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In Deutschland angekommen
Über die Entwicklung des Genres Musical · Von Malve Gradinger Das
U-Genre Musical – fester Bestandteil unserer Kulturszene?
Jedenfalls erlebt man es als Tournee-Produktion gastspielweise
oder jahrelang „en suite“ gespielt in eigens gebauten
großen kommerziellen Musical-Theatern und, ja, auch in etablierten,
so genannten seriösen Theatern. Die Uraufführung von „Hinterm
Horizont“ nach dem Leben und mit Liedern von Udo Lindenberg
wurde zu Jahresbeginn im Berliner Theater am Potsdamer Platz euphorisch
gefeiert. Knapp einen Monat später konnte man am Bayerischen
Staatstheater am Gärtnerplatz „Grand Hotel“ nach
Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel“ sehen, womit
Münchens zweites Musiktheater seit 2008/09 bereits sein viertes
großes Musical herausgebracht hat. Längst also ist hierzulande
und in Österreich das ursprünglich anglo-amerikanische
Genre Musical in den Zwei- und Drei-Sparten-Häusern angekommen.
Im Bewusstsein des Nachholbedarfs nach dem Zweiten Weltkrieg waren
schon ab den 1950er-/60er-Jahren einige Theater an deutschsprachigen
Erstaufführungen und eigenen Produktionen besonders interessiert,
darunter das Münchner Gärtnerplatztheater – dort
zum Beispiel 1956 Cole Porters „Kiss me Kate“ in Marcel
Prawys deutscher Fassung, mit Johannes Heesters und Lola Müthel –,
die Wiener Volksoper, das Theater an der Wien, das Berliner Theater
des Westens, das Hamburger Operettentheater und das Münchner
Deutsche Theater. Und jetzt in Zeiten knapper Kassen setzen die
Intendanten, wie schon in der Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre,
wiederum auf die leichtere Muse – das Musical.
Breites Formen-Spektrum
Aber ist das „Musical“ tatsächlich nur und ausschließlich
ein leichtes, ein reines Amüsier-Spektakel? Im frühen
19. Jahrhundert, bei seinen „Vorgängern“ Burleske,
Melodram, Vaudeville, Minstrel-Show (ab 1800 waren die „Negro
Minstrels“ beliebt, eine Art Varietétheater, in dem
Weiße die Musik und den Tanz der schwarzen Amerikaner nachahmten
und parodierten), bei Music Hall und schlecht übersetzten
französischen Operetten, mag das wohl der Fall gewesen sein.
Aber gerade die Buntheit dieser Bühnenformen, die Musik, Tanz,
Stepptanz, Pantomime, Parodie, Revue, Akrobatik und Zirkus integrierten,
machte die Entwicklung zum Musical erst möglich. Während
in Europa die Trennung und Eigenständigkeit von Musik-, Tanz-
und Sprechtheater eiserne Tradition war, hatte das kulturell-gesellschaftlich
offenere Einwanderungsland Amerika kein Problem damit, die verschiedenen
Gattungen zusammenzuwerfen.
Als erste Produktion, die dem Musical-Konzept einer mit Musik
und Tanz plausibel erzählten Geschichte entspricht, gilt „The
Black Crook“ („Der Gauner in Schwarz“) (von Barras,
Operti, Bickwell, Kennick), das 1866 am New Yorker Broadway uraufgeführt
wurde und, trotz seiner Länge von über fünf Stunden,
auf 474 Vorstellungen kam. Solche Besucher-Rekorde erreichten in
London in den 1870er-/80er-Jahren vor allem die „Comic Operas“ des
Texter-/Komponisten Duos W. S. Gilbert und Arthur Sullivan, die
auch in New York emsig nachgeahmt wurden. Bis in die 10er-Jahre
des 20. Jahrhunderts ist tatsächlich noch ein gewisser Einfluss
der englischen Theaterkultur zu verzeichnen. Danach entwickelt
sich das US-(Bühnen-)Musical selbständig, indem es zum
einen – mit Erfindung des Tonfilms ab 1927 – Anregungen
aus Hollywoods Filmmusicals aufnimmt, zum anderen neue Musikstile
wie Ragtime, Jazz, Rock und (Ethno-)Pop. Und natürlich auch
neue Tanztendenzen, vom Jazz- und Modern-Dance bis zu den zeitgenössischen
freien Tanzformen, die osmotisch Elemente aus Breakdance, Akrobatik
und der kleinteiligen Tanztheater-Gestik assimilieren. Auch inhaltlich
zeigte sich das Musical offen für alle möglichen Themen,
für Historisches und Aktuelles, Heiter-Komisches und Tragisches.
Heiterkeit, illusionistische Unbeschwertheit bestimmten die Musicals
in den „Roaring Twenties“, in der Depression und in
den düsteren Zeiten des Ersten Weltkriegs. Einem verständlicherweise
zerstreuungshungrigen Publikum boten Veranstalter und Theater tanz-
und melodienreiche, üppig ausgestattete revuehafte Produktionen
mit eher dürftiger Handlung. Beispielhafte Musicals aus dieser
Periode sind „No, No, Nanette“ (Buch: Harbach/Mandel,
Musik: Vincent Youmans), „Lady Be Good“ (Buch: Bolton/Thompson,
Musik: George Gershwin), beide von 1924, und „Funny Face“ (Buch:
Smith/Thompson, Musik: George Gershwin) von 1927. Wenn die Handlung
sich hier auch nur um komödienhafte, immer glücklich
endende Beziehungsintrigen dreht, so waren diese Musicals handwerklich
gut gemacht und wurden mit Stars wie Fred Astaire und seiner Schwester
Adele, beide in den Gerswhin-Musicals, zu Dauerbrennern. Auf jeden
Fall hatten sie eine musikalische Qualität dank Komponisten
wie Youmans, Gershwin – für den sein Bruder Ira die
Gesangstexte schrieb – wie Cole Porter, Richard Rodgers und
Jerome Kern. Menschliche Geschichten
Mit „Show Boat“ (1927) von Kern und Oscar Hammerstein
II – von ihm Buch und Gesangstexte nach Edna Ferbers gleichnamigem
Roman – war, wie Historiker
erklären, eine Musical-Form erreicht, in der sich zum ersten
Mal Musik, Songs und Tanznummern ganz in den Dienst der Geschichte
stellten, einer Geschichte, in der es zwar um Liebe geht, aber
im Kontext ernster Beziehungsprobleme, menschlicher Schwächen
und Rassendiskriminierung. Der Erfolg von „Show Boat“ inspirierte
im Folgenden Komponisten und Librettisten zu thematisch belangvollen,
auch gesellschaftskritischen Musicals. So war „Of Thee I
Sing“ (1931) von George und Ira Gerswhin zum Buch von G.
S. Kaufman und M. Ryskind eine schreiende politische Satire unmittelbar
auf das Amerika der 1930er-Jahre mit seinen ausgeklügelten
Wahlkampfpraktiken, Schönheitswettbewerben und der kulthaft
hochgehaltenen Ehe. „Oklahoma!“ (1943) von Rodgers
und Hammerstein II war nach „Show Boat“ der zweite
große Meilenstein in der Entwicklung des perfekten Musicals,
in dem Musik, Gesang und Tanz ausschließlich auf das Vorantreiben
einer menschlich und gesellschaftlich relevanten Geschichte fokussiert
waren. Die dafür engagierte bekannte Choreografin Agnes de
Mille benutzte damals schon neben Tanzvokabular auch Alltagsbewegungen,
welche die Personen – im Eifersuchtsstreit liegende Cowboys
und Farmer – realistischer, wahrhaftiger machten. Spätestens
jetzt war es selbstverständlich, dass das Genre Musical ganz
ohne Nummerncharakter, ohne operettigen Schmalz auskommen, im Gegenteil
ernsthafte, ja sogar tragische Themen verhandeln konnte. Von Rodgers zu Abba
Frühe Beispiele sind, unter anderen, die mit verschiedenen
Librettisten entstandenen Rodgers-Musicals „Carousel“ (1945), „The
King and I“ (1951), „The Sound of Music“ (1959)
und „South Pacific“ (1949), letzteres nach James Micheners „Tales
of the South Pacific“, das sich über seine Handlung
gegen Kolonialismus und Rassenvorurteile und implizit für
die Rechte und Selbständigkeit der Frau ausspricht. In der
Hippie-Ära mit seiner sexuellen Befreiung spiegeln Musicals
wie „Hair“ (1967) direkt die gesellschaftlichen Veränderungen,
von freier und homosexueller Liebe bis zur Kritik der Jungen am
Vietnamkrieg. Thematisch gibt es kein Tabu mehr. Und auch die verschiedensten
Formen und „Macharten“ sind möglich: Es gibt Ballett-nahe
Musicals wie „On your toes“ (1936), für das der
große Neoklassik-Meister George Balanchine choreografierte;
Rock-betonte Musicals wie Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ
Superstar“ (1971) und Opern-nahe wie sein „Phantom
der Oper“ (1986). Musicals werden geschrieben nach literarischer
Vorlage oder nach einer Vita, wie beispielsweise die Produktionen
zu dem österreichischen Popsänger Falco, dem bayerischen
Märchenkönig Ludwig II. und Argentiniens Evita Perón. „A
Chorus Line“ wurde entwickelt aus einer von Choreograf Michael
Bennett initiierten Gruppentherapie-Sitzung. Und entlang von Songs
der berühmten Popgruppen ABBA und Queen erfanden geschickte
Autoren die Handlung für „Mamma Mia!“ (1999) und „We
will Rock You“ (2002). Musical und Pop
Eine so breite Palette von Stilen und Inhalten stellt hohe Anforderungen
an die Ausführenden. Obendrein ist die Konkurrenz groß,
wie Nunzio Lombardo, zwölf Jahre Musical-Darsteller im Londoner
West End, bestätigt: „Als ‚West Side Story‘ wieder
im West End gespielt wurde, haben 6.000 Darsteller aus ganz Europa
vorgesprochen. Außerdem werden regelmäßig Mitwirkende
ausgemustert, weil die Qualität nachlässt. Bei ‚Cats‘,
das 21 Jahre lief, gab es jedes halbe Jahr eine Audition und einen
Wechsel in der Besetzung. Eine Show wie ‚Cats‘ konnte
man ohnehin nur zwei Jahre machen, weil man ab da rentenberechtigt
gewesen wäre – was die Show-Leitung so umging.“ Seit
2010 gibt der gebürtige Italiener seine Kenntnisse in seiner
eigenen Schule, den Münchner Performing Arts Studios, weiter: „Über
die Basis, also Gesang, Schauspiel, Ballett-, Jazz- und Tapdance-Technik,
hinaus ist im Musical eine Flexibilität im stilistischen Detail
gefordert: ‚West Side Story‘ nach der Vorlage von ‚Romeo
und Julia‘ ist sehr realistisch angelegt, mit Tanzszenen,
die in Kampf übergehen. Da musst du ein guter Kämpfer
sein. ‚Cats‘nach T. S. Eliots Katzengedichten für
Kinder ist eine Fantasiegeschichte, in der du dich in tierähnliche
Bewegungen einfühlen musst. Und eine Pirouette aus dem Ballett-Vokabular
kann entweder sehr klassisch oder verschrägt sportlich ausgeführt
werden, je nach Stil und Inhalt des Musicals. Genauso in der Musik.
Die Färbung einer Note, einer Melodie muss die Story widerspiegeln.“ Das
Charakteristische am Musicalgesang erklärt der Experte so: „Man
muss beides singen können, den klassischen Gesang und Pop.
Und die Verschmelzung der beiden Techniken bringt dich auf eine
neue Ebene. Du singst, während du flüs-terst oder schreist.
Du beginnst eine Szene als Schauspieler, du redest, und in gleitendem Übergang
wird deine Rede zum Lied, und dann geht es auch wieder zurück
zum nur gesprochenen Wort. Wenn du einen Song lernst, lernst du
ihn erst technisch korrekt zu singen, mit dem richtigen Stimmvolumen.
Ein Schauspiellehrer hilft dir dann, den Song quasi zu sprechen.
Und der Regisseur sagt dir, was du darstellen, was du fühlen
musst. Als Künstler musst du allerdings deinen eigenen Weg
finden.“ Und wie führt man Studenten dahin? „Wenn
unsere Ausbildungsschüler die Grundlagen beherrschen, ermutige
ich sie, frei zu werden, ganz sie selbst zu sein. Nur dann wird
sich die Technik in Magie verwandeln.“
Malve Gradinger
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