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Schwerpunkt: Tanz

Der Tanz in der Oper

Historische Perspektiven von Claudio Monteverdi bis Sasha Waltz

Von Arnold Jacobshagen

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle des Tanzes in der Oper in verschiedenen historischen Epochen, wobei der Schwerpunkt auf der simultanen Interaktion zwischen Gesang und Tanz liegt.1 Ziel ist es, einen Überblick über typische Korrelationen zwischen Gesang und Ballett zu geben, die in den vier Jahrhunderten der Operngeschichte regelmäßig zu beobachten sind. Das Ballett kann dabei eine individualisierte Personengruppe, eine anonyme Menschenmenge oder gar ein ganzes Volk innerhalb des Dramas darstellen. Als solches ist es oft eng mit dem Chor verbunden. Es gibt aber auch berühmte Opern mit tanzenden Solisten in den Titelrollen wie „La muette de Portici” (1828) von Daniel François Esprit Auber oder „Salome“ (1905) von Richard Strauss.

Legende

Legende

Im Folgenden werden acht Modelle vorgestellt, die einige dieser Grundkonstellationen beschreiben und die gleichzeitige szenische Darstellung von Gesang und Tanz in verschiedenen historischen Situationen typologisch zu erfassen suchen. Die einfachste und zugleich vollkommenste
Verbindung wird in Modell 1 dargestellt. Hierbei sind die Darsteller zugleich Schauspieler, Sänger und Tänzer. Eine solche Personalunion war wahrscheinlich in den frühen Formen des Musiktheaters vor dem Aufkommen der Oper regelmäßig der Fall. Solche ganzheitlichen Schauspieler-Sänger-Tänzer finden sich häufig in zeitgenössischen Opernproduktionen, aber auch in anderen Gattungen wie Musical oder Operette.

Modell 1

Modell 1

Modell 1

Die älteste vollständig erhaltene Oper wurde 1600 anlässlich der Hochzeit von Maria de‘ Medici und Heinrich IV. von Frankreich im Palazzo Pitti in Florenz aufgeführt: „L‘Euridice“ von Ottavio Rinuccini und Jacopo Peri. Das Beispiel weckte die Begierde anderer Fürsten, darunter des Herzogs von Mantua Vincenzo Gonzaga, der seinen Hofkomponisten Claudio Monteverdi einige Jahre später mit der Vertonung desselben Themas beauftragte. Diesem Umstand verdanken wir die Entstehung von „L‘Orfeo“ (1607), der ältesten heute noch regelmäßig aufgeführten Oper. Die Beziehung zwischen Chor und Tanz ist aus dem Rollenverzeichnis der 1609 veröffentlichten Partitur ersichtlich. Die dort zu findende Angabe, dass der Chor der Hirten die Morescha tanzte, deutet eindeutig darauf hin, dass Chor und Tänzer ein identisches Kollektiv von Schauspielern waren, wie Modell 1 zeigt. In den meisten heutigen Inszenierungen von „L‘Orfeo“ werden diese Szenen jedoch wie in Modell 2 dargestellt umgesetzt. Ballett und Chor verkörpern jeweils ein und dieselbe Gruppe, wobei die szenischen Aufgaben von den Tänzern und die musikalischen Aufgaben von den Chormitgliedern übernommen werden.

Modell 2

Modell 2

Modell 2

Die ersten größeren Opernproduktionen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts an einzelnen italienischen Höfen stattfanden, waren singuläre Veranstaltungen, die nicht für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Monteverdis Schlüsselrolle in der frühen Geschichte der Oper muss im Zusammenhang mit seiner Übersiedlung nach Venedig gesehen werden, wo er 1613 das Amt des Maestro di cappella am Markusdom antrat. Er war bereits siebzig Jahre alt, als er den wichtigsten Wendepunkt in der frühen Operngeschichte miterlebte: die Eröffnung des ersten öffentlichen Opernhauses. Die Geschichte der Oper als öffentliche Unterhaltungsform begann mit der Uraufführung von Francesco Manellis „Andromeda“ im Februar 1637 im Teatro S. Cassiano in Venedig. Der erstaunlich schnelle Erfolg der neuen Kunstform zeigt sich darin, dass innerhalb weniger Jahre drei weitere öffentliche Opernhäuser entstanden, die miteinander konkurrierten, zunächst ausschließlich während der Karnevalszeit. Das Teatro SS Giovanni e Paolo wurde 1639 eröffnet, das Teatro San Moisè im Jahr 1640 und das Teatro Novissimo im Jahr 1641. Es wird oft argumentiert, dass der Übergang von der höfischen Festoper zur kommerziellen venezianischen Karnevalsoper dem wirtschaftlichen Druck und dem Wettbewerb unterlag und schließlich zu Einsparungen führte, was den Verlust früherer Ausstattungsmerkmale zur Folge gehabt hätte. Tatsächlich deuten der Rückgang von Ballett und Chor sowie die Reduzierung der Orchesterbesetzungen darauf hin. Gleichzeitig verlagerte sich das Interesse zunehmend auf den virtuosen Sologesang, was im Zeitalter der international gefeierten Kastraten und Primadonnen zu dem bis heute entwickelten „Starsystem“ führte. Infolgedessen verschwanden sowohl der Chor als auch das Ballett aus der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts. Dennoch spielte der Tanz in den bedeutendsten italienischen Opernhäusern weiterhin eine wichtige Rolle. Im 18. und 19. Jahrhundert galt dies vor allem für die Opera seria, die in Neapel, Mailand oder Venedig auf höchstem internationalen Niveau aufgeführt wurde. Das Ballett war jedoch nicht mehr Teil der Opernhandlung, sondern wurde entweder als Intermezzo zwischen den Akten oder im Anschluss an die Oper aufgeführt.

Werfen wir nun einen Blick nach Frankreich, wo das Ballett in allen Epochen ein wichtiger Bestandteil der Oper war. „Poésie lyrique“ und „Chorégraphie“, die beiden monumentalen Inschriften, die die Fassade des Palais Garnier links und rechts des Eingangsportals zieren, bezeichnen die beiden Kunstformen, denen sich die Pariser Oper (Académie Royale de Musique) seit ihrer Gründung im 17. Jahrhundert widmet. Wie war das Verhältnis zwischen Ballett und Chor in der französischen Oper geregelt? Im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Chorsänger der Académie Royale de Musique in einer festen Reihenfolge auf beiden Seiten der Bühne platziert und wechselten im Allgemeinen ihre Position während der Handlung nicht. Louis de Cahusac beschreibt die Aufstellung des Chors an der Pariser Oper wie folgt: „Der Chor ist in Reihen auf den beiden Flügeln des Theaters aufgestellt; die Tenöre bilden eine Art Halbkreis im Hintergrund.“[2] Eine solche Anordnung in zwei Reihen auf beiden Seiten und einem Halbkreis im hinteren Teil der Bühne ist auf zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen deutlich zu erkennen.

In den Tragédies lyriques von Jean-Baptiste Lully und seinen Nachfolgern bis weit ins 18. Jahrhundert hinein blieb der Chor in der Regel unbeweglich und bildete eine statische Gruppe von Sängern, die zwar bestimmte Gruppen darstellen konnten, aber weder szenisch agierten noch die Mitte der Bühne betraten.[3] Während die dramatische Beteiligung des Chors nicht zuletzt aufgrund dieser Form der Bühnenpräsenz relativ begrenzt war, konzentrierte sich ein beträchtlicher Teil der Chorinterventionen auf die Divertissements. Der Chor konnte den Tanz einleiten, unterbrechen oder abschließen oder (was in unserem Zusammenhang besonders interessant ist) als chœur dansé singend zusammen mit dem Ballett auftreten. Auch hier blieben die Chorsänger in der Ausgangsposition im Bühnenhintergrund, während die Bühnenmitte und die Vorderbühne den Tänzern überlassen wurden. Ein auffälliges Beispiel ist die Rollenliste von „Isis“ (1677) von Philippe Quinault und Lully, die nicht weniger als elf kollektive dramatis personae enthält, die sich sowohl aus Chorsängern als auch aus Tänzern zusammensetzen.

Die Regieanweisungen im Libretto von Quinault legen das Zusammenspiel von Sängern und Tänzern genau fest. Ballett und Chor verkörpern jeweils ein und dasselbe Kollektiv mit einer strikten Arbeitsteilung, wobei die szenischen Aufgaben vom Tanz und die musikalischen Aufgaben vom Chor übernommen werden. Die Tänzer „verdoppeln“ sozusagen die Sänger, indem sie den unbewegten Sängern Bewegung verleihen.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts führten eine veränderte Ästhetik und verschiedene Bemühungen um eine Reform der Opernpraxis zu einem erheblichen Rückgang der Divertissements in der Tragédie lyrique. Nach den Reformen von Noverre und anderen eroberte der Tanz seine eigenen Bühnengattungen wie das ballet d‘action und die Ballettpantomime. Mit der Abkehr der Schauspielpraxis von der Tradition des Barocktheaters geriet der unbewegliche Chor in Konflikt mit der geforderten Bühnenillusion und wurde daher zunehmend Gegenstand scharfer Kritik:

„Es ist zu wünschen, dass alle Teile einer Oper gleich gut wiedergegeben werden und gleichzeitig die Illusion aufrechterhalten wird. (...) Entweder mangelt es der müßigen Truppe, die den Chor singt, an Intelligenz, oder denjenigen, die ihn dirigieren, an Sorgfalt und Mitteln, ihn zu fördern; es ist eine Konstante, daß diese Ansammlung von Leuten, die sich nicht für das Geschehen interessieren, die Handlung abkühlt, und daß das Verhalten, das sie in vielen Fällen hat, die Illusion völlig zerstört.“[4]

Dies galt vor allem dann, wenn der Chor allein auf der Bühne stand, ohne dass ihm die Tänzer zur Seite standen, was nun immer häufiger der Fall war. Dass beispielsweise der Geisterchor in Jean-Philippe Rameaus „Castor et Pollux“ regungslos und mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Bühnenbild verharrte, obwohl ihr Gesang darauf hindeutete, dass sie den Helden Pollux gewaltsam am Eintritt in die Unterwelt hinderten, wurde vom Pariser Publikum kaum mehr geduldet.

Die szenische Beteiligung des Chores am Bühnengeschehen war eines der Ziele der Opernreform, die bereits seit Mitte der 1770er-Jahre Christoph Willibald Gluck zugeschrieben wurde. Pierre-Louis Ginguené berichtet ausführlich über Glucks persönliches Engagement bei den Proben mit den Chormitgliedern:

„Es blieb aber noch ein großer Schritt zu tun, nämlich dem Chor Aufregung, Leidenschaft, Bewegung zu verleihen, vor allem die Sänger zu animieren, die, immer in zwei Reihen angeordnet, an den Seiten ein doppeltes unbewegliches Spalier bilden, an welcher Handlung sie auch immer teilnehmen sollten. Es war Herrn Gluck vorbehalten, diese Revolution durchzuführen. Er brauchte nicht nur das Genie, sich dramatischere und aktivere Chöre auszudenken, als er bisher hatte, sondern auch alle Mittel, die ihm die Natur zu ihrer Ausführung gab. Man muss ihn bei seinen Proben gesehen haben, wie er von einem Ende des Theaters zum anderen lief, wie er die Chormitglieder, Männer und Frauen, schubste, zog, am Arm zerrte, betete, schimpfte, beschwichtigte, überrascht, sich so führen zu sehen, und wie er von der Überraschung zur Fügsamkeit, von der Fügsamkeit zu einem Ausdruck überging, zu Effekten, die sie selbst in Erstaunen versetzten und ihnen einen Teil der Seele des Komponisten vermittelten; Man muss ihn in dieser heftigen Übung gesehen haben, um zu fühlen, welche Verpflichtungen unser Theater ihm gegenüber hat, und was für eine Ansammlung von physischen und moralischen Kräften er brauchte, um, wie er es tat, Bewegung und Leben zu verbreiten.“[5]

Gluck war jedoch keineswegs der erste in Paris, der in dieser Richtung arbeitete. Belege für die Dramatisierung der Chöre finden sich bereits in den letzten beiden Jahrzehnten vor Glucks Ankunft in Paris.[6] Tatsächlich legte Gluck besonderen Wert auf das Zusammenspiel von Ballett und Chor. Der Maler Johann Christian von Mannlich, der zu dieser Zeit in Paris lebte, berichtet von Glucks Probenarbeit für „Orphée“ in der Auseinandersetzung mit den Furien:

„Gluck forderte von den Tänzern, die das Ballett der Furien und Dämonen aufführten, daß sie in den Gesang des Orpheus einfache ‹Nein› verschiedenstimmig in wilder Raserei dazwischen sprechen sollten, während sie ihn an seinem Eintritt in die Unterwelt zu hindern suchten. Sie weigerten sich jedoch, dieser unerhörten, den unumstößlichen, geheiligten Statuten der Musikakademie zuwiderlaufenden Neuerung Folge zu leisten.“ [7]

Tatsächlich sahen die Anweisungen der Académie Royale de Musique die gewünschte Identität von Tänzern und Sängern weder vor, noch wurde sie zu dieser Zeit praktiziert. Stattdessen entwickelten sich zwei Verfahren, um den Anschein einer solchen Identität zu erwecken. In der Regel bildeten Tänzer und Sänger eine möglichst einheitliche Gruppe, wobei die Sänger seitlich und vor allem hinter den Tänzern platziert waren. Eine solche Anordnung kennzeichnet das folgende Modell 3: Tänzer und Sänger bilden eine optisch einheitliche Gruppe, wobei die Sänger meist seitlich und hinter den Tänzern platziert sind.

Modell 3

Modell 3

Modell 3

Alternativ konnten die Tänzer auch allein auf der Bühne auftreten und den hinter der Bühne platzierten Chor vertreten. Auf Anraten Noverres und in Ermangelung szenisch erfahrener Chorsänger hatte Gluck bereits in der Wiener Fassung von „Alceste“ (1767) von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.[8] Dies ist die Situation von Modell 4 (Substitution): Die Tänzer treten allein auf der Bühne auf und ersetzen den hinter der Kulisse platzierten Chor.

Modell 4

Modell 4

Modell 4

Das Prinzip der Substitution spielte nicht nur in der Oper des späten 18. Jahrhunderts, sondern vor allem in der des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle. Die Darstellung von Massenszenen mit mehreren gleichzeitig agierenden Kollektivfiguren, die sich wiederum aus Chor, Ballett und Statisten zusammensetzen konnten, ließ manchmal die Positionierung der Sänger hinter der Bühne als geeignete Lösung erscheinen. Ein berühmtes Beispiel für einen Tanz, dem ein Chor hinter der Bühne seine Stimme leiht, ist der chœur dansé am Ende des Balletts der Nonnen in Giacomo Meyerbeers „Robert le diable“ (1831). In Meyerbeers Oper „Le prophète“ (1849) treten chœurs dansés im zweiten und dritten Akt auf. Die von Louis Palianti herausgegebenen Original-Bühnenanweisungen enthalten detaillierte Informationen über ihre Aufführung.[9] Für den gesungenen Walzer zu Beginn des zweiten Akts tritt das Corps de ballet en valsant von der Hinterbühne aus ein, wobei die ersten Tenöre und die ersten Soprane des Chors unmittelbar hinter den Tänzern folgen. Der Rest des Chors kommt von der rechten Seite und gruppiert sich hinter den Tänzern und den oberen Stimmen des Chors. Sodann werden jeweils einige Tänzer und Sänger zu lockeren Gruppen zusammengestellt, die bei den folgenden Szenen ohne Chor und Tanz als Statisten auf der Bühne bleiben.

Ein weiterer chœur dansé aus „Le prophète“ steht am Anfang des berühmten Balletts der Schlittschuhläufer im dritten Akt. Anhand dieses Beispiels lässt sich das Modell 5 vorstellen, das ebenso wie das Ensemble- und das Substitutionsprinzip für die Darstellung von Massenszenen in der Oper des 19. Jahrhunderts grundlegend ist.

Modell 5

Modell 5

Modell 5

Dieses Modell findet sich in Szenen, in denen der Chor und das Ballett zwei verschiedene Gruppen darstellen. Normalerweise werden die Aktionen der Tänzer vom Chor kommentiert. Der Chor befindet sich in der Regel hinter dem Ballett, aber auch individuelle und manchmal asymmetrische Anordnungen sind je nach Bühnensituation zu finden. In der erwähnten Eislaufszene aus „Le prophète“ kommentiert der Eingangschor der Wiedertäufer den Einzug des Balletts, das die Landbevölkerung repräsentiert (bei der Uraufführung wurden statt Schlittschuhen Rollschuhe verwendet). Gemäß den Regieanweisungen Paliantis füllen die Sänger – vom Publikum abgewandt – den vorderen Teil der Bühne, während die Tänzer von hinten hereinkommen.

Wenden wir uns nun den beiden eingangs erwähnten Sonderfällen zu, in denen zwei weibliche Titelfiguren als Tänzerinnen agieren. Im Fall von „La muette de Portici“ (1828) von Daniel François Esprit Auber dringt eine Tänzerin als Hauptfigur der Oper in die Welt der Sänger ein, wie in Modell 6 dargestellt.

Modell 6

Modell 6

Modell 6

Der zweite Sonderfall, der in Modell 7 angegeben ist, betrifft eine Primadonna, die selbst zur Tänzerin wird oder durch eine Tänzerin ersetzt wird, wie im „Tanz der sieben Schleier“ aus Richard Strauss‘ „Salome“ (1905).

Modell 7

Modell 7

Modell 7

Mit den bisher vorgestellten sieben Modellen dürfte bereits ein erheblicher Teil der in der Operngeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert anzutreffenden Kombinationen von Tanz und Gesang abgedeckt sein. Abschließend sei noch auf einige zeitgenössische Strategien eingegangen, die manchmal bei der Integration von Ballett und Tanz in Opernaufführungen zum Tragen kommen. Eine Möglichkeit besteht darin, die psychologischen Dimensionen der Protagonisten durch Tanz oder Pantomime zu erweitern, wie in Roland Schwabs viel diskutierter Berliner Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“ (2010). Schwab vervielfältigte die Figuren, indem er ihre Bewegungen gleichzeitig von einer Gruppe identisch kostümierter Tänzer ausführen ließ, die die Sänger spiegelten (vgl. Modell 8).

Modell 8

Modell 8

Modell 8

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit den Tänzern zusätzliche Handlungselemente zu entwickeln, die in der ursprünglichen Konzeption des Werks nicht berücksichtigt wurden. Laura Scozzis Inszenierung von „Aknathen“ von Philip Glass (Bonn 2017) ist ein Beispiel für diese choreografische Strategie. Statt die Titelfigur in den Mittelpunkt zu stellen, wurde die Handlung von einem Schulmädchen dominiert, dessen Rolle von einer jungen Tänzerin realisiert wurde. Scozzi hat das Werk in eine Rahmenhandlung eingebettet: Ein Lehrer übernahm die Rolle des Erzählers, seine unaufmerksame und desinteressierte Schulklasse wurde von jugendlichen Breakdancern dargestellt. Echnaton und die alten Ägypter wurden lediglich im Schulunterricht behandelt, wobei sich die ursprüngliche Handlung der Oper mit der choreografierten Rahmenhandlung überschnitt.
Bei beiden Beispielen handelt es sich um die Hinzufügung von Tänzern zu einer Oper, die in ihrer ursprünglichen Fassung nicht die Mitwirkung eines Balletts erfordert. Es ließen sich zahlreiche weitere ähnliche Beispiele anführen. Die „choreographischen Opern“ von Sasha Waltz dürften für diesen Trend in der zeitgenössischen Inszenierung besonders einflussreich gewesen sein. Mit „Dido & Aeneas“ (Berlin 2005) entwickelte Waltz erstmals eine Choreografie für eine Oper mit dem Ziel, den statischen Charakter der Aufführung in zeitgenössischen Opernproduktionen aufzulösen. Zum einen forderte sie, dass die Sänger auch Tänzer sein sollten, zum anderen griff sie auf ältere, aus der Operngeschichte bekannte Verfahren der Aufgabenteilung zwischen Sängern und Tänzern zurück (wie Verdopplung, Substitution oder Ensemble). In einem Interview sagte die Choreografin zu diesem Ansatz, sie wolle die Geschichte nicht nur durch die Sänger erzählen, sondern auch durch die Bilder und Gesten, durch die ganz eigene Sprache des Tanzes, die die Musik ergänzt. Es sei ein Versuch, die verschiedenen Darstellungsebenen miteinander zu verschmelzen, ohne dass die eine die andere dominiere.[10] Damit schuf sie eine erneuerte und gleichberechtigte Verbindung von Musik, Gesang und Tanz und ließ einen künstlerischen Ansatz wieder aufleben, wie er bereits in den Anfängen der Operngeschichte lebendig gewesen war.[11]

Arnold Jacobshagen


1 Der vorliegende Beitrag bietet eine leicht gekürzte Übersetzung von Arnold Jacobshagen, „The Role of Dance in Opera. Historical Perspectives from Claudio Monteverdi to Sasha Waltz“, in: „Music Theatre in Motion. Reflections on Dance in Opera“, hrsg. von Isolde Schmid-Reiter und Aviel Cahn, Regensburg (ConBrio) 2021, S. 11-31.
2 Louis de Cahusac, „Chœurs“, in: „Encyclopédie dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“, hrsg. von Denis Diderot/Jean le Rond d‘Alembert, Vol. 3, Paris (Briasson) 1753, S. 362.
3 Vgl. Mary Cyr, „The Paris Opéra Chorus during the Time of Rameau”, in: Music and Letters, 76/1 (1995), S. 32-51; Arnold Jacobshagen, „Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime“, Frankfurt (Peter Lang) 1997, S. 61-63.
4 Antoine Jacques Labbet, „Sentiment d’un harmoniphile sur differens ouvrages de musique“, Amsterdam 1756, Reprint Genève (Minkoff) 1972, S. 35.
5 Nicolas-Étienne Framéry/Pierre Louis Ginguené (Hrsg.), „Encyclopédie Méthodique: Musique“, Vol. 1, Paris (Panckoucke) 1791, S. 270f.
6 Jacobshagen, Der Chor in der französischen Oper, S. 64-72.
7 Johann Christian von Mannlich, „Ein deutscher Maler und Hofmann. Lebenserinnerungen des Joh. Christian von Mannlich“, Berlin (E. L. Mittler) 1910, S. 275.
8 Pierre Tugal, „Jean-Georges Noverre. Der große Reformator des Balletts“, Berlin (Henschel) 1959, S. 81.
9 Ausführlicher hierzu Arnold Jacobshagen, „Staging Grand Opera – Historically Informed?“ in: Roman Brotbeck/Laura Moeckli/Annette Schaffer/Stephanie Schroedter (Hrsg.), „Bild und Bewegung im Musiktheater. Interdisziplinäre Studien im Umfeld der Grand Opéra“, Schliengen (edition argus) 2018, S. 241-260.
10 Caroline Emcke, „Liebe in Zeiten des Krieges. Sasha Waltz und Attilio Cremonesi im Gespräch“, in: Dido & Aeneas, Program notes, Berlin (Staatsoper Unter den Linden) 2019, S. 11-17, hier S. 11.
11 Michaela Schlagenwerth, „Nahaufnahme Sasha Waltz. Gespräche mit Michaela Schlagenwerth“, Berlin (Alexander Verlag) 2008, S. 71.

 

 

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