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Abrechnung mit der Romantik
Mauricio Kagels „Aus Deutschland“ in Freiburg · Von
Frieder Reininghaus Mauricio Kagels Liederoper „Aus Deutschland“, uraufgeführt
1981 an der Deutschen Oper Berlin, eröffnet nicht nur den
Erinnerungen an den Weimarer Dichter und Geheimen Rat Goethe Auftrittsmöglichkeiten,
sondern auch dem sexuell frustrierten Komponisten Franz Schubert
(„Du holde Kunst“) oder Heinrich Heines „Zwei
Grenadieren“ und der blond-weiblichen „Dichterliebe“ („Ich
grolle nicht“). Adelbert von Chamissos „Kartenlegerin“ konkurriert
mit Friedrich Hölderlins „Hyperion“ und noch einigen
weiteren Figuren aus der Tiefe des deutsch-österreichischen
Bildungsraums. Carl Loewes „Edward“ demonstriert, in
wie hohem Maß die Balladen des 19. Jahrhunderts allemal Opern
im Kleinformat waren. Die historischen Lieder erscheinen in Kagels
Opus allerdings konsequent ohne die „Original“-Musik,
da es ihm vor dreißig Jahren um die kritische und ironische
Reflexion der Klavierlied-Tradition ging. Der 2008 gestorbene,
1931 in Buenos Aires geborene Kölner Komponist lieferte eine
Art „Radierarbeit“, wie sie immer wieder auch in der
Bildenden Kunst vorkam: die Reproduktionen von Teilen „klassischer“ Werke
wurden unsichtbar (in diesem Fall: unhörbar) gemacht und zum
Ausgleich mit neuen „Schichten“ überlagert.
Rebecca Ringst hat sechs Fachwerkhäuschen auf die Bühne
des Freiburger Theaters bauen sowie mit Girlanden von Glühbirnen
versehen lassen. So wird winterliche Idylle im mittelalterlichen
Kern von süddeutschen Kleinstädten illuminiert. Wilhelm
Müllers Leiermann, unsterblich geworden durch Schuberts „Winterreise“,
setzen die ausgiebig heulenden Hunde zu. Schwarzwaldmädel
gehen auf den Balkonen in Stellung als Drohung und Verheißung
zugleich. Irgendwie also wird auch jetzt im Breisgau „Romantik“ verhandelt
und verschandelt. Bald auch das Ende der grotesk konservierten „besseren“,
aber leider längst vergangenen Zeiten. Goethes Ruh’ ist
hör- und sichtbar dahin. Neal Schwantes, der Darsteller des
erotisch aktiven Dichterfürsten, schlägt in einem Anfall
von Jähzorn ein paar Füllungen aus den Fachwerkrahmen.
Und der verhaltensgestörte Edward aus der Loewe-Ballade massakriert
seine Mutter. Gabriel Urrutia, der sich auch als Grenadier auf
den Russlandfeldzügen Napoleons und der deutschen Wehrmacht
bewährt, erledigt das, indem er sie mit dem unhandlich großen
Schwert melodramatisch vom Unterleib her aufschlitzt.
Mit feinsinniger Erörterung der Historizität des Klavierlieds
und neuerlichem Vermessen einer imposanten Klavierlandschaft hat
Calixto Bieito nichts im Sinn. Er nutzt die kleingliedrige Szenenfolge
für ein grell aufgemöbeltes Lustspiel, das blutig endet.
Zum Kernbegriff Deutschland fällt dem katalanischen Regisseur
außer der Kostümierung des Musikantenstadels nur ein
kometenhaft aufsteigender und höllisch abstürzender Politiker
ein, der als Parodie von Chaplins großem Diktator Hinkel
grüßt und grüßen lässt. Auch ein Dutzend
Gartenzwerge erhebt die rechten Arme zum Hinkelgruß. Einen
trifft der Hammer von Leandra Overmann, die als Moderatorin durch
die Show führt.
Fabrice Bollon sorgt für eine präzise Realisation der
Klavierkammermusik im Graben und die Koordination mit dem (weniger
auf Wohlklang als auf Charakterisierung grotesker Partien hin angelegten)
Singen auf der Bühne. Im großen Interludium „Verzweiflung“ zeigt
die Auswahl aus dem Philharmonischen Orchester Freiburg, wie sehr
sie sich zuvor zurücknehmen musste und konnte. Chorsänger
leisten als de-facto-Solisten auch einen erheblichen Beitrag zum
quirligen Spiel. Die Faktur der Musik kommt in einem relativ kleinen
Haus wie dem an der Bertoldstraße vorteilhafter zur Wirkung
als in so großen Hallen wie der Deutschen Oper Berlin. Zumal,
wenn der Zuschauerraum offensiv als Klangraum genutzt wird. Die
Nacht- und Todesverbundenheit der deutschen literarischen und musikalischen
Romantik, die Kagels Liederoper beschwor und mit neu formatiertem
Kammerton versah, wird von Bieito in eine von Xavier Sabata exzessiv
gestaltete Schreiorgie der Mignon überführt. Das „Nur
wer die Sehnsucht kennt, fühlt, was ich leide“ – Goethes
großer Seufzer führt nicht zu stiller Introvertiertheit,
nobler Stille und Leere, sondern zur Explosion. Bieitos grelle
Episodenfolge, in der die jeweiligen Akteure allemal einfach nur „dran
sind“, mündet mit einer gewissen Konsequenz im Amoklauf
von Freiburg: Leandra Overmann erschießt alle – zu
den Titeln bekannter und vergessener, fortdauernd „gesund-morbider“ und „vergifteter“ Schubert-Lieder: „Leichenphantasie“ und „Freiwilliges
Versinken“, „Letzte Hoffnung“ und „Erstarrung“.
Frieder Reininghaus
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