|

Die schwierige Kunst zu erben
Die Bayreuther „Meistersinger“ · Von Frieder
Reininghaus
Zunächst war man vielleicht geneigt, die Angelegenheit nicht
allzu ernst nehmen zu wollen. Denn es stand nun einmal nicht mehr
zur Disposition als eine deutsche Komische Oper und eine fällige
Verjüngungsmaßnahme, wie sie alle Theater periodisch
unternehmen müssen: eine Neuinszenierung der „Meistersinger
von Nürnberg“ in Bayreuth. Katharina Wagner, eine nachgeborene
Nachfahrin des Urhebers, bemächtigte sich im Auftrag ihres
auf dem Grünen Hügel immer noch geschäftsführenden
greisen Vaters Wolfgang mit jugendlichem Elan der Dreiecksgeschichte
vom Schuster und Poeten Hans Sachs, der Bürgermeister- und
Goldschmiedtochter Eva sowie dem jung-genialischen Junker Walther
von Stolzing. Den begriff die Regisseurin, ebenso wie die Leitfigur
des Sachs, ganz und gar als Künstler der jüngeren Vergangenheit:
Beide rückte der Bühnenbildner Tilo Steffens in ein örtlich
und zeitlich nicht näher bestimmtes Museums-Milieu. Eine stattliche
Galerie von Gipsfiguren klassischer Kulturheroen schmückt
die Umgänge (Wagner und Nietzsche wurden vielleicht nicht
zufällig weit besser getroffen als Bach oder Einstein).
Der transponierende „Kunstgriff“ war nun, gerade auch
in Bezug auf Richard Wagners fragwürdige Helden, alles andere
als originell. Seit den 90er-Jahren konnte man ihn landauf und
landab bewundern. Mit Christoph Marthalers „20th Century
Blues“ (Basel 2000) dürfte diese zunehmend wohlfeile
Methode der „Aktualisierung“ den Höhepunkt erreicht
haben. Zuletzt ließ Philipp Himmelmann den deutschen Libertin
Heinrich Tannhäuser Züge des Dichterkomponisten Richard
Wagner annehmen und die ganze romantische Oper unter freiem Himmel
auf der Wartburg-Waldbühne spielen (Hannover, Januar 2007).
Und selbst beim deutschen Hip-Hop ist die epochale Botschaft des
Joseph Beuys inzwischen angekommen: „Auch du kannst ein Künstler
sein“, tönt z.B. die Berliner Rap-Crew K.I.Z.
Nach dem bereits in der niederdeutschen Provinz Durchdeklinierten
konnte die Erhebung der altfränkischen Meistersinger-Geschichte
in ein auch für kommunalpolitische Zwecke genutztes und mit
Café-Zone ausgestattetes Museum also beileibe nicht mehr
sonderlich innovativ wirken. Aber das Kunstverwahrungs-Ambiente
gibt ein paar Gags her. Der Multi-Tasker Walther von Stolzing – frischwärts
singend Klaus Florian Vogt – kommt im Outfit eines schmalzlockigen
Popsängers von dort, woher ein aufmüpfiger Szene-Künstler
heute eben so einsteigt: aus dem in einer rückwärtigen
Nische wartenden Flügel. An dem simuliert er auch alsbald
seine erste große Gefühlswallung für Eva, als wäre
er der große Musikerotomane Franz Liszt persönlich.
Die Angebetete und ihre Vertraute Magdalene reiben sich in der
Nische nebenan die pummeligen Gesäße (bei Wotan, man
wünscht sich spontan, dass die beiden rothaarigen Frauen auf
einem halbwegs aktuellen Liebesmarkt nicht nur etwas vorteilhafter
aussähen, sondern dass Amanda Mace und Carola Guber auch ihren
Gesangspartien gewachsen wären).
Die Verluste durch die Milieu-Verschiebung wiegen schwer: Der
Tauf-Choral in der Katharinenkirche bleibt so funktionslos wie
fast die ganzen Wagner‘schen Anspielungen auf das Schusterhandwerk.
Hans Sachs bleibt hier nicht bei seinem Leisten, avanciert nicht
einmal zum modernen Schuhhändler, sondern im offenen Hemd
zum frei schwebenden Intellektuellen mit altmodischer Schreibmaschine.
Außenseiter ist er vor allem als Kettenraucher (zum Qualmen
muss der auch ansonsten mit der Kehle überforderte Franz Hawlata
allemal austreten). Die Meister schlurfen als Bürokraten zum
großen Tisch im Museums-Foyer; sie blättern in Vereinsunterlagen – demonstrativ
uninteressiert an Walthers hochfahrender Selbstdarstellung, bei
der dieser auch drei große Bilder aus seiner Produktion quer über
die Tischplatte ausrollt.
Während der Kritiker Beckmesser ein für Fünfjährige
geeignetes Puzzle mit der Stadtansicht von Alt-Nürnberg korrekt
zusammenfügt, steht der Lösungsversuch Walthers auf dem
Kopf. Ob damit bereits tiefgründig auf einen von Ernst Bloch
1965 publizierten Gedanken verwiesen wurde, nach dem der prinzipiell
regelkundige, aber nach nächtlicher Prügelei von der
Prüfungssituation beim Preisliedsingen augenscheinlich überforderte
Beckmesser am Ende so etwas liefert wie „ersten Dadaismus
oder was sonst an Wortlaboratorien anging“ (also insgeheim
und ohne Vorsatz der „eigentlich“ Moderne im verquasten
Kunstdiskurs der „Meistersinger“ sei), kann dahingestellt
bleiben. Denn die Conclusio des klugen Textes zu Sachsens Gratwanderung
blieb gänzlich unberücksichtigt. So muten die – offenkundig
von Christoph Schlingensiefs naiv-raffinierten Bildmassierungen
inspirierten – Regie-Aperçus zu Wagners Poetologie
ebenso zufällig und fahrig an wie die womöglich kritisch
gemeinten Andeutungen zur Rezeptionsgeschichte der nicht nur in
größeren deutschen Zeiten als Inaugurationsstück
in Beschlag genommenen „Meistersinger“.
Sachs und Walther wirken bei Katharina Wagner schließlich
auf fatale Weise an der – von einer wuchtigen Tribüne
getragenen – Erhebung der deutschen Meister vor abendkleiduniformiertem
Vernissage-Publikum mit, Sachs gar als ein in totalitäres
Licht gerückter Tribun. Beckmesser hingegen lockert sich alternativ.
Er setzt sich, im T-Shirt mit dem Aufdruck „Beck in Town“,
als Aktionskünstler dem bürgerlichen Hohngelächter
aus: Ein dem Müllcontainer entsteigender nackter Statist zerstört,
womöglich als sein Alter Ego, eine Eva-Puppe; Beckmesser selbst – der
stimmlich wie in der ihm zugemuteten Rolle überragend agierende
Michael Volle – nestelt Schlauch (oder Schlange) aus dem
Reißverschluss seiner Hose. Der Rollentausch zwischen den
Protagonisten unbotmäßigen und angepassten Künstler-Seins
hatte sich mit der johannisnächtlichen „Prügelfuge“ angedeutet.
Ansonsten regnet es da Turnschuhe, reichlich Farbe kleckert und
die Gipsbüsten setzen sich zu karnevaleskem Treiben, zum Zusammenprall
der Künste in Bewegung. Im dritten Aufzug, nun in drastisch
modernisiertem Galerien-Ambiente, werden sie – Hallo Wahn! – als
aufgedunsene Gespenster zum Alptraum für den aus der Spur
laufenden Sachs.
Sebastian Weigle hatte als Dirigent in dieser Produktion keinen
leichten Stand. Er leitete ein Orchester, dessen Mitglieder nun
einmal nicht so perfekt aufeinander eingespielt sind wie die Wiener
Philharmoniker an guten Tagen der Salzburger Festspiele oder die
Berliner beim sommerfrischen Abstecher zur „Walküre“ nach
Aix-en-Provence. Vielleicht ist die Zeit einer Ad-hoc-Orchester-Konstruktion
wie die der Wagner-Festspiele insgesamt abgelaufen (aber es mag
noch ein paar Jahre dauern, bis die Bayreuther Provinzialität
größere Teile der Pilger verdrießt). Auch die
Verantwortung dafür, dass die Inszenierung sich dem werkimmanenten
Schustern so wenig stellt wie sie mit den – in Wort und Ton
emphatisch verhandelten – Fragen der Liebe etwas anfangen
will, geht nicht auf Weigles Konto. Der Umstand aber, dass der
Zuschnitt der Tonspur und das Konzept der Inszenierung so wenig
korrespondieren, lässt so manche detaillierte musikalische
Liebesmüh ins Leere laufen und insgesamt keinen prägenden
musikalischen Eindruck zurück.
Der Schluss bleibt auf problematische Weise unbeholfen: Die im
Verbund mit der ungebrochen apologetisch weitertönenden Musik
so positiv auf den erhabenen Effekt zielende 70 Tonnen schwere
Stahlkonstruktion fährt die Choristen hoch. Nach längst
eingebürgertem Standard wurde ihnen die szenische Individualität
geraubt und eine amorphe Masse vorgeführt (man mag diese Entpersönlichung
hier als bloße Gedankenlosigkeit abbuchen und nicht als dreiste
Anspielung auf die reichsseligsten Zeiten der Geschichte jenes
Theaters, das die Regisseurin im Zustand der Gnade einer späten
Geburt bedienen darf): Die Festwiesen-Kirmes wird zur Bambi-Preisverleihung,
wobei das Rehlein zum veritabel röhrenden Hirsch avanciert.
Der Scheck der Nürnberger Bank prangt telegen und die Protagonisten
erstarren zum goldgerahmten Familienbild.
Unübersehbar bleiben bei dieser Produktion die Schwierigkeiten
mit der Kunst zu erben. Unbedenklich nimmt sich Katharina Wagner,
offensichtlich eine ästhetische Rossnatur, aus dem Fundus
des Regie-Theaters, was – vor den Augen eines weithin mit
radikaleren Theater-Modellen nicht vertrauten Publikums – die
Handlung noch einmal kräftig aufmischt. Sie spielt mit dem
anderswo vor einiger Zeit noch Skandalträchtigen (aber noch
nicht einmal kräftig antiautoritär aufbegehrend). Dann
rafft sie sich zu einer milden Travestie der schönen neuen
Medienwelt auf und hilft ihrer Kundschaft mit deren ambivalent-schönen
Bildern „gute Geister bannen“. Ihr Urgroßvater
hätte sich womöglich über solche Wirkung ohne tiefere
Ursache mokiert. Die Frau, die sich anschickt, das Zepter auf dem
Grünen Hügel zu übernehmen, weiß oder wittert,
dass sie nicht „ohne Meister selig“ werden kann. Immerhin
das.
Frieder Reininghaus
|