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Berichte
Ach, Pina!
Pina Bauschs assoziative Shakespeare-Visionen im Wuppertaler Opernhaus
„In den Trümmern der eignen Welt“ endet Wagners Wotan. Ein ebenso blutbedeckter Weltgestalter steht irgendwie Rettung suchend da, schüttet zwei Umzugskartons voll grässlich buntem Plastikspielzeug über sich aus und steht heillos in diesem Horror. Eine besondere Premiere: Die Shakespeare-Gesellschaft tagt, und Peter Zadek hat Pina Bausch zu einem „Macbeth“-Abend ins Schauspielhaus Bochum gelockt. Doch es erklingt vieles mehr als Verdi… und erst auf der Bühne! Kein übliches Königsdrama! Unruhe, Gelächter, höhnische Zwischenrufe, hämischer Anti-Beifall, türenknallendes Saal-Verlassen … die Skandal-Premiere schlechthin – damals am 28. April 1978. Soeben: eine enthusiastisch gefeierte Neueinstudierung durch das neu konstituierte Wuppertaler Tanztheater unter Direktorin Bettina Wagner-Bergelt – nach 41 Jahren!
Bravo-Rufe und Standing Ovations, die dem Entsetzen entspringen, für „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“ – für jenes Drei-Stunden-Totaltheaterstück, mit dem die 1973 gegründete Truppe um die 33-jährige Pina Bausch damals Furore machte und europaweit eingeladen wurde… Bausteine für den beginnenden Weltruhm des Ensembles um „Pina“.
Johanna Wokalek und Jonathan Fredrickson. Foto: Uwe Stratmann
Die offene Bühne Rolf Borziks ist eine Art Welt-Konglomerat: ein bühnenweiter, hoher lichtgrüner Saal; hinten ein großes Fenster und eine hohe Glastür in die Dunkelheit; offene Zugänge links und rechts, zwei offizielle und eine Tapetentür; hinten ein kleines Waschbecken, ein Beichtstuhl, eine leere, fast mannshohe Glas-Vitrine, ein rollbares Notaufnahmebett samt Plastikabdeckung, ein halbes Jugendstilbett in Rosa ohne Himmel, ein unbezogenes Plumeau, eine Duschkabine in grünem Plastik; im Raum verteilt drei unterschiedlich hässliche Sofas, eine Recamiere-Liege, mehrere nicht zusammenpassende, unterschiedlich abgenutzte Fauteuils, ein banaler Arbeitstisch und Beistelltischchen; vorne links ein altes Klavier; der vordere Teil des blutroten Bühnenteppichs ist abgesenkt. Längs durch den Raum liegt ein Gartenschlauch, aus dem den ganzen Abend lang Wasser fließt und vor der ersten Parkettreihe ein flaches Bassin bildet. Als es ganz langsam hell wird, sitzen und liegen neun Menschen im Raum verteilt, und ihre anfangs kleinen Schlafbewegungen steigern sich wie im Zeitraffer zu tobender Unruhe – rasende Somnambule in einer wirren Welt. Zu Adagio-Musik verlangsamt sich das Treiben, um wieder in vermeintliches Action-Chaos zu entarten. Einer spricht Shakespearsche Textfetzen wie „Macbeth hat den Schlaf gemordet“. Das ist kein Tänzer, sondern der körperdarstellerisch völlig im Ensemble aufgehende Maik Solbach. Er schält sich als Macbeth-Figur heraus, den von ihm bekanntermaßen veranstalteten blutrünstigen Horror überdreht Pina Bausch im Bild mit dem Plastikzeug. Eine schlanke Frau streift sich im Verlauf mehrmals ihr langes Kleid über ihren endlosen Netzstrumpf-Beinen bis zum Schlüpfer hoch, schlägt sie berechnend geziert übereinander, malt sich x-fach übertrieben die Lippen rot und erzählt in maliziösem Tonfall „Die Begegnung von ‚M‘(acbeth) und ‚B‘(anquo) mit den drei Hexen“ und weitere Stationen dieser wüsten Geschichte – ach ja, das ist keine Tänzerin, sondern Johanna Wokalek, die sich im Spring-Werf-Lauf-Körpereinsatz durch nichts von den anderen unterscheidet, sondern nur mehrfach so abgründig fies zentrale Handlungszüge erzählt.
Zu all dem erklingt vom Band eine von Peer Raben mit Pina Bausch kompilierte Musik-Collage aus wildem Ragtime, traumhaft beseelten Debussy-Adagios, einer Art Höllengalopp aus Katchaturians „Gayaneh“, verfremdeten Schlagern, dem Vorspiel zum Auftritt von Verdis wahnsinniger Lady Macbeth. Auf der Bühne werden Kinderlieder und englische Shantys gesungen – und dann wirft Oleg Stepanov, einer der neun Tanztheatraliker, mehrfach am Abend Münzen ganz hinten in die schöne, alte Jukebox und bespielt den Raum mit einer solipsistischen Samba-Show der Extraklasse, während um ihn her mal lethargische Ruhe, mal ein chaotisches Rasen und Fetzen von acht weiteren Menschen in einem Nicht-Zuhause herrscht. Zweimal versucht einer das Klavier zu bespielen, erfolglos – und auch als die ohnmachtsnahe Breanna O’Mara zweimal auf die Tastatur gelegt wird, erklingen nur Dissonanzen.
Ensemble. Foto: Uwe Stratmann
Es sind zunächst „Normalos“ von Heute, doch Jonathan Frederickson, Breanna O’Mara, Julie Shanahan, Julian Stierle, Michal Strecker und Tsai-Wei Tien wechseln nicht nur durch vielerlei Kostümteile zwischen Tüllkleid, Jacken, hauteng durchsichtigem Unterkleid, arabischem Mantel und rosa Satin-Smoking – wie diese Accessoires wechseln sie auch die Gefühlslagen und Verhaltensweisen des Unbehaustseins. Eine wirr-wüste Gefühlswelt entsteht, von kurzem Neben- und Miteinander, von Emotionsfetzen, von Blumen streuen und ein Tänzchen einlegen, von kurzem Miteinander und viel Verlorensein – in dem einer immer wieder den Finger hebt, um zu prüfen, ob und woher „der Wind der Geschichte“ weht. Das alles provoziert in seiner theatralischen Expression wiederholt typische „Befreiungslacher“, dann auch mal Szenenbeifall – wenn die neun Solisten 13-mal diagonal durch den Raum flitzen und jeder etwas anderes mit Mimik, Gestik und Bewegung „spricht“, alles nur so unzusammenhängend wie das pausenlose Gerede in unserer Welt.
Das scheinbar wirre Sammelsurium der Dinge und Figuren wird allmählich zum erschreckenden Abbild unserer arrivierten Gesellschaften, die den heutigen blutigen Horror nur irgendwo an den Rand der Welt verlagert haben, sich durchweg wie auf der Bühne „die Hände sauber waschen oder wie „M“ und „Lady“ verzweifelt hinten duschen. Eine Szene bleibt unvergesslich: Auf zehn alten Kinostühlen sitzen die neun Menschen; sie wechseln den leeren Sitz durch, veranstalten – eine Kunst-Welt von Loriots Konzertsaal-Clownerie entfernt – einen „Reigen der Platzhabenden“, auch als eine wie tot im Sitz liegen bleibt. Alles gipfelt im gierigen Raffen und hechelnden Mitschleppen von Spielzeug und Möbeln, von „Besitz-Müll“: geradezu ein Endzeitbild „von uns“ – ein Hauch von Apokalypse in einem frappierend jungen Stück von 1978, gespenstisch hautnah… Wir sind nicht weitergekommen – und zeitlose Kunst hält uns den gnadenlosen Spiegel vor. Ach, Pina!
Wolf-Dieter Peter
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