Nun ist es also da, das mit Spannung erwartete Urteil des Bundesarbeitsgerichts
(BAG) zur Honorierung der Chorsoli in „Idomeneo“ und
der Soli in „Leben in unserer Zeit“. Dass das Urteil
im konkreten Einzelfall für die Künstler negativ ausgefallen
ist, dürfte sich herumgesprochen haben und soll hier nicht
weiter kommentiert werden.
Von weitreichender Bedeutung ist jedoch die Frage,
ob das Urteil – genauer
gesagt, dessen Begründung – neue Antworten auf die allgemeinen
Abgrenzungsfragen zu solistischen Leistungen von Chormitgliedern
gebracht hat, ein Thema, das ständig zu zermürbenden
Auseinandersetzungen zwischen Künstlern und Finanzverantwortlichen
führt. Um es vorwegzunehmen: Es bleibt sie schuldig. Das BAG
drückt sich mit fadenscheinigen Begründungen um eine
eigene Wertung und begnügt sich im Ergebnis mit der Feststellung,
die Entscheidung des Bühnenoberschiedsgerichts (BOSchG), bei
den bis zu 50 Takte langen Solopassagen handle es sich um „kurze
solistische Gesangsleistungen“ im Sinne des NV Bühne,
sei nicht zu beanstanden. Dabei wird implizit die Auffassung des
zahlungsunwilligen Arbeitgebers und des BOSchG als ebenso rechtsfehlerfrei
dargestellt wie die der klagenden Arbeitnehmer und des BSchG – fauler
kann man sich kaum aus der Affäre ziehen; im Hinterkopf klingelt
irgendwo der Begriff „Rechtsverweigerung“. Die
juristische Herleitung des Ergebnisses mag in großen
Teilen handwerklich sauber sein; ihre Analyse soll aber an anderer
Stelle erfolgen. Bemerkens- und kommentierenswert ist allerdings,
dass die Entscheidung wesentlich auf das Grundrecht der Kunstfreiheit
gestützt wird, die einen „eigengesetzlichen Freiraum“ beinhalte,
der staatlichen Einfluss, also auch den staatlicher Gerichte wie
des BAG u. a. bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe – wie
dem der „kurzen solistischen Gesangsleistung“ oder
der „kleineren Rolle oder Partie“ – weitgehend
ausschließe.
Das klingt theoretisch gut, aber kann die Kunstfreiheit es gebieten,
Künstlern Teile ihrer Gage vorzuenthalten? Ist denn ein Bühnenoberschiedsgericht
eher Träger der Kunstfreiheit als eben diese Künstler?
Schützt eine solche Argumentation hier nicht vor allem diejenigen
Finanzverantwortlichen, die die Mittel für die professionelle
Kunst immer weiter herunterfahren wollen, vor der Forderung der
Kunstschaffenden, aus ihrer Tätigkeit auch ihren Lebensunterhalt
bestreiten zu können? Richtet sich diese Deutung nicht letztlich
gegen ihr Schutzgut – die Kunst?
Natürlich braucht die Kunst regelungsfreie Räume, nämlich
da, wo es um ihr Entstehen geht. Und in einem so komplexen Geflecht
des Entstehens von Kunst wie einem Theaterbetrieb muss sich dies
im Einzelfall auch im Interesse des Ganzen gegen den einzelnen
beteiligten Künstler richten können, etwa wenn es um
Art und Umfang seiner Mitwirkungspflicht geht. Unter dem Aspekt
der Vergütung der künstlerischen Leistung aber fordert
der Grundrechtsschutz, sofern er hier überhaupt greift, allenfalls
eine Begrenzung nach unten, wie es sie im Urheberrecht seit jeher
gibt; eine Begrenzung nach oben jedoch ist – jedenfalls unter
Berufung auf die Kunstfreiheit – schlichtweg absurd.
Richtig ist, dass allgemeine Gerichte in künstlerischen Fragen
Vorsicht walten lassen sollten, einfach weil sie gar nicht über
die notwendige Sachkunde verfügen können (Ob im konkreten
Fall das BAG Takte mit zu singenden Tönen verwechselt hat,
wenn es unterstellt, 50 Takte seien in demselben Sinne „kurz“ wie
in der früheren Regelung des NV Chor 5 Worte, wird nicht zu
klären sein.). Aus diesem Grunde haben die Tarifparteien des
NV Bühne ja gerade die Bühnenschiedsgerichtsbarkeit vorgeschaltet,
die den Löwenanteil der Streitfälle pragmatisch einer
sachnahen Entscheidung zuführt. Ist jedoch wie hier eine vorwiegend
juristische Grundsatzfrage aufgeworfen, so haben die Parteien gerade
in einer Revisionsinstanz einen Anspruch auf vertiefte sachliche
Befassung.
Schon zeichnet sich ab, dass Arbeitgeber, möglicherweise ermuntert
vom Deutschen Bühnenverein, das Urteil zum Vorwand nehmen,
die gesonderte Honorierung solistischer Leistungen von Chormitgliedern
gänzlich einzustellen und damit das fragile Gleichgewicht
eines ohnehin von teilweise zwanghaften Kompromissen geprägten
Vergütungssystems zu gefährden. Sollte es wirklich dazu
kommen, wäre ein massiver Tarifkonflikt vorprogrammiert. Und
dabei könnten dann sehr grundsätzliche Erwägungen
eine Rolle spielen wie etwa der Ersatz des unsinnigen, streitträchtigen
und verwaltungsaufwendigen Systems der Zusatzvergütungen durch
eine angemessene Grundvergütung, die alle zu erbringenden
Leistungen einschließt – so würde Kunstfreiheit
sowohl der Theater als auch der in ihnen arbeitenden Künstler
gewährleistet! Tobias Könemann
|