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Ein primär musikalisches Ereignis
Henzes Konzertoper „Phaedra“ uraufgeführt · Von
Albrecht Dümling Peter Mussbach, der bei früheren Inszenierungen oft eigene
Bühnenbilder verwendete, arbeitet jetzt häufig mit prominenten
Vertretern der bildenden Kunst zusammen. Manche von ihnen sind
Opern-Debütanten wie der jetzt für Henzes „Phaedra“ an
die Staatsoper Unter den Linden engagierte Isländer Ólafur
Elíasson. Entsprechend war es für ihn kein Problem,
ohne Kenntnis der Musik sein Bühnenbild beziehungsweise Raumkonzept
zu entwerfen. Da Henze kein Unbekannter ist, hätte man wissen
können, dass dieser wie kaum ein anderer Komponist vom Primat
der Sprache ausgeht und mit Musik Inhalte vermittelt. Aber der
Regisseur Mussbach versicherte, in „Phaedra“ gebe es „keine
narrative Struktur“. Damit öffnete er Elíasson
das Tor zur Abstraktion und zur Möglichkeit, das Opernhafte
prinzipiell in Frage zu stellen.
Elíasson, der seit 1995 in Berlin ein „Labor für
Raum- und Zeituntersuchungen“ leitet, entwarf für „Phaedra“ ein
Raumkonzept, das opernübliche Hierarchien auf den Kopf stellte:
nicht mehr die Bühne war die Hauptsache, sondern der Zuschauerraum,
nicht mehr die Darsteller, sondern das Publikum. Um „die
Beziehung von Absender und Empfänger neu zu definieren“,
drehte er auch das Orchester um; es spielt nicht mehr vorn im Orchestergraben,
sondern hinter dem Publikum im Parkett. Dem opernüblichen
Primat des Ohres setzte Elíasson die optische Wahrnehmung
entgegen. Passend dazu erblickte man in der Staatsoper Unter den
Linden zunächst nur eine riesige Pupille. Es ist laut Mussbach
die des Opernbesuchers, des „Zuschauers“: „In
jedem Zuschauer ist praktisch die Zentralperspektive als Fluchtpunkt
gebunden.“
Diese Versuchsanordnung, die in der Nachfolge von Nonos „Prometeo“ das
Verhältnis von Bild und Ton thematisieren wollte, war technisch
grandios umgesetzt. In Spiegelwänden erblickte das Publikum
sich und das Orchester. Wenn aber die Protagonisten diese Wände
durchschritten, wurden sie transparent. Leider hatte dieses Konzept
nur wenig zu tun mit den Regieanweisungen und den erzählenden
Momenten in Christian Lehnerts Libretto sowie – last but
not least – der Musik von Hans Werner Henze. Die Inszenierung
ließ die Handlung nur in Umrissen erkennen. Wald- und Jagdszenen
waren nicht einmal angedeutet und die bei Henze individuell behandelten
Figuren so typisiert, so dass man etwa Phaedra und Artemis kaum
unterscheiden konnte. Wie im Vorjahr bei Pascal Dusapins „Faustus,
the Last Night“ berücksichtigte Mussbach den Duktus
der Partitur kaum.
Dass die Uraufführung dieser „Konzertoper“ (so
die von Mussbach allzu wörtlich verstandene Gattungsbezeichnung)
dennoch zum umjubelten Ereignis wurde, lag neben der perfekten
Raumgestaltung vor allem an der Originalität und Durchsichtigkeit
der Partitur sowie am hohen Niveau der Interpretation. Fünf
Gesangssolisten (die überragende Maria Riccarda Wesseling
als Phaedra, Marlis Petersen als Aphrodite, John Mark Ainsley als
Hippolyt, der Countertenor Axel Köhler als Artemis und Lauri
Vasar als Minotaurus), die in Intonation und Textverständlichkeit
Maßstäbliches leisteten, standen dreiundzwanzig Instrumentalisten
des von Michael Boder geleiteten Ensemble Modern gegenüber.
Sie waren häufig als Charakterdarsteller den Sängern
zugeordnet, so das „halbseiden“-sinnliche Saxophon
dem Hippolyt und das Horn der Phaedra. Obwohl zur Paarigkeit von
Instrument und Sänger noch die Doppelung von Mensch und Göttern
hinzutrat, kam es nie zu einer klanglichen Überfrachtung.
Vielmehr herrschte meisterliche Ökonomie und Präzision
der Mittel. Man konnte die Aufführung des 90-Minuten-Werks
also auch – wie einst Bruckner in Bayreuth – mit geschlossenen
Augen als primär musikalisches Ereignis genießen.
Wie der zum Schluss wiedergeborene Hippolyt hat der 81-jährige
Komponist mit diesem jugendfrischen Spätwerk noch einmal zu
unerwarteter Schaffenskraft zurückgefunden. „L’Upupa“,
2003 in Salzburg als „letzte“ Henze-Oper präsentiert,
ist damit noch ein 14. Bühnenwerk gefolgt. Wenn im zweiten
Teil („Am Abend“) die Göttin Phaedra zur Barsängerin
mutierte, hörte man sogar frech-laszive Töne. Um die
autobiographischen Züge zu unterstreichen, hatte Mussbach
dem Hippolyt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Komponisten
gegeben. Der Bühnenfigur im Parkett saß im ersten Rang
sein Alter Ego gegenüber, gefeiert wie schon lange nicht mehr.
Hippolyt – Henze: Dies war die eigentliche Fluchtlinie, die
Konkretisierung des sonst allzu abstrakten Abends.
Albrecht Dümling
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