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Schwerpunkt: Tanz

Der Hof im Zentrum

Der Beginn des professionellen Bühnentanzes in Europa

Von Dagmar Ellen Fischer

Frankreich, Poitiers, im Jahr 1585: Der französische Autor Guillaume Bouchet beginnt mit dem Verfassen seines mehrbändigen Werks „Les Serées“, in dem er Erzählungen aus unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens bündelt. Er thematisiert auch den Tanz, den er offenbar gar nicht schätzt, und so wettert er, „dass die Volte (...), die die Zauberer aus Italien nach Frankreich gebracht haben, außer den unverschämten und unsittlichen Bewegungen (...) das Unglück [bringe]“.[1]

Frankreich, diesmal Paris, nur wenige Jahre zuvor: 1581 markiert das sechsstündige „Ballet Comique de la Reine“ den Beginn des abendländischen Schautanzes. Die Aufführung vor dem französischen König Henry III. und zahlreichen, handverlesenen Gästen setzt Maßstäbe, da erstmals (auch) mit den Möglichkeiten des Tanzes eine durchgängige Geschichte erzählt wird.

„Zauberer aus Italien“: Während Bouchet die Vokabel im Sinn unerwünschter Hexenmeister verwendete, schätzte und nutzte der französische Adel die Fähigkeiten der aus Italien eingewanderten Tänzer und Musiker nur allzu gern, denn sie verwandelten ein höfisches Fest tatsächlich in ein magisches Ereignis. Einer von ihnen war Baltazarini de Belgioioso, der sich an seiner französischen Wirkungsstätte Balthasar de Beaujoyeulx nannte. Er war der verantwortliche Inszenator für das „Komische Ballett der Königin“ – wobei das Adjektiv „komisch“ hier nur nicht-tragisch bedeutet. Diese ebenso teure wie beeindruckende Inszenierung begründete ein neues Genre, das Hofballett oder „ballet de cour“, das für die nächsten Jahrzehnte stilbildend werden sollte. Dieses Format nutzte Tanz, Gesang, Text, Schauspiel, Pantomime, Instrumentalmusik und den Einsatz von Bühnenmaschinerien, um eine Botschaft unter das Publikum zu bringen: Zum einen erzählte die der griechischen Mythologie entlehnte Geschichte von der Zauberin Circe und dem Helden Odysseus eine Art Gleichnis, wie triebgesteuertes Chaos (Circes Reich) von sinnstiftender Ordnung (personifiziert durch den französischen König Henry III.) besiegt und überwunden werden kann; Parallelen zu damaligen politischen Ereignissen waren keineswegs zufällig. Und zum anderen gab es auf formaler Ebene Gesten, Konstellationen und räumliche Bezüge, die Frankreichs Einheit mit dem König an der Spitze als unverrückbares System darstellten, allen Aufständen und Religionskriegen zum Trotz. Unter diesen Aspekten war das „Ballet Comique de la Reine“ weitaus mehr als eine unterhaltsame und imponierende Vorstellung des tanzenden Adels – es war eine ausgeklügelte und deshalb besonders wirkungsvolle PR-Maßnahme. Nicht verwunderlich also, dass auch nachfolgende Staatsmänner sich dieser bewährten Öffentlichkeitsarbeit bedienten. Kardinal Richelieu zum Beispiel, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Regierungsgeschäfte für den noch unmündigen König Ludwig XIII. übernahm und ihm auch später als Minister zur Seite stand, ließ in seinem Palast in Paris ein Theater nach italienischem Vorbild bauen: eine Guckkastenbühne auf erhöhter Ebene, mit drei geschlossenen Seiten und nur einer einsehbaren Front sowie Parkett und Logen für das Publikum. In diesem modernen und technisch hervorragend ausgestatteten Theater ging 1641 ein Werk über die Bühne, das des Kardinals persönlichen Ruhm zementieren sollte: Das „Ballet de la Prospérité des Armes de France“ feierte die militärischen Erfolge unter der Ägide Richelieus – und damit den Auftraggeber selbst.

Diese neue einseitige Perspektive auf das Bühnengeschehen machte eine Ausrichtung der Akteure auf eben diese Front notwendig. Für Tanzende bedeutete das, dem Publikum nicht mehr den Rücken zuzuwenden, sondern sich ihm zu öffnen – und damit war sowohl das forcierte Ausdrehen der Beinstellung gemeint als auch das Sich-Öffnen, um Inhalte zu vermitteln.

Während der Kardinal (seine Taten) tanzen ließ, zog es Ludwig XIII. selbst auf die Bühne. Seine große Leidenschaft fürs Ballett nahm mitunter bizarre Züge an, wenn er beispielsweise in die Rolle eines Bauern, eines Vogels oder einer Marktfrau schlüpfte. Auch seine adeligen Mittänzer mussten sich, beispielsweise verkleidet als Schnecken oder Krebse sowie als Henker und Gehenkte, den hochamüsierten Zuschauern – und der Lächerlichkeit – aussetzen.

Tanz gehörte im 17. Jahrhundert ganz selbstverständlich zum Tagesablauf eines französischen Königs, das gilt für den XIII. als auch für dessen Sohn, Ludwig XIV. Ständig musste nicht nur für geplante Aufführungen geprobt, sondern auch für zahlreiche Bälle geübt werden. Ein souveränes Auftreten auf beiden Plattformen galt als unabdingbar; zum Glück war die Schnittmenge zwischen Gesellschafts- und Bühnentanz groß.

Unmittelbar nach dem Tod seines Vaters 1643 wurde Ludwig XIV. offiziell zum König Frankreichs ausgerufen – im Alter von knapp fünf Jahren. Genau zehn Jahre später erlebte er sein tänzerisches Initiationsjahr: Mit seiner damaligen Mätresse präsentierte er einen neuen höfischen Tanz, das Menuett; Jean-Baptiste Lully, nur sechs Jahre älter als der König, hatte es zu diesem Anlass komponiert. Dieser Solopaar-Tanz zeichnete sich durch eine bis dato nicht gekannte Komplexität aus, die schon mit dem Rhythmus begann: Der Grundschritt erstreckt sich einer Hemiole gleich über zwei Dreiviertel-Takte der Musik. Ferner waren nicht nur die Raumwege und die Länge der Schritte festgelegt, sondern auch die Arm-, Hand- und sogar die Fingerbewegungen. Wer im anspruchsvollen Menuett reüssieren wollte, musste Zeit ins tägliche Tanztraining investieren.

Im selben Jahr, am 23. Februar 1653, fand die Uraufführung jenes Balletts statt, dem Ludwig XIV. seinen Beinamen Sonnenkönig verdankt: Das „Ballet Royal de la Nuit“. In vier Akten und vierzig Szenen zeigte es exemplarisch und in Echtzeit den Verlauf einer Nacht in Paris: zunächst geselliges Treiben am Abend, dann groteske Gestalten vor Mitternacht; nach der Geisterstunde übernehmen Hexen und Dämonen, bevor mit der Dämmerung Traumfiguren die Bühne bevölkern. Als Höhepunkt des praktisch handlungsfreien Spektakels erfolgte der Auftritt Ludwig XIV. als Sonne, der dem bedrohlichen nächtlichen Spuk ein Ende setzt.

Im Programmheft, das diese Aufführung mit zeitlicher Verzögerung dokumentierte, wird dem König Folgendes in den Mund gelegt: „Schon führe ich meine leuchtenden Pferde, Die Glanz und Pracht hinter sich herziehen; Eine göttliche Hand hat mir ihre Zügel übergeben, Eine große Göttin hat mir die Rechte übertragen (…).“[2] Seine Führungsposition im Staat gilt somit als von höherer Stelle abgesegnet. Ballett wird hier zum Herrschaftszeremoniell, das präzise reglementiert sein muss. Zu diesem Zweck disziplinierte er seinen eigenen Körper, Entsprechendes erwartete er von den adligen Tänzern. Die ausschließlich männlichen Mitwirkenden lässt er bevorzugt in allegorischen Kostümen antanzen: als Gnade, Sieg oder Ehre. „Gerade weil die Realität sich nicht durch Harmonie und Ordnung auszeichnet, bedarf es der Festkultur, des Zeremoniells und – als wesentlichsten Bestandteils und Inhalts – der Allegorie, um Ordnung und Harmonie zu suggerieren und die Realität zu zähmen, zu zivilisieren (…)“.[3]

Zeremonienmeister dieser Feste waren Tanzmeister und Komponisten, oft hatten sie Kenntnisse auf beiden Gebieten. Lully war Musiker, Komponist und Tänzer, Pierre Beauchamp Tänzer, Choreograf, Komponist und Violinist. In Kooperation mit Molière – Schauspieler, Theaterleiter und Autor – entstand das Genre „Comédie-Ballet“, in dem sich Tanz, Schauspiel und Musik auf Augenhöhe verbanden. „Der Bürger als Edelmann“, 1670 uraufgeführt, ist das bekannteste Beispiel für diese fruchtbare Zusammenarbeit; den Anfang machte „Les Fâcheux“ 1661.
In jenem Jahr konnten die Theatermacher auf angehende Berufstänzer zurückgreifen: Im März hatte Ludwig XIV. die „Académie Royale de Danse“

in Paris gegründet, die erste Schule für professionelle Tänzer. Die Leitung übertrug er 13 namhaften Tanzmeistern, die sich in den zurückliegenden Jahren als Lehrer am französischen Hof bewährt hatten. Tatsächlich waren Aufführung und Ausbildung im Tanz zunächst eine rein männliche Angelegenheit, Frauenfiguren wurden „en travestie“ dargestellt, das Tragen von Masken war für alle Rollen obligatorisch.

Nach der Gründung der Akademie für Malerei und Skulptur 1648 unter Ludwig XIII. war es für seinen Sohn als begeisterten Bühnenakteur nur folgerichtig, als eine seiner ersten staatspolitischen Entscheidungen als junger Monarch jene des Tanzes ins Leben zu rufen. Dies geschah formal durch die königlichen Gründungsbriefe „Lettres Patentes“. Darin beklagt der König den Missbrauch des Tanzes durch unqualifizierte Kreise, dem er auf diese Weise Einhalt gebieten will; ferner sollen die Perfektionierung vorangetrieben und künftige Fehlentwicklungen verhindert werden. Doch vor allem möge hier ein Raum eröffnet werden, „der weder zum Praktizieren noch zum Aufführen des Tanzes bestimmt ist, sondern sich seiner Reflexion widmen soll“.[4] Damit gibt der König einen entscheidenden Teil seines bisherigen Einflusses auf die Tanzkunst ab.

In absehbarer Zeit schloss die fortschreitende tanztechnische Entwicklung den Regenten als Akteur ohnehin aus. Zwar verkörperte er noch im fortgeschrittenen Alter eine Nymphe, da aber sein Körper nicht mehr beweglich war und sein Gedächtnis nachließ, brauchte er einen Vortänzer an seiner Seite, der die jeweils nächsten Schritte soufflierte. „Ganz egal, was für eine tänzerische Figur der Herrscher machte – niemand hätte seine Ausführung kritisieren dürfen. Er indes durfte tadeln, und zwar im Chor mit jenen, die es in seine Nähe und somit zu einer gewissen Ranghöhe geschafft hatten.“[5]

Zwanzig Jahre nach Gründung der Akademie tauchten die ersten professionellen Tänzerinnen in einem Ballett auf: „Le Triomphe de l’amour“ war 1681 auch ein Triumph der Weiblichkeit, die offenbar für das erste Pas de deux der Tanzgeschichte gebraucht wurde. Beauchamp hatte es gestaltet, inzwischen Leiter der Akademie und Begründer einer Tanznotation. Somit war er im ursprünglichen Sinn des Wortes Choreograf als jemand, der Tanz (auf)schreibt. Für professionelle Gestalter von Bewegungsabläufen, wie wir ihn heute verstehen, etablierte sich der Begriff erst Jahrhunderte später.

 



1 Rainer Gstrein, „... welches warlich bey einer wolbestelten Policey ist warzunehmen und auffs allerscharffeste zu verbieten …“ Anstößige Tänze im 17. Jahrhundert, zitiert nach: Guillaume Bouchet, Les Serées, 3 Bde, Rouen 1615, S. 118f, in: Uwe Schlottermüller und Maria Richter (Hg.), Morgenröte des Barock, Tanz im 17. Jahrhundert, Freiburg 2004
2 Robert Ballard, „Ballet royal de la Nuit. Divisé en quatre Parties où quatre Vielles“, Paris 1653, S. 66, in: Sébastien Daucé (Hg.), „Ballet Royal de la Nuit“, Arles 2018, S. 72
3 Rudolf Braun, David Gugerli, „Macht des Tanzes. Tanz der Mächtigen“, München 1993, S. 56.
4 Jurgita Imbrasaite, „Die révolution im Tanz: Vom König zum modernen Subjekt“, München 2018, S. 91
5 Dagmar Ellen Fischer, „Eine kurze Geschichte des Tanzes“, Leipzig 2019, S. 112

 

 

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