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Berichte

Boitos Leidenskind und Bilderbuchabend mit Verdi

„Nero“ und „Rigoletto“ bei den Bregenzer Festspielen

Die Präsentation von seltenen „Opern-Gewächsen“, die Suche nach bislang nicht im Shop käuflichen „Orchideen“ ist schätzenswerter Bestandteil der Bregenzer Dramaturgie. Manchmal nur blüht die Ausgrabung nicht auf, sondern besitzt lauter Merkmale von Hypertrophie.

Arrigo Boito (1842-1918) ist eine herausragende Figur der italienischen Kulturszene: bewundernswert vielfach begabt und produktiv tätig. Der Opernfreund muss allein für die Libretti zu Verdis „Simon Boccanegra“, „Otello“ und „Falstaff“ dankbar sein. Doch nicht genug: Boito hat auch selbst komponiert – sein „Mefistofele“ kann beeindrucken. Dann scheint ihm so etwas wie ein „Goethe-Faust II“ der italienischen Kultur vorgeschwebt zu haben. Fast 60 Jahre hat er mit Thematik, Form und Werk gerungen, mehrfach umgearbeitet, vier Akte fertig gestellt, einen fünften konzipiert – und ein monumentales Gemisch hinterlassen.

Arrigo Boitos „Nero“. Fotos: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Arrigo Boitos „Nero“. Fotos: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Roms Kaiser Nero, gezeichnet vom ödipalen Leiden am Mord der eigenen Mutter, die ersten Christen, der Prophet Fanuèl mit den aus der Bibel übernommenen „Seligpreisungen“, spätrömische Dekadenz, der Häretiker Simon Mago, symbolistisch-magisches Gewese, allerlei dubioses Gelichter um den machttrunkenen Herrscher, zwei liebende Frauen, Chormassen, deren Vielfalt im Opernlexikon zehn Zeilen umfasst, Ballett und eine Statisterie in 16-zeiliger Aufzählung: Das ist im regulären Opernbetrieb nicht zu bewältigen.

Leider auch nicht im Festspiel: Denn Gesine Völlm wollte sich als Kostümkünstlerin verwirklichen und verunklarte mit Glitzer und Zauber und stilistischem Vielerlei die Figuren. Frank Philipp Schlössmann wollte sich als Bühnenbildkünstler verwirklichen, ließ Drehbühnenringe mit bühnenhohen Lichtsäulen in wechselnden Farben dauerkreisen, stellte neben heutige Fauteuils stilisierte Bäume, dann auch einen halbalten Schreibtisch mit Bürolampe und machte aus einem Altar einen Billardtisch. Olivier Tambosi wollte sich als Regiekünstler verwirklichen, ließ die Hauptfiguren durch das szenische Gewirr irren und die Chormassen wogen… Ergebnis: hypertrophe Theatralik an der Grenze zur Unverständlichkeit. Der klassische Fehler: Die Macher haben sich lange mit einem komplexen, unbekannten Werk befasst, aber den einmal in einer Aufführung sitzenden Opernfreund völlig aus den Augen verloren und ihm nichts „klar gemacht“, sondern irgendwie alles „Blüten treiben lassen“. Matter Beifall, zu wenige Buhs.

All das trifft nicht auf die musikalische Seite zu. Dirigent Dirk Kaftan machte Boitos stilistische Vielfalt, seinen Sinn für dramatische Umbrüche, Chor- und Instrumentalfernwirkungen und immer wieder auch vokale Entfaltung hörbar – nur eben auch eine gewisse ariose Kurzatmigkeit, weil Boito schon zum nächsten Einfall übergeht, ehe der vorherige voll und einprägsam tönen konnte. Für die musikdramatische Problematik des ganzen Werkes mag das Ende der jetzt gespielten vieraktigen Fassung stehen. Nach dem Brand Roms sitzt Nero teilnahmslos herum und beobachtet ein melodiös schön komponiertes Liebesduett zwischen der sterbenden Rubria und Fanuèl. Das Werk ist in dieser Form nicht zu retten.

Den Wiener Symphonikern, dem Prager Philharmonischen Chor, den außer dem etwas zu sehr detonierenden Fanuèl von Brett Polegato durchweg sehr gut singenden Rafael Rojas (Nerone), Lucio Gallo (Simon Mago), Svetlana Aksenova (Asteria) und Alessandra Volpe (Rubria) und allen übrigen sei für vokales Festspielniveau gedankt – und Arrigo Boito als Intellektueller weiter bewundert, aber nicht für sein missratenes Leidenskind „Nero“.

Rigoletto“ auf der Seebühne. Fotos: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Rigoletto“ auf der Seebühne. Fotos: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Freude am nächsten Abend: Der nach den seit 75 Jahren vielfältigst aufspielenden Wiener Symphonikern benannte große Vorplatz war weiträumig abgesperrt. Zwei große Schleusen ermöglichten die flüssige Prüfung der „3G“-Zulassung – und so strömten die 7.000 Tribünenbesucher ohne große Hemmnisse oder falsche Drängelei ins Abendrot der pünktlich beginnenden Freilichtaufführung. Ein Bilderbuchabend nach fast zwei Jahren Spielpause. Die für die Seebühne ja herausragend aufwändige Bühnentechnik musste „ein Jahr länger halten“, einen weiteren Vorarlberger Winter überstehen und dann einfach funktionieren – ohne Hänger, verzögerungsfrei und geräuschlos. Kompliment: Bis auf ein mehrmaliges, leises (Hydraulik?-)Sirren funktionierte alles beeindruckend.

Geblieben sind natürlich die schon im Premierenjahr 2019 zu bemängelnden umständlichen Klettereien, mehrfache Anschnallsicherungen für die Solisten und nicht immer in sich stimmige Über- und Versetzungen der „Rigoletto“-Handlung in die Zirkus-Welt durch Regisseur Philipp Stölzl. Immerhin wirkte der handlungsprägende Fluch Monterones – „La Maledizione“ – diesmal deutlicher herausgestellt, etliches Getobe der Zirkusgesellschaft etwas reduzierter.

Doch die größeren Zugewinne kamen von der musikalischen und akustischen Seite. Mit Julia Jones übernahm erstmals eine Dirigentin das Festspielpult. Als erfahrene Könnerin spannte sie Extreme der Partitur beeindruckend weit. Prompt gab es mehr lyrische Wärme und liebevolles Piano um Vater und Tochter sowie um Herzog und Gilda. Jones und die glänzend spielenden Wiener Symphoniker fetzten einen rasanten „Zitti-Zitti“-Chor hin und machten zusammen mit der Geräusch- und Lichttechnik den für Gilda tödlichen Gewittersturm zum fulminanten Höhepunkt des Abends – übergipfelt vom perfekt mitspielenden Wetter: Schon anfangs hatte es über dem gefährdeten Vaterglück Rigolettos jenseits des Sees wetter-geleuchtet – und nun zum Finale auch. Dann auch noch Sängerglück von Vladimir Stoyanovs gereiftem, daher differenzierterem Rigoletto, dem mit Diminuendi, Piani und strahlender Höhe beindruckenden Herzog von Long Long und der nicht nur Koloratur-Geglitzer, sondern auch mädchenhafte Süße verströmenden Gilda von Ekaterina Sadovnikova – die drei stellvertretend für das festspielgemäße Ensemble.

All das war bestens zu hören. Die weltweit imitierten „Bregenz Open Acoustics“ haben das Pausenjahr auch genutzt. Zu den 2019 ersetzten 29 Lautsprechermasten um die Tribüne kamen nun weitere 270! Denn die Akustik-Crew um Clemens Wannemacher wollte über 96 verschiedene Kanäle die problematisch divergierenden 70 Millisekunden zwischen der ersten und letzten Sitzreihe unhörbar machen. Also wurden im Zentralbereich der Tribüne unter den Sitzen letztlich unsichtbare schmale Lautsprecher eingebaut. Ergebnis: Das abermals um 270 Kleinlautsprecher verbesserte Akustiksystem klang in der Anfangsphase der Premiere zu leise, dann zunehmend besser, feiner und im Gewittersturm mit jedem Surroundsound im Actionkino mithaltend – Musiktheater in bestem Freiluft-Format.

Wolf-Dieter Peter

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