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Berichte
Zukunft: Offen
Das Festival »TanzArt ostwest« in Giessen
Nein, gerettet werden musste in Gießen niemand, auch wenn eine der schönsten Performances des diesjährigen „TanzArt ostwest“-Festivals oben im offenen Hubschrauberhangar des Johanniter Luftrettungszentrums stattfand. Eher schon gefeiert, möchte man sagen, den herrlichen Blick aus der Höhe in den Himmel noch in Erinnerung, in den gerade die polnische Choreografin Lucyna Zwolinska ihre Bewegungskreation „IN | DE | FL | AIR“ von acht Tänzerinnen und Tänzern des Stadttheaters hat hineinschreiben lassen. Denn zum 17. Mal realisierte Tarek Assam ein Festival, das sich aufgrund seiner programmatischen „ostwest“-Zuspitzung stets befragen und neu austarieren muss. Auch das macht „TanzArt ostwest“ spannend. Idee und Konzept von „TanzArt ostwest“ wurden erstmals Ende der 1990er-Jahre entwickelt.
„bluehour“. Foto: Rolf K. Wegst
Gemeinsam unter anderem mit Mechtild Hobl-Friedrich, einer der wichtigsten Mitgründerinnen und Wegbegleiterinnen des Festivals, reizte es Tarek Assam, die neuen geografischen, kulturellen und mentalen Räume, die sich seit der Transformation Europas nach 1989 aufgetan hatten, zum Koordinatensystem eines neuen Festivals für Zeitgenössischen Tanz zu machen. „Wir wollten einfach los und entdecken, welche Tanzstile, welche Compagnien und Künstler im Osten waren. Wir wollten sie zu uns einladen, aber auch selbst bei ihnen als zeitgenössische Tanzschaffende auftreten, wo es so lange schwierig war, dort hinzureisen“, erzählt Hobl-Friedrich. „Und so kam es eben zum Namen ‚ostwest‘“, ergänzt Assam.
Die ersten Ausgaben der „TanzArt ostwest“ fanden in Halberstadt, Quedlinburg und Magdeburg statt, wo Assam bis 2003 als Ballettdirektor wirkte. 2002 wanderte es mit Assam gemeinsam nach Gießen. „Heute ist für uns nicht nur Polen und Tschechien im ‚Osten‘, sondern wir strecken uns bis in den Fernen Osten aus und kooperieren beispielsweise mit der Tanzszene an der Südküste Chinas,“ so der Künstlerische Leiter. Tanzschaffende in Europa aus der Schweiz, Belgien, Italien, Holland, Spanien oder natürlich Deutschland bilden, wenn man so will, dann das „West“-Konglomerat, stehen aber auch metaphorisch für das Europa von heute.
„Metropolis – Futur 3“. Foto: Rolf K. Wegst
2019 waren es insgesamt 120 Tänzerinnen und Tänzer, die im Rahmen von 22 Aufführungen zeitgenössische Tanzkunst, Stile, Ansätze und Inhalte auf die Bühnen zauberten. Bei aller Freude ächzt das Festival. Das zu kleine Team steuert einen großen Tanker. „Neben all dem Engagement von Freiwilligen und ehrenamtlichen Helfern hat sich die Notwendigkeit einer Mitarbeiterstelle für das Management des Festivals gezeigt. Ich hoffe sehr, den gewachsenen Anforderungen beim Management auch in Zukunft mit Hilfe finanzieller Zuwendungen auf Landesebene gerecht werden zu können“, so Tarek Assam. Weitere Gala-Aufführungen von „TanzArt ostwest“ finden im ostbelgischen Eupen oder am Theater Koblenz statt, denn „TanzArt ostwest“ funktioniert auch wie ein virtuelles Ringmodell, in der sich beteiligte Theater, Tanzszenen und Tanzschaffende gegenseitig unter gemeinsamer Flagge mit künstlerischen Beiträgen bereichern.
Tarek Assam. Foto: Rolf K. Wegst
In Gießen freute sich das Publikum über eine herrliche Neuinterpretation der „Carmen“ durch Ivan Strelkin oder die heiter-ironische Selbstbefragung der wunderbaren Susanna Curtis aus Nürnberg. Über 50 Jahre und stählern wie eine unter 30-Jährige, aber gereift und voll speziellem Humor präsentierte die Grande Dame des Zeitgenössischen Tanzes ihr tiefgründiges „Do You Contemporary Dance? Do you?“ in der TaT-Studiobühne. Diese war auch Raum für vier weitere Abende mit zahlreichen Kurzstücken aus „Ost“ und „West“. Mit dem Hauptgebäude der Universitätsklinik, wo Esra Schreier und Paolo Fossa „Körper-Erzählungen“ inszenierten, oder dem Innenhof Altes Schloss dehnte sich das auf standortbezogene Produktionen spezialisierte Festival genussvoll in die Stadt aus. Partner war dabei erstmals die Hessische Theaterakademie mit dem gemeinsamen Projekt „Overlap/B“. Assam hofft zu Recht, „dieses Profil zu behalten und somit weiterhin Raum für experimentelle Tanz- und Performanceansätze zur Verfügung stellen zu können“. Täglich präsentierten Studierende in der Tiefgarage am Berliner Platz bei freiem Eintritt eine Performance und machten damit für jeden, der älter war, auf berührende Weise greifbar, was junge Theatermacher am Zustand der Welt bewegt. Bárbara Galego Silveira Lima und Felipe dos Santos Boquimpani waren hierbei ungeheuer mutig. Sie performten unter dem Titel „Bodenlos“ die Entwicklung der Menschheit in einem Kreis aus Erde und Lehm, während man auf Bierbänken saß und hörte, wie Passanten ungerührt mit ihren Autos über den Beton fuhren. Fast nackt, noch ohne Sprache, unschuldig wie Kinder spielten sie. In Verbindung mit der anschließenden Aufführung im Großen Haus von Tarek Assams beeindruckender Produktion „Metropolis – Futur 3“, die so erschreckend punktgenau, hochvirtuos und rhythmisch unter die Haut gehend unsere Gegenwart und Zukunft im Schreckensbild der fortschreitenden Maschinisierung, Technisierung und Digitalisierung auf den Punkt bringt, wurde mehr als deutlich, wohin die „TanzArt ostwest“ heute schaut: in eine Gegenwart der global erlebten und geteilten, teils traumatischen Verluste einstiger Ordnungen, Orientierungen und Selbstvergewisserungen – Zukunft offen. Denkt man an die Aufführung im Hubschrauberhangar zurück, wo sich bei laufender Performance das Rettungsteam bereithielt, um auf Knopfdruck Schwerverletzte erstzuversorgen, verwandelt sich dieser in einen nahezu symbolischen Ort für „TanzArt ostwest“ 2019.
Alexandra Karabelas |