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Tanzkunst dokumentarisch und fiktiv
Drei aktuelle Tanz-Filme in den Kinos · Angeschaut von Stefan
Moser La Danse
La Danse. Das Ballett der Pariser Oper. Ein Dokumentarfilm
von Frederick Wiseman mit Solotänzern, Corps de Ballet, Orchester
und Schule der Opéra National de Paris. Choreografien
von Wayne McGregor, Sasha Waltz, Mats Ek, Rudolf Nurejew, Pierre
Lacotte, Pina Bausch und Angelin Preljocaj. Musik von Berlioz,
Bach, Tschaikowsky, Gluck, Lanza und Talbot. 158 Minuten
Frederick Wiseman entführt uns in eine faszinierende Welt
der Tanzkunst, die durch die blitzblank polierte Linse seiner Kamera
betrachtet einen Grad der Perfektion erreicht, der einen staunend
fast erschauern lässt. Wer Ballett und Tanz in Reinkultur
erleben möchte, dargeboten an einem absoluten Luxusbeispiel,
der wird diesen Film lieben und dem werden auch die nahezu drei
Stunden nicht zu lang werden. Sehr wahrscheinlich wird man sogar
am Ende der 160 Minuten, die im Übrigen völlig ohne Interviews
oder Kommentare auskommen, noch hoffen, ein weiteres Juwel des
Tanzes oder auch einen weiteren Blick hinter die Kulissen, über
die Dächer oder hinter und unter die Bühne geboten zu
bekommen.
Sicher darf man nicht davon ausgehen, dass das, was einem hier
gezeigt wird, repräsentativ für alle Tanzcompagnien der
Welt ist. Schließlich wird mit diesem Film ein Bild des Balletts
der Pariser Oper gezeichnet, welches eines der besten und bestausgestatteten
Ballettensembles der ganzen Welt ist. Es ist ein Genuss, den Tänzerinnen
und Tänzern dieses Ensembles, den Ballettmeisterinnen und
Ballettmeistern, den Schneiderinnen, Färberinnen, Kunstgewerblern,
Maskenbildnern und allen anderen über die Schultern blicken
zu dürfen und so einen Eindruck ihrer täglichen Arbeit
und Routine zu erhalten. Wobei hier von Routine zu sprechen absurd
scheint: Sowohl Kenner als auch Laien können nur gebannt sein
von so viel Talent, Hingabe und Einsatz, die hinter der Erfolgsgeschichte
dieser Compagnie stehen. Nicht umsonst betont die künstlerische
Leiterin Brigitte Lefèvre, dass das Erscheinungsbild dieses
lebenden Organismus unter anderem von der Schule geprägt wird,
die die jahrhundertelange Tradition der Ausbildung in einer ganz
bestimmten Stilrichtung gewährleistet. Kenner werden aber
auch viele berühmte Namen aus der französischen Tanzszene – und
speziell der Pariser Oper – wiederentdecken, die inzwischen
die Probenarbeit mit der Compagnie, mit der Gruppe ebenso wie mit
den Solisten, übernommen haben. Ein Luxus, den sich nicht
jedes Ensemble leisten kann, der aber eine Kontinuität und
eben Stiltreue sichert, wie man sie so an wenigen anderen Tanzinstitutionen
der Welt noch einmal finden wird.
In manchen Momenten des Films kann man wohl den Eindruck gewinnen,
dass Wiseman, der ganz offensichtlich ein großer Fan und
Verehrer des Balletts der Pariser Oper ist, ein etwas zu sauberes
und schönes Bild auf Zelluloid bannen wollte und die Protagonisten
vielleicht etwas übertrieben sympathisch gezeichnet sind.
Aber, ganz ehrlich: Es ist manchmal durchaus wohltuend, eine heile
Welt zu sehen, auch wenn sie nicht uneingeschränkt die Realität
widerspiegelt. Die Bilder des Films lassen einen die zartrosa Brille,
die Wiseman uns vielleicht aufzusetzen versucht, auf jeden Fall
sehr schnell vergessen.
Am 29. April erscheint „La Danse“ auf DVD.
pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren
„Pina“. Ein Film für Pina Bausch von Wim Wenders.
Ein Tanzfilm in 3D.
Hier über das Werk und die Arbeit von Pina Bausch zu schreiben,
wäre unnötig, denn das ist in der Vergangenheit ausgiebig
geschehen und wir beschreiben hier ja auch kein neues Tanzstück
der 2009 so plötzlich verstorbenen deutschen Choreo-grafin,
Tänzerin und Chefin des Tanztheaters Wuppertal, sondern den
neuen 3D-Film des Regisseurs Wim Wenders über ihr Schaffen.
Um es vorwegzunehmen: Wim Wenders ist es – nach Filmen
wie zum Beispiel „Buena Vista Social Club“ – gelungen,
ein bewegendes Porträt der Künstlerin Pina Bausch zu
schaffen, eine beeindruckende Dokumentation ihrer Arbeit und Choreografien.
Dieser Film ist eine Hommage, die – bisher einzigartig – der
Person Pina Bausch, ihrer Emotion und ihrer Kunst gerecht wird.
Wenders setzt den Zuschauer sozusagen auf die Bühne. Er ist
tatsächlich „mittendrin statt nur dabei!“.
Für den nicht an die 3D-Technik gewöhnten Betrachter
ist die einem Diorama ähnelnde Optik zu Beginn etwas irritierend.
Man fühlt sich in ein Bühnenbild- oder auch Stadtplanungsmodell
hineinversetzt und fragt sich zuerst, ob es nicht auch die übliche
Technik getan hätte. Spätestens jedoch beim Beginn der
ersten Tanzszenen, wenn man das Gefühl hat, man befinde sich
mitten zwischen den Tänzerinnen und Tänzern, entwickelt
der Film einen unwiderstehlichen Sog, dem man sich bis zum Ende
nicht mehr entziehen kann. Wim Wenders zeigt Ausschnitte aus einigen
der bekanntesten Werke von Pina Bausch. Er beschränkt sich
aber nicht ausschließlich auf die Bühne oder auf Szenen
aus dem Ballettsaal, sondern macht gleichermaßen die Stadt
Wuppertal, in der Pina Bausch ja den größten Teil ihres
künstlerischen Lebens verbracht hat, und deren nähere
Umgebung zur Bühne. Man nimmt teil an Szenen in der Wuppertaler
Schwebebahn, auf einer Verkehrsinsel, im Park und auf Industriehalden
und gewinnt fast den Eindruck, dass die Tanzsequenzen eigentlich
vielmehr für diese Orte als für die Bühne geschaffen
wurden. Nicht zuletzt dadurch wird auch der ständige Bezug
der Choreografien von Pina Bausch zu den Elementen und zur Alltäglichkeit
deutlich.
Automatisch stellt man sich die Frage, was aus diesem Film wohl
geworden wäre, wenn Pina Bausch nicht vor dem eigentlichen
Drehbeginn so unerwartet aus dem Leben gerissen worden wäre.
Diese Frage wirft aber keine Zweifel an der Intensität des
Films auf – und eine Antwort darauf werden wir nicht bekommen.
Der plötzliche Tod Pina Bauschs und der Umgang ihrer Truppe
und Wim Wenders‘ mit dieser unvorhergesehenen Situation unterstreicht
auf jeden Fall eindrucksvoll die Identifikation der Tänzerinnen
und Tänzer mit ihrer Choreografin und die engen emotionalen
Verbindungen untereinander. Alle Mitglieder der Compagnie kommen
zu Wort und schildern in bewegenden Kurzinterviews und Statements,
wie sie die Arbeit und das Leben in dieser Gemeinschaft erlebt
haben. Am bewegendsten vielleicht diejenigen, die eben keine Worte
finden. Aus dieser offenbarten engsten Bindung der Künstler
an Pina Bausch ergibt sich folgerichtig die Frage, wie ein von
einer solchen Symbiose lebendes Kollektiv wohl fort-existieren
kann, wenn ihm die zentrale Figur mitsamt ihrer Inspiration entrissen
wird. In jedem Fall ist Wim Wenders‘ Film ein vielversprechender
Anfang, und Pina Bausch wäre mit diesem Anfang – so
ist zu vermuten – sehr einverstanden gewesen.
Wim Wenders hat hier eine neue Technik genutzt, um nicht nur
die Kunst, sondern gerade die Person Pina Bausch auch dem noch
nicht tanzinfizierten Zuschauer nahezubringen – und dies
im wahrsten Sinn des Wortes. Das ist ihm meisterhaft gelungen und
man möchte den Film nicht nur Tanzfans, sondern allen empfehlen,
die bereit sind, sich auf gelebte und öffentlich gemachte
Gefühle einzulassen. Dieser Film wird niemanden unberührt
lassen, und man wird danach dem Satz „Tanzt, tanzt, sonst
sind wir verloren“ uneingeschränkt Glauben schenken.
„Black Swan“: Zerrissenheit einer Tänzerin
„Black Swan“. Spielfilm von Darren Aronofsky. USA,
2011
Uff …, zum Glück ist es nur ein Film! Die Erleichterung,
diesen Satz mit voller Überzeugung sagen zu können, steht
einem beim Verlassen des Kinos wahrscheinlich nur allzu deutlich
ins Gesicht geschrieben. Aber lassen Sie uns nichts vorwegnehmen.
Zur Story: Junge Frau, vom Selbstverwirklichungstraum der übermächtigen
und ihr gesamtes Leben bestimmenden Mutter und vom dadurch entstandenen übersteigerten
eigenen Ehrgeiz getrieben, schickt sich an, den entscheidenden
Schritt in der beruflichen Karriere zu machen, der gleichzeitig – bewusst
oder unbewusst – wohl auch der Eintritt in das Leben einer
erwachsenen, auch sexuell reifen Frau sein dürfte. Das Rüstzeug,
das sie selbst noch nicht mitbringt, versucht ihr Chef mit allen
möglichen und unmöglichen Psychotricks und Enthemmungsvorschlägen
aus ihr herauszukitzeln und schreckt dabei auch vor sexuellen Übergriffen
nicht zurück. Diesem psychischen und physischen Druck ausgesetzt,
beginnt die junge Nina (Natalie Portman) paranoide und schizoide
Züge zu zeigen, die sich immer rasender entwickeln und in
einer innerlichen, nahezu kafkaesken Metamorphose gipfeln. Es folgt – in
einmaliger Erfüllung der angestrebten absoluten Perfektion – die
Selbstentleibung. Ob Nina gerettet werden kann, körperlich
oder seelisch, lässt das Ende des Films offen, aber die Hoffnungen
scheinen gering.
„Alles schon mal da gewesen“, möchte man sagen.
Regisseur Darren Aronofsky hat hier allerdings das bedrückende
Psychogramm einer jungen Frau geschaffen, das sich im weiteren
Verlauf des Films zu einem Psychothriller wandelt und auch mit
einigen (allerdings wenig subtilen) Horrorszenen aufwartet. Auch
wenn man derartige Szenen aus anderen Filmen kennt, lässt
man sich gerade in diesem Film gerne davon schockieren.
Haben sich also Drehbuchautor oder Regisseur nun in den Kopf
gesetzt, eine solche Story im Bereich der darstellenden Künste
anzusiedeln: Welche Sparte würde sich wohl eher für die
Figur der jungen Nina eignen als die des klassischen Ballett? Und
aus welchem Plot könnte man besser eine Persönlichkeitsspaltung
konstruieren als aus der Geschichte von „Schwanensee“?
Eine Prinzessin im Banne des bösen Zauberers Rotbart, gefangen
in der Gestalt des Inbegriffs der Reinheit, Fragilität und
Schönheit, nämlich der des weißen Schwans. Sie
wird von Rotbart durch eine böse, kalte und berechnende Doppelgängerin,
den schwarzen Schwan, ersetzt, um den Prinzen, der sich in sie
als weißen Schwan verliebt hat, zu täuschen. Um die
gemeinsame Liebe betrogen stirbt die Prinzessin am Ende des Balletts.
Aber werden damit nicht die allseits bekannten Klischees über
klassischen Tanz, über die Tänzerinnen und Tänzer
und deren Erziehung und sexuelle Ausrichtung, über die Rolle
der Choreografen und Direktoren, Ballettmeister et cetera bedient?
So passend die Ansiedlung der Story in diesem Bereich zu sein scheint,
so viele Gefahren birgt sie, die alten, längst überkommenen
Geschichten über Rivalität unter Primaballerinen (bis
hin zu tätlichen Angriffen oder Sabotageakten, die Leib und
Leben gefährden), oder bulimische bis hin zur Magersucht getriebene
Tänzerinnen wieder heraufzubeschwören. Man muss den Drehbuchautoren
und dem Regisseur zugestehen, dass ihr Film einer der besseren
Ballettfilme ist, wenn man ihn denn als solchen betrachten will,
und man muss über Natalie Portman anerkennend sagen, dass
sie, abgesehen von ihrer bemerkenswerten schauspielerischen Leis-tung,
durch eine erstaunliche, für eine Nichttänzerin durchaus
beeindruckende Bewegungsqualität ihrer Arme und ihres Oberkörpers
punktet: Ergebnis eines sicherlich harten Trainings in Vorbereitung
zu diesem Film, sehr wahrscheinlich aber auch Überbleibsel
eines Balletttrainings in ihrer Jugend. Auch die Recherche, die
das Team zum Thema klassischer Tanz und allem, was damit in Zusammenhang
steht, betrieben hat, ist zu würdigen und der Film hebt sich
dadurch wohltuend von anderen Filmen oder Serien zu diesem Thema
ab. Fraglich bleibt jedoch, warum es immer noch nicht möglich
zu sein scheint, diese Recherche konsequent zu Ende zu führen
und dann auch im Film realitätsnah umzusetzen. Bei der Betrachtung
aus der Perspektive des professionellen Tänzers ergeben sich
Defizite und Mängel. Es sind Stereotype, die dem unkundigen
Zuschauer auch durch diesen Film vermittelt werden. Nein, nicht
alle angehenden Solotänzerinnen leben zwischen Plüschtieren
und rosa Troddeln bei einer Mutter, die aus „Bernarda Albas
Haus“ entsprungen sein könnte. Nein, nicht alle Choreografen
und Ballettdirektoren sind sadistische Franzosen, die für
die Erfüllung ihrer künstlerischen Ideen und körperlichen
Leidenschaften auch die psychische Schädigung ihrer Tänzerinnen
und Tänzer in Kauf nehmen. Und ja, Tänzerinnen und Tänzer
haben im Allgemeinen keine besonders schönen Füße,
aber der Satz „Blut ist im Schuh…!“ ist heute
glücklicherweise selten geworden. Zu Recht schreibt eine Kritikerin,
dass man sich an „Die roten Schuhe“ mit Moira Shearer
erinnert fühlt. Aber war das beabsichtigt? Das Jahr 1948 (Erscheinungsjahr
des Films von Michael Powell und Emeric Pressburger) ist ja nun
schon ein Weilchen her und auch der klassische Tanz hat erfreulicherweise
seitdem einige Entwicklungen durchgemacht.
Die vorherige Frage wieder aufgreifend bleibt offen, warum es
nicht möglich war, Proben, Training und Alltag einer Tänzerin,
Räumlichkeiten eines Theaters, Kostüme et cetera umfassend
so darzustellen, wie es im wirklichen Leben tatsächlich ist.
Ist die Realität der Dramaturgie des Films zum Opfer gefallen?
Resultieren die Mängel aus Unkenntnis? Oder wollte man ein
breites Publikum, das genau eine solche Darstellung erwartet, nicht
desillusionieren? Hätte Darren Aronofsky den Thrill eher im
Alltäglichen gesucht und gefunden, wäre „Black
Swan“ vermutlich etwas stiller geworden, aber deswegen nicht
weniger beeindruckend, und hätte dann sicherlich auch die
nervigen Perfektionisten unter den fachkundigen Zuschauern zu 100,
statt nur zu 80 Prozent befriedigt.
„Zum Glück ist es nur ein Film!“ Und für
alle, die nichts mit professionellem Tanz zu tun haben, sogar ein
sehr guter. Stefan Moser
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