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Einzigartige Erfolgsgeschichte
Stuttgarter Ballett feierte 50-jähriges Bestehen · Von
Alexandra Karabelas Drei Jahre ist es her, dass das Stuttgarter Ballett mit
Aufführungen aus dem Repertoire an den 80. Geburtstag seines
Gründers John Cranko erinnerte. Jetzt läuteten die Glocken
wieder. Die Compagnie mit ihren 70 Tänzern aus 24 Nationen
und über 40 Mitarbeitern feierte drei kalte Februarwochen
lang in Erinnerung an Crankos Vertragsunterzeichnung am 16. Januar
1961 mit 14 Vorstellungen im Opernhaus und ebenso vielen Veranstaltungen
im Kammertheater herzerwärmend ihr fünfzigjähriges
Bestehen. Im Rückblick zeigt sich, welch bemerkenswertes Lehrstück
die Compagnie- und Festivalleitung in Sachen kultureller Identitätsbildung
abgibt. Deutlicher als sonst präsentierte sie die Compagnie
als kollektiven Kulturträger im In- und Ausland. Wiederholt
legte sie das Stuttgarter Ballett als choreografisches Kraftzentrum
für die Weiterentwicklung des erzählenden Abendfüllers
fest.
Berauschend und im balletthistorischen Sinne bildend waren
in diesem Zusammenhang die Aufführungen von William Forsythes „Impressing
the Czar“ durch das Königliche Ballett Flandern, John
Neumeiers „Nijinsky“ durch das Hamburg Ballett und
Mauro Bigonzettis Drama „I Fratelli“ durch die Stuttgarter
selbst. Eine Wonne in diesem Reigen bildeten Marco Goeckes avantgardistischer „Orlando“ und
Christian Spucks Satire „Leonce und Lena“. Neu und überfällig
war, dass sich die Leitung des Stuttgarter Balletts ballettpolitisch
als der „global cultural player“ exponierte, der sie
ist. Die Grafik im Opernhaus bildete ein klares Statement: eine
riesige Weltkarte, wie man sie in Magazinen von Fluggesellschaften
sieht. Die Linien von Stuttgart aus zu Städten in Europa und
auf den übrigen Kontinenten ließen sich schier nicht
zählen. Scheinbar überall leben heute Ehemalige, die
in den unterschiedlichsten Funktionen im Tanz und für ihn
weiterarbeiten und ein spezifisches Wissen zur Anwendung bringen,
das sie während ihrer Stuttgarter Zeit erworben haben. Ballettdirektoren trafen sich
Deutlich kam dies auf der Internationalen Ballettdirektorenkonferenz
zum Ausdruck, zu der Reid Anderson eingeladen hatte (siehe S.
14). Erstmals diskutierten führende Akteure aus der ganzen Welt über
die Leistungen und Herausforderungen, die Spitzentänzer, in
die unterschiedlichsten Tanzkulturen eingebettet, bewältigen.
Spannende Fragen wie jene nach der Globalisierung eines spezifischen
Ballettrepertoires und wer darüber entscheidet, wurden zumindest
aufgeworfen. Ein gesondertes Alumni-Treffen legte schließlich
die Seele dieser Institution Stuttgarter Ballett frei. Bei nicht
Wenigen ereignete sich angesichts der überwältigenden
Zahl an Wiederbegegnungen ein „emotionaler Supergau“,
wie es es eine frühere Halbsolistin entwaffnend auf den Punkt
brachte.
Es stellt sich die Frage: Was ist dem Stuttgarter Ballett
seit Crankos plötzlichem Tod am 26. Juni 1973 gelungen, was
andere Compagnien wie beispielsweise das Tanztheater der verstorbenen
Pina Bausch in Wuppertal oder das Béjart Ballet Lausanne
erst noch bewältigen müssen? Antworten lieferte die Jubiläumsgala.
Nach erfrischenden Etüden der Schülerinnen und Schüler
der John Cranko Schule und dem noblen Defilee der Compagnie in
traditionellem Weiß hatte Ballettintendant Reid Anderson
locker, wie es seine Art ist, das Wort ergriffen: „Das war
Johns Schule“, rief er, „und das ist Johns Compagnie.
John ist nicht mehr da, aber wir sind immer noch da. Und ich bin übrigens
Reid Anderson.“ „Er hätte es nie anders sagen
dürfen als genau so“, bestätigte Hans Gruber einen
Tag später beim Essen nach dem herrschaftlichen Empfang für
die Alumni im Neuen Schloss. 35 Jahre lang, bis zum Jahr 2000,
hat Gruber in der Kostümabteilung gearbeitet und den männlichen
Stars des „Stuttgarter Ballettwunders“ backstage in
die Kleider geholfen: Richard Cragun, der während der Gala
neben Marcia Haydée Platz genommen hat, Egon Madsen, der
gemeinsam mit Eric Gauthier einen Ausschnitt aus ihrer berührenden
Produktion „Dear John“ tanzte, Vladimir Klos, der mit
Birgit Keil aus Karlsruhe angereist war. Und vielen mehr, bis hin
zu Robert Tewsley oder Vladimir Malakhov. Von den Choreografen
hat Gruber „alle“ erlebt: Maurice Béjart („von
dem habe ich viel über Ballett gelernt“), Hans van Manen,
John Neumeier, William Forsythe und Jirí Kylián („die
kenn ich von klein auf“), und natürlich John Cranko.
Unbedarft war er als junger Mann zum Theater gekommen. „Doch
dann“, erzählt Gruber, „war das wie ein Sog.
Man wurde hineingezogen und kam nicht mehr raus. Bis heute.“ Das beste Ballett Deutschlands
Wie kaum eine andere Compagnie in Europa pflegt das Stuttgarter
Ballett seinen Gründungsmythos. Dieser ist, und das wird bei
aller Selbstverständlichkeit vor allem von den Stuttgarter
Entscheidern manchmal vergessen, unauflösbar mit der Stadt
Stuttgart verbunden. Zu ihr hatte Cranko zeit seines Lebens ein
liebevolles, aber auch ambivalentes Verhältnis. So war eine
seiner ersten Äußerungen, in noch nicht ganz perfektem
Deutsch, er wolle „aus diesem Nest das beste Ballett Deutschlands“ hervorgehen
lassen. Die Beglaubigung hierfür verfasste der amerikanische
Kritiker Clive Barnes wenige Jahre später während des
fulminanten Gastspiels der Compagnie 1969 in New York mit seiner
Niederschrift vom „Stuttgarter Ballettwunder“ in der
New York Times. Nach Crankos Tod war es der damalige Generalintendant
der Staatstheater Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der das
Erbe für alle zusammenfasste: „Wir alle sind jetzt John
Cranko und wir werden so weiterarbeiten, als sei er immer noch
unter uns“. Bis heute orientiert sich das Selbstverständnis
vieler ehemaliger und aktiver Compagniemitglieder mehr oder weniger
an dieser inneren Verpflichtung und Identifikation mit John Crankos
Werten, Visionen, und Werken sowie an ihren ureigenen Erinnerungen.
Man spürt das bei jeder Anekdote, jeder Erinnerung und Wiedervergegenwärtigung,
die Auserwählte aus fünf Tänzergenerationen in Rückblicksgesprächen
erzählen. Schade dabei war lediglich, dass nur wieder die
meistbekannten aus der ersten Reihe der Compagnie zu Wort kamen.
Das Leitbild der Familie, die beständig für ihren eigenen
Nachwuchs sorgt und in der man, im Mikrokosmos des Stuttgarter
Opernhauses oder in Gestalt eines weltumspannenden Netzwerks, füreinander
da ist, zeigte sich hierbei auch von seiner machtvollen Seite,
beim Wunsch, den Diskurs über sich beherrschen zu wollen. Nachhaltiges Führungskonzept
Geboren wurde das Leitbild der Familie durch die Person Marcia
Haydées als Mutter der Compagnie. Sie übernahm 1976
die Direktion der Compagnie und ihr Verdienst war es, aus Crankos
Handlungen und Visionen ein Führungskonzept zu entwickeln,
von dem auch Reid Anderson in den 15 Spielzeiten seiner bisherigen
Intendanz grundsätzlich nicht abweicht. Nur nahm er als
Repertoireschwerpunkt die Entdeckung amerikanischer Meisterchoreografen
mit auf. Bis
heute sind die großen Handlungsballette und weitere Werke
Crankos regelmäßig auf der Bühne zu sehen. Sei
es „Romeo und Julia“, sei es „Onegin“ oder „Der
Widerspenstigen Zähmung“, alle bleiben so in einem
kulturellen Funktionsgedächtnis erhalten, werden quasi von
Generation zu Generation weitergegeben. Wie Cranko und Haydée
pflegt Anderson darüber hinaus die behutsame, strukturierte
Förderung
junger Choreografen. Wo diese andernorts oft kommen und gehen
und ihre Kräfte verschlissen werden, setzen die Stuttgarter
auf Nachhaltigkeit, wie die großen Erfolge von Marco Goecke,
Christian Spuck, Douglas Lee aber auch der bereits in den Startlöchern
stehende Demis Volpis beweisen, die, das darf man nicht vergessen,
mit Blick in die Vergangenheit auch einem dankbar sein müssen:
Denn das Tor zur Moderne in der ballettösen Tanzbewegung
hatte Kurzzeit-Direktor Glen Tetley zwischen 1973 und 1976 dem
Stuttgarter
Ballett geöffnet.
Identität, Gemeinschaft und Gedächtnis bleiben jedoch
nur durch die rituelle Wiederholung performativer Akte lebendig,
hat der Berliner Ritualforscher Christoph Wulf nachgewiesen. Was
das bedeutet, war in den Schlussmomenten der Gala zu erleben. Den
aufbrandenden Applaus beruhigte Reid Anderson mit einer Armbewegung,
um das wichtigste Ritual zu initiieren, ohne das kein Balletttänzer
der Welt auskommt: den Gang auf die Bühne und die Entgegennahme
des Publikumsapplauses. „Das ist das Stuttgarter Ballett
heute,“ ruft er dem Publikum zu und „jetzt bitte ich
alle Tänzerinnen und Tänzer aus dem Publikum auf die
Bühne, die jemals bei uns getanzt haben“. Auf faszinierende
Weise bildet sich ein vielgliedriger, von Generationen durchmischter,
gemeinschaftlicher Stuttgarter Ballettkörper, der sich mit
jenen verbindet, die von den Stühlen vor ihm aufspringen
und auch jene einbezieht, die nicht gekommen waren. Alexandra
Karabelas
Internationale Ballettdirektorenkonferenz trifft
sich in Stuttgart
Nein, ein Communiqué zum Abschluss gab es
nicht. Dafür war, so gewann man den Eindruck, die Zeit viel
zu kurz. Nur knapp vier Stunden standen der Internationalen Ballettdirektorenkonferenz
zur Verfügung, zu der Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter
Balletts, am 12. Februar im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen
Bestehen der Compagnie ins Stuttgarter Kammertheater eingeladen
hatte. Aus dem von Vivien Arnold moderierten Erfahrungsaustausch
konnten dennoch einige Ergebnisse und Erkenntnisse festgehalten
werden, die vor allem eines zeigten: Das klassische Ballett behauptet
sich wegen seines hohen Institutionalisierungsgrades weltweit als
der Hegemon unter den Tanzrichtungen. Gleichwohl sind, wenn auch
aus unterschiedlichen Gründen, die Compagnien weiterhin kontinuierlich
gefordert, ihr Publikum zu halten und aus der jeweils nächsten
jüngeren Generation heraus zu erneuern. Das Konzept des
Symposiums brachte dies deutlich zum Ausdruck.
Nicht weniger als zehn Compagnieleiter saßen auf dem Podium,
politisch korrekt aufgeteilt in fünf Direktorinnen und fünf
Direktoren. Gemeinsam repräsentierten sie nahezu alle Weltregionen,
in denen Ballett getanzt wird: Europa, die USA, Kanada, Südamerika,
Australien, Asien und Russland. Jeder stand dabei auch für
ein eigenes Finanzierungssystem. Dominierte bei den europäischen
Ballettcompagnien die Finanzierung durch staatliche Gelder, wurde
einmal mehr deutlich, wie sehr die Leiter der nordamerikanischen
Compagnien damit beschäftigt sind, einen großen Teil
des Budgets durch Fundraising, Kartenverkauf und bei privaten
Geldgebern zu besorgen.
Auffallend: Mit John Neumeier vom Hamburg Ballett
saß der
einzige Intendant mit in der Runde, der seiner Compagnie auch als
ihr Chefchoreograf vorsteht. Seine Perspektive auf die anstehenden
Herausforderungen in den kommenden fünf Jahren war denn auch
deutlich von seiner Position als Künstler geprägt. Er
beobachtet eine „Rennaissance des Balletts“ und unterstrich
die Notwendigkeit, die Kunstform des klassischen Balletts aufrechtzuerhalten.
In dieselbe Richtung fasste Marcia Haydée, seit 2003 Direktorin
des Ballet de Santiago, ihre Anstrengungen zusammen. Die Suche
nach und Förderung von Choreografen gelte ihr persönlich
als wichtigstes Ziel. Welch harte Arbeit hinter diesen Herausforderungen
steckt, wurde aus ganz anderer geographischer Perspektive durch
die Beiträge von David McAllister vom Australien Ballet und
Feng Ying, Direktorin des Chinesischen Nationalballetts, beleuchtet.
Beide müssen sich mühsam in kulturellen Umfeldern behaupten,
in denen andere Akzente gesetzt werden: Ist es in Australien die
Sportbegeisterung , die dem Ballett Konkurrenz macht, so sind es
in China die traditionellen chinesischen darstellenden Künste,
die beim Volk sehr beliebt sind. Sich gegenüber ihren Geldgebern
behaupten müssen wiederum Direktoren wie Karen Kain vom National
Ballet of Canada und Kevin McKenzie vom American Ballet Theatre
in New York. Obwohl sie auf eine weitaus stärker ausgebreitete
Geberkultur treffen, als dies in Europa der Fall ist, wo die Steuern
zahlende Allgemeinheit für die Hauptfinanzierung der Compagnie
aufkommt, nimmt die Suche nach Sponsorengeldern und Fundraising
breiten Raum ein. Der erwartete wirtschaftliche Ertrag beeinflusst
denn auch weitaus stärker die Gestaltung der Spielpläne
als dies in Europa der Fall ist. Darüber hinaus macht es die
Auseinandersetzung damit, wie die neuen Kommunikationsmittel für
die eigenen Ziele genutzt werden können, dringender.
Die Kehrseite einer zurückhaltenden Geberkultur und vor allem
die Bedeutung der Abhängigkeit von politischen Entscheidungsprozessen
machte Reid Anderson ganz konkret zum Thema seines Beitrags. Im
Vergleich mit den anderen internationalen Ballettcompagnien, von
denen die meisten über eine gute Ausstattung wie große
Probensäle, eine ausreichende medizinische Betreuung und angemessene
Bauten für die angegliederten Ballettschulen verfügen,
fiel der von Anderson geschilderte Missstand in Bezug auf das
lange Warten auf den Neubau der Stuttgarter John Cranko Schule
noch deutlicher
auf.
Wie schnell es dabei gehen kann, dass eine Ballettcompagnie
in ihrem Bestand grundsätzlich bedroht ist, verdeutlichte das
Beispiel des Königlichen Balletts Flandern. Kathryn Bennetts
erzählte von ihrem Kampf gegen die neue Regierung, um die
geforderten Einsparungen zu verhindern. Nicht zuletzt ihr Bericht
verstärkte den Eindruck, dass Ballett auch auf höchster,
glamourösester Ebene eine Kunst ist, die ganz schnell bedroht
sein kann.
Alexandra Karabelas
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