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Editorial
Kunst und Klima
Ganz abgesehen von Corona hat die Welt in den letzten drei Jahren auch Naturkatastrophen bislang ungekannten Ausmaßes erlebt. Und das ist, wie der kürzlich veröffentlichte Bericht des Weltklimarats drastisch vor Augen führt, nur der Anfang. Das alles ist nichts Neues – wir alle hätten seit mindestens 50 Jahren, seit den ersten Publikationen des Club of Rome, wissen können und müssen, dass und warum es so kommt. Und wir hätten es verhindern können.
Tobias Könemann. Foto: Johannes List
Was ist eigentlich schiefgelaufen? Ich kann mir das nur mit einem weltweiten Versagen der systemtragenden Institutionen aller Gesellschaften erklären, der Politik, in der Sachfragen allzu oft zum Mittel der Machtbehauptung degradiert werden, der (Markt-)Wirtschaft, die ihr Handeln fast ausschließlich der kurzsichtigen Gier nach kurzfristigem Maximalprofit unterwirft, der religiösen Institutionen, die überwiegend rückwärtsgewandt denken und das Heil des Menschen im Jenseits versprechen, der Verbraucher, die SUV-Fahren und Billigflüge für Grundrechte halten, und – in ihrer immer wieder reklamierten Rolle als Mahnerin der Gesellschaft(en) – auch der Kunst, die oft mehr gefallen als sensibilisieren will.
Aber wie kann es dazu kommen? Eine naheliegende Ursache ist ein gerade in den aktuellen Corona-Debatten in vielen Ländern exemplarisch feststellbares drastisches, oft groteskes und nahezu grenzenloses Fehlverständnis persönlicher „Freiheit“. Schon die Staatsphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts wussten, auch wenn sie daraus ganz unterschiedliche Schlüsse zogen, dass die Freiheit des Individuums nur in einem System möglich ist, in dem sie durch die Freiheit der anderen Individuen begrenzt und damit zugleich selbst begründet ist. Dies scheint in den letzten Jahrzehnten immer mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Hinzu kommt, dass das Freiheitsstreben, die vermeintliche Selbstverwirklichung, vielfach reduziert und fokussiert wird auf das Streben nach quantitativem Mehr, nach Wohlstand, besser noch nach Reichtum – als Individuum oder als wie auch immer definierte gegen andere abgegrenzte Gemeinschaft. In leider noch allzu vielen Gegenden der Welt ist das zweifellos sehr berechtigt, gar (über)lebensnotwendig, bei uns, den Hauptverursachern der Malaise, aber gerade nicht – zwar gab es schon in den 1970er Jahren als Gegenentwurf das Schlagwort vom „Qualitativen Wachstum“, gewirkt hat es nicht.
Auch die Kunst ist in der Neuzeit vielfach dem Geltungsbedürfnis des Individuums zum Opfer gefallen, zugegebenermaßen oft mit genialen und mitreißenden Ergebnissen. Dabei ist ihr Ursprung mutmaßlich ein ganz anderer, entstand sie doch wohl in allen sich zu Beginn der Menschheitsgeschichte formierenden Kulturen Hand in Hand mit der Religion, letztere (noch) nicht im Sinne personifizierter Gottheiten und der sich auf diese berufenden heutigen Institutionen, die ihrerseits primär globale und allzu weltliche Machtstrukturen sind, sondern im eigentlichen Sinne des lateinischen Wortes religio, dem Respekt, der Rücksicht, Besorgnis und Sorgfalt gegenüber den nicht greif- oder gar erklärbaren, aber dennoch spürbaren Kräften, die unser Leben bestimmen, aber jenseits unserer Macht stehen. Diese wurden dann – ebenfalls gleichermaßen in Religion und Kunst – in einem nächsten Schritt allegorisiert und personfiziert, um diese Greifbarkeit und Erfahrbarkeit jedenfalls mittelbar herzustellen. Die so entstandenen fiktiven Autoritäten sind im Laufe der Zeit, und zwar interessanterweise ebenfalls in allen Kulturen, zum Instrument der Macht von Menschen über Menschen pervertiert. Dabei ändert sich, jedenfalls zu einem erheblichen Teil, auch die Rolle der Kunst: von der religiösen Beschwörung zur Beschwichtigung und weiter zur höchst weltlichen Zerstreuung, zur Unterhaltung, gar zum Zeitvertreib.
Zurück zur Aktualität: Wir stehen wie keine Generation vor uns in der Verantwortung für das Leben unserer Nachkommen. Und das heißt unter anderem Respekt, Verzicht und Demut. Dafür, dass das – auch ohne dass man dafür ein Asket sein muss – Lust und Befriedigung generieren kann, kann und muss uns vielleicht auch die Kunst in Rückbesinnung auf ihre zuvor geschilderte ursprüngliche Funktion ein Stück weit die Augen und Ohren öffnen. Und wenn das gar klima-neutral gelingt: um so besser.
Denn eines hat die Kunst, das jedenfalls der Politik in der Regel fehlt: Phantasie.
Tobias Könemann
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