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Schwerpunkt: Tanz
Geschichte der
Tanznotation
Der Traum vom Ballett als Schrift
Von Serge Honegger
Wenn es eine Schrift gäbe, die uns das Ballett vor das innere Auge stellte, dann sähen wir beim Lesen nicht nur, wie sich das tänzerische Geschehen im dreidimensionalen Raum der Bühne abspielt. Wir könnten in der Vorstellung auch sämtlichen Bewegungsfiguren folgen, die räumlichen Verhältnisse einordnen, das Schrittmaterial studieren sowie die pantomimischen Gesten betrachten, kurz: Das ganze Theater der Körper erschiene vor uns. Eine solche Schrift ist ein Traum, der von all jenen in der Ballett- und Tanzwelt Tätigen geträumt wird, die die Komplexität von Choreografien bewahren, aufzeichnen und für nachfolgende Generationen festhalten möchten. Dass es kein endgültiges Aufschreibsystem für den Tanz gibt, ist sein Glück, da ihm so immer wieder neue Türen offenstehen, um frisches Vokabular zu integrieren.
Zwar wurde im Verlauf der letzten Jahrhunderte eine Vielzahl an Aufzeichnungsmethoden entwickelt, die den choreografischen Ablauf bis zu einem erstaunlichen Detaillierungsgrad abbilden können. Einige davon werden gegenwärtig auch in Kursen gelehrt und in der Praxis angewendet. Trotzdem muss die Geschichte der Tanznotation als eine Geschichte des Scheiterns bezeichnet werden – wenn auch eines sehr kreativen! Zum einen konnte sich kein System durchsetzen, das in der ganzen Tanz- und Ballettwelt Verwendung fände. Zum anderen kann sich aus zeitlichen und finanziellen Gründen nur eine Minderheit der Tänzer, Ballettmeister, Choreografen und Dramaturgen mit dem Thema beschäftigen, da eine entsprechende Weiterbildung zumeist privat organisiert werden muss. An den Ausbildungsinstituten und Hochschulen werden die Methoden der Tanznotation eher stiefmütterlich behandelt. Darüber hinaus denken viele, dass präzise schriftliche Aufzeichnungen durch die Videotechnik hinfällig geworden seien. Und nicht zuletzt haben die wenigsten Tanzensembles und Ballettcompagnien eine Position installiert, um die erarbeiteten Werke systematisch festzuhalten.
Grundsätzlich erlaubt die Tanznotation nicht nur, dass man ein präzises Analyseinstrument für tänzerische Strukturen an die Hand bekommt. Sie ebnet auch Wege in andere Betätigungsfelder wie Medizin, Sport oder das computergestützte Programmieren von virtuellen Körpern. Aber wie für alle Zeichensysteme gilt auch für die Tanznotation, dass man Zeit investieren muss, um sich die jeweilige Methode lesend und schreibend anzueignen. Das Erfordernis von Lesen und Schreiben verbindet als Grundbedingung die Tanznotation mit allen anderen Schriften, die in der Welt existieren. Der Vorteil einer Darstellung von Bewegungsabläufen mit Hilfe eines abstrakten Zeichensystems liegt insbesondere in der Möglichkeit, etwas Nicht-Sprachliches auf Papier festzuhalten und für eine längere Dauer zu fixieren. Über einen Lektürevorgang kann das in der Schrift Festgehaltene wieder vergegenwärtigt werden. Diesem Übersetzungsprozess wohnt ein zutiefst schöpferischer Vorgang inne. Beim Entziffern eines Textes müssen wir das eigene Kopfkino in Gang setzen und selbsttätig Bilder, Interpretationen und Sinnzusammenhänge entwerfen. Ob sich der Text aus Wörtern, Musiknoten oder Bewegungszeichen zusammensetzt, macht prinzipiell keinen großen Unterschied. Auch ein Text, der sich rein aus tanznotationalen Zeichen zusammensetzt, gibt eine klare Struktur vor, die uns anzeigt, was wir als Lesende nicht außer Acht lassen sollten. Wenn wir also einem wie auch immer gearteten Text treu bleiben möchten, dann ist vom Schauspieler genau dieses Wortmaterial zu verwenden, vom Musiker diese Note zu spielen und vom Tänzer diese Bewegungsanweisung umzusetzen. In den letzten Jahrzehnten haben sich Inszenierungs- und Interpretationspraktiken etabliert, die die Werkvorlage eher als Sprungbrett verstehen, um eigene Umsetzungen zu entwickeln. Auch das ist ein legitimer interpretatorischer Vorgang. In ihm drückt sich ein kritisches Verhältnis zur Autorposition aus. Allerdings muss sich eine solche Umsetzung, die einen Text bloß als Inspirationsquelle nutzt, immer noch an der Qualität der Vorlage messen lassen. So oder so liegt die große Freiheit zwischen den gedruckten Zeichen. Das Gedruckte fungiert in Schauspielstücken, Orchesterpartituren und Tanznotationen als ein Gerüst, das weder seine endgültige Realisierung noch das Verständnis auf Seiten der Leserschaft bis ins letzte Detail zu regeln vermag. Deshalb können wir gar nicht anders, als Texte immer wieder neu zu lesen, zu interpretieren und aufzuführen. Dies verbindet die Tanznotation mit allen anderen abstrakten Aufzeichnungssystemen.
Während sich Inszenierungen von Musicals, Operetten, Opern und Schauspielen in vielen Fällen auf Vorlagen berufen können, die in schriftlicher oder musiknotationaler Form festgehalten sind, präsentiert sich die Ausgangslage im Fall von Ballett- oder Tanzproduktionen etwas komplizierter. Tanznotationen aus vergangenen Jahrhunderten sind nur spärlich überliefert. Hin und wieder gibt es ein Libretto, das von einer Handlung berichtet. Nur in ganz seltenen Fällen liegt eine Aufführungsbeschreibung vor. Mit welchen Figuren und Formationen die Choreografie genau getanzt wurde, ist deshalb vielfach nicht mehr zu eruieren. Und wo tatsächlich Dokumentationsmaterialien vorhanden sind, muss der tänzerische Ablauf mit viel Aufwand rekonstruiert werden. Dazu sind Kenntnisse des jeweiligen Notationssystems, der nicht verschriftlichten Konventionen sowie der performativen Praxis nötig. Welche Schrittfolgen, Körperhaltungen, Handgesten, Bewegungsfiguren, Sprünge und Hebungen wurden gezeigt? Wie hat man sich die Dynamik der einzelnen Bewegungen vorzustellen? In welcher Dauer und mit welchem Rhythmus hat sich das choreografische Geschehen entfaltet? Und wie haben die Tänzerinnen und Tänzer den Bühnenraum genutzt? Mit solchen Fragen sind Tanzschaffende konfrontiert, wenn sie ältere Choreografien neu einstudieren wollen. Und man muss gar nicht weit in der Zeit zurückgehen, um zu erkennen, dass sich sogar Produktionen, die erst vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten entstanden sind, nicht mehr präzise rekonstruieren lassen. In solchen Fällen hat sich eine Tanzcompagnie auf das performative Gedächtnis jener zu verlassen, die an der Kreation unmittelbar beteiligt waren.
In Bezug auf Konzeptionen von Autor- und Urheberschaft unterscheidet sich das Ballett von anderen Theaterformen dadurch, dass der Werkstatus nicht primär der schriftlichen oder musikalischen Vorlage zugeschrieben wird, sondern der Choreografie. Deshalb kommt ihrer schriftlichen Fixierung und Dokumentation eine überragende Bedeutung zu. In Schauspiel, Oper, Operette und Musical wird der Werkstatus in erster Linie über den in Textbüchern und Partituren gedruckten Inhalt definiert. Die Inszenierung solcher Werke wird deshalb anders als im Ballett nicht als schöpferische, sondern als interpretatorische Praxis begriffen. Der Tanznotation kommt vor diesem Hintergrund die Aufgabe zu, nicht bloß eine Inszenierung zu dokumentieren, sondern das choreografische Werk, das sich erst in der konkreten Umsetzung durch Tänzerinnen und Tänzer realisiert, verfügbar zu halten. Je weniger aber die choreografischen Werke mittels Tanznotation festgehalten werden, desto schwieriger wird es, sie einzustudieren und auf die Bühne zu bringen. Ausnahmen bilden Werke, die eine ununterbrochene Aufführungstradition besitzen und von Generation zu Generation weitervererbt werden. Allerdings schleichen sich hier oftmals Vorstellungen von „originalen Traditionen“ ein, die wenig mit den tatsächlichen Begebenheiten zum Zeitpunkt der Uraufführung zu tun haben. Hier hat die Ballettwelt noch einiges von der historischen Aufführungspraxis zu lernen, wie sie beispielsweise im Umfeld der Alten Musik praktiziert wird.
Historisch sind das Tanzen als ein „künstlerisches Handeln“ und die schriftliche Fixierung dieses Handelns eng miteinander verknüpft. Das wird schon daraus ersichtlich, dass der Begriff „Choreografie“ in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht das tänzerische Geschehen selbst, sondern das Aufschreiben der choreografischen Figuren meint. Der berühmte Choreograf und Herausgeber mehrerer Ballettschriften, Raoul Auger Feuillet (1653-1710), zählt zu den ersten Ballettmeistern, die im Zeitalter des Barock eine Terminologie entwickelten und dem Ballett eine Systematik zugrunde legten. Auch aus der Renaissance sind Aufzeichnungen von Tänzen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts erhalten. Mit einem einfachen Buchstabensystem wurden damals die Angaben zu den einzelnen Schritten unter die entsprechenden Musiknoten gedruckt. Außerdem ist aus dieser Epoche eine ganze Reihe von Schriften überliefert, in denen die verschiedenen Tänze und ihre richtige Ausführung sprachlich beschrieben werden. Im 17. Jahrhundert, als den höfischen Tänzen für die Prachtentfaltung im Absolutismus eine immer wichtigere Bedeutung zuwuchs, entwickelte der bereits erwähnte Raoul Auger Feuillet eine Systematik für die immer komplizierter werdenden tänzerischen Abläufe. Dies entsprach in jener Zeit einem großen Bedürfnis der Adelsgesellschaft am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Denn niemand wollte sich die Blöße geben, sich bei öffentlichen Tanzveranstaltungen zu blamieren, weil er oder sie das Zeremoniell nicht beherrschte. Es gehörte ganz selbstverständlich zum guten Ton, Tanznotationen lesen und auch umsetzen zu können. Oft wurde ebenfalls die Hilfe von Tanzmeistern angefordert. Sie brachten den Mitgliedern der Hofgesellschaft die genauen Tanzschritte und Raumfiguren bei, damit sie auf dem Parkett glänzen konnten. Nach der französischen Revolution kamen die äußerst anspruchsvollen Choreografien der Barocktänze etwas aus der Mode. Sie machten einfacheren Abläufen Platz, die auf weniger elaborierten Notationsmethoden basierten, mit geringerem Aufwand zu lernen waren und von breiteren Gesellschaftsschichten, die nicht über eine langjährige tänzerische Vorbildung verfügten, getanzt werden konnten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erstarkte dann das Interesse an der Tanznotation wieder. Das ist auf ein verändertes Werk- und Kunstverständnis des Balletts zurückzuführen, das seine Grundlagen aus der vorrevolutionären, höfischen Tanzkultur bezog und diese Basis im Zeitalter der Romantik mit einem neuen Bewegungs- und Darstellungsrepertoire ergänzte.
Besonders erfolgreich war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Notationsmethode von Wladimir Stepanow (1866-1896). Nicht nur wurde sein Aufzeichnungssystem in Moskau und St. Petersburg an den Akademien gelehrt, es kam auch zur Anwendung, um das für die Ballettgeschichte eminent wichtige Repertoire von Marius Petipa zu sichern. Vom 20. bis ins 21. Jahrhundert explodierte die Zahl unterschiedlicher Aufzeichnungssysteme, was unter anderem eine Folge der Erweiterung des Bewegungsrepertoires im modernen und zeitgenössischen Tanz ist. Gegenwärtig berufen sich zahlreiche an der Tanznota-tion Interessierte auf die Modelle von Rudolf Laban (1879-1958) und Rudolf Benesh (1916-1975). Zwar weisen beide Ansätze auch Nachteile auf, aber sie werden stetig weiterentwickelt oder nach Bedarf mit anderen Notationsformen ergänzt. Man hat es beim Tanz mit einer lebendigen Schrift zu tun, die sich nie ganz auf den Begriff bringen lässt.
Serge Honegger
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