gänsemagd zu verlieren. Die italienischen und osteuropäischen „Fraktionen“ des Tiroler Festspielorchesters Erl klangen gut „vereint“. Sie folgten dem sichtbaren Engagement Januschkes, und so wuchs sich der Final-Akt zur ernsten und bitter-großen Klang-Parabel aus, einer Parabel, die auf unsere von Status-Denken verformte Welt zeigt, in der gilt: „Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!“

Spott der sexy Rheintöchter. Foto: Xiomara Bender

Spott der sexy Rheintöchter. Foto: Xiomara Bender

Tags darauf Beginn des „Fassbaender-Rings“. Der Jubel ließ eine grundsätzliche Frage zur ganzen Welt-Parabel Wagners abermals untergehen: Was wäre, wenn die sexuell ja keineswegs frigiden Rheinnixen diesen durch Hässlichkeit bis zur Unansehnlichkeit unterprivilegierten Zwerg Alberich doch durch Liebe erlöst hätten? Liegt da nicht eine „Urschuld“ der durch Schönheit Überlegenen, in Liebesspott und Liebesverweigerung? Muss dieser bis heute die Welt durchziehende Urkonflikt – zwischen einem in vielerlei Hinsicht zu kurz Gekommenen und den in Selbstverliebtheit und Natur-Reichtum Schwelgenden, letztlich dann zwischen Macht und Liebe – so „welt-ruinös“ aufbrechen?

Im Erler Passionsspielhaus ohne Schnürboden und große Seitenbühnen standen Ausstatter Kaspar Glarner, die als Fricka und Waltraute opernweltweit erfahrene, jetzt aber als Ring-Regie-Debütantin Brigitte Fassbaender und ein Ensemble aus lauter Rollendebütanten zunächst einmal für den Neuansatz nach allerlei Querelen um den früheren Festivalleiter. Etwas mattgolden schimmerte das wie immer in Erl hinter einem Gazevorhang auf der Hinterbühne sitzende Orchester: Dirigent Erik Nielsen disponierte klug, ließ zusammen mit Fassbaender hohe Textverständlichkeit zu, spannte aber aus diesem Piano-Parlando dann den Bogen zu den finsteren Drohungen der Alberich-Welt oder zum pompösen Auftrumpfen der Wotan-Familie nicht extrem, fulminant und begeisternd genug. Von hörbar flatternden Blechbläser-Nerven über mehr dramatischen Biss ist noch „Musikdrama-Luft nach oben“.

Von Fassbaenders umfassender Metierkenntnis profitierten alle Solisten: Ohne Souffleuse auf der bis an die Sitzreihen reichenden Spielfläche fand eine Mischung aus eitel-biestigem Konversationsstück, abgründiger Gewalt-Nonchalance und so korruptem wie intrigantem Machtkampf statt. Gut fließende Projektionen auf den seitlichen Halbrunden und dem Gazevorhang beschworen Rhein-Tiefe, wolkige Bergeshöhen und nasse Felsenunterwelt für Nibelheim – und zum Einzug nach Walhall leuchtete die gewaltige, saalüberspannende Holzkonstruktion des Passionshausdaches beeindruckend. Glarners Kostüme spannten den Bogen von den sexy Escort-Ladys an einer Rhein-Tafel mit Goldgeschirr, die sich aber ihre gestylten Perücken vom Kopf zogen und als kahlköpfige SF-Cyber-Girls etwas von Zeitlosigkeit signalisierten. Dagegen wirkte der gesamte Wotan-Clan groß-spät-bürgerlich: Wotan (Simon Bailey) mit etwas zu wenig machtgieriger Fallhöhe – trotz Speer-Sammlung im Umzugsgetürme; Gattin Fricka (Dshamilja Kaiser) etwas sehr hausfraulich – im scharfen Kontrast zur 1930er-Filmschönheit der kommenden Rivalin Erda (Judita Nagyová); dazu die Riesen auf Plateau-Sohlen im etwas schmuddeligen Gründerzeit-Bauherren-Look (Thomas Faulkner, Anthony Robin Schneider), eine nett-liebliche Freia (Monika Buczkowska), ein Froh als hip-gestylter Künstler (Brian Michael Moore) neben einem schwarzen Donner mit großen Hämmern (Manuel Walser). Sängerisch waren alle auf Festspiel-Niveau.

Abermals „Zeitlosigkeit“ der „Ring“-Problematik in zwei alle überragenden Hauptfiguren: Craig Colclough brachte gedrungenes Äußeres, lauernde Körperlichkeit, auftrumpfendes Gold-Kostüm-Geprotze, vor allem aber so viel vokale Biestigkeit, kantige Schärfe und dann finster-wuchtige Fluch-Gewalt mit, dass es ein Alberich-Abend geworden wäre – wenn da nicht mit dem stattlichen Ian Koziara ein völlig neuer Loge-Typ durch all dieses „Gelichter“ flanierte: ein berechnender Investor im gelben Designer-Anzug, lässig mal mit dem Feuerzeug kleine Flammen, aus dem Boden aber dann Flammenwerfer-Stöße produzierend; dazu noch mit imposantem Tenor überwiegend lässig hingeworfene Bemerkungen. Das ist kein intrigantes Bürschchen, sondern eine Naturgewalt in menschlicher Figur, die sich jetzt doch noch mal den „Göttern“ anschließt, weil sie sich am Ende im Weltenbrand siegreich weiß. Allein diese Akzente ihrer Interpretation machen auf den Fortgang des „Fassbaender-Rings in Erl“ gespannt.

Wolf-Dieter Peter

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner