Früher als die anderen „neuen“ Bundesländer hatten Brandenburg und der Freistaat Thüringen feststellen müssen, dass sie nach dem – einigungsvertragswidrigen? (aber lassen wir das!) – Auslaufen der subsidiären Kulturfinanzierung durch den Bund nicht mehr in der Lage seien, ihre Kultureinrichtungen, vor allem ihre Theater und Kulturorchester im angemessenen Umfang zu subventionieren. Während Brandenburg als Konsequenz weitgehenden Kultur-Kahlschlag betrieb, ging Thüringen bedächtiger vor. Gleich zwei mal wurden Sachverständigenkommissionen berufen: Die 1993 eingesetzte Ministeriumskommission befasste sich mit den Theatern in der Region und sparte wohlweislich das heiße Eisen Erfurt/Weimar aus, die 1996/97 tagende „Everding-Kommission“ forderte eine weitere kostensenkende Überprüfung der Beschlüsse von 1993, auch im Hinblick auf die bereits vollzogenen Betriebsfusionen (Altenburg/Gera, Eisenach/Saalfeld/Rudolstadt, Nordhausen/Sondershausen) und tastete sich an den Traum des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, an das Landeshauptstadt-Opernhaus heran: Das Theater Erfurt und das nur 25 Kilometer entfernt liegende Deutsche Nationaltheater Weimar zu einem zu zwei Dritteln vom Freistaat Thüringen finanzierten Staatstheater zusammenzuführen, lautete die Empfehlung. Im Konkreten blieb die Kommission sehr allgemein: Ein Dreisparten-Theater mit einem Ensemble und einem Orchester unter zentraler Verwaltung sollte zwei Häuser bespielen. Wer? Wo? Für wen? – Das alles blieb schon deshalb offen, weil Weimar 1999 als Kulturhauptstadt ein Rühr-mich-nicht-an war. Fehler: Entscheidungen am Grünen TischInsbesondere der Everding-Kommission und damit ihren Empfehlungen hafteten prinzipielle Fehler an: Sie arbeitete am Grünen Tisch und ohne substantielle Beteiligung der betroffenen Kommunen und Theater, sie setzte sich nur aus hochrangigen „Wessies“ zusammen, die offensichtlich willens waren, sich über bestimmte historische und soziokulturelle Gegebenheiten hinwegzusetzen, und sie vermied es geflissentlich, die Beschäftigten der Theater und deren Vertretungen zu hören. Wie schon die erste Kommission sah sie die Lösung der Probleme in Fusion und Personalreduzierung: Rund 230 der 830 Beschäftigten sollten abgebaut werden. „Machbarkeit“ nach Rotstift und RatioKaum war das Kulturhauptstadt-Feuerwerk in Weimar verglüht, ließ die damalige Kulturministerin Dagmar Schipanski sozusagen zentimeterweise die Katze aus dem Sack: Die Zusage des Freistaates, die Theater- und Orchesterförderung, zwar gedeckelt auf dem Stand des Jahres 2003, auch für die folgenden fünf Jahre zu gewährleisten, verknüpfte sie mit der Forderung, jeder Lösungsansatz, die in diesem Zeitraum zu erwartenden Kostensteigerungen aufzufangen, „müsse in Erfurt und Weimar seinen Anfang nehmen“. Die von ihr beim Deutschen Bühnenverein in Köln in Auftrag gegebene „Machbarkeitsstudie“, die die in der Empfehlung der Everding-Kommission fehlenden Konkretisierungen nachlieferte, ließ dann an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig: In einer „Theatergemeinschaft“ in der Rechtsform einer GmbH sollte Weimar allmählich zur Schauspiel-Dependance eines in Erfurt angesiedelten Staatstheaters eingedampft werden.
Regaliendenken, Standortpolitik, Ratio und Rotstift hatten die Theaterpolitik der Ministerin und ihre Studie diktiert – doch nach und nach stellte sich heraus, dass all die schönen Rechnungen ohne die zuständigen Wirte gemacht worden waren. Regierung und Parlament des Freistaates bekamen Angst vor ihrer eigenen Courage und lehnten es ab, in die risikoreiche Trägerschaft eines Thüringer Staatstheaters zu gehen, womit Everding-Empfehlung und Bühnenvereins-Studie faktisch zur Makulatur wurden. Bei den dann dennoch aufgenommenen Fusionsverhandlungen zwischen dem katholisch-preußischen Erfurt und dem evangelisch-thüringischen Weimar trat ein, was zu erwarten war: Weimars Oberbürgermeister Volkhardt Germer musste registrieren, dass seine gerade mal 62.000 Einwohner zählende Stadt, deren trächtigstes Kapital ihre Geschichte und ihre Kultur sind, zu Gunsten der Landeshauptstadt wirtschaftlich und kulturell weiter entkernt werden sollte. Und die Weimarer Bevölkerung, bestens informiert durch ihr Theater und ihre regionalen Feuilletons, begann zu murren, begann zu protestieren, als habe die ungeliebte Erfurter Regierung das Goethe- mitsamt dem Franz Liszt-Haus zum öffentlichen Steinbruch erklärt. Mit dem Aufstand, den Aktionen und Demonstrationen der Bürgerschaft für ihr und mit ihrem Theater nahm das „Wunder von Weimar“ seinen Anfang. Weimarer Modell ohne ModellcharakterUnd dann gab es da seit der Spielzeit 2000/2001 einen neuen Generalintendanten des Deutschen Nationaltheaters Weimar, einen unabhängigen Schweizer namens Stephan Märki, gelernter Fotograf und Schauspieler, der als Leiter eines Presse- und Werbebüros, als Autorennfahrer, Mitbegründer des Münchner Teamtheaters und Intendant des dann teil-abgewickelten Potsdamer Hans Otto-Theaters mit Risiken und deren bewusstem Einsatz umzugehen gelernt hatte. Märki setzte sich an die Spitze aller Bestrebungen, das DNT samt der Weimarer Staatskapelle, dem wohl renommiertesten Kulturorchester Thüringens, als eigenständiges Dreisparten-Haus, allerdings ohne eigenes Ballett zu erhalten. Da er den Deutschen Bühnenverein als Verfasser der „Machbarkeitsstudie“ für befangen hielt, holte er sich Rat von dritter Seite: von der Berliner Kanzlei Hogan & Hartson Raue ließ er sich ein „Konzept für die Umstrukturierung des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar“ entwickeln, das, kurz gesagt, die Errichtung einer tarifungebundenen, also keinem Arbeitgeberverband zugehörenden GmbH vorsah, innerhalb derer haustarifvertraglich Vergütungs- und Arbeitsstrukturen dergestalt zu entwickeln seien, dass das DNT ohne wesentlichen Personalabbau mit den selbst erwirtschafteten Erträgen und den bis 2008 fest zugesagten Zuschüssen des Freistaates und der Stadt Weimar kostendeckend arbeiten könne. Einer staunenden Öffentlichkeit wurde das Konzept als „Weimarer Modell“ vorgestellt, obschon es weder Neues, noch Modellhaftes, noch spezifisch Weimarerisches enthielt: Die Umwandlung eines städtischen Regie- oder Eigenbetriebes in eine gemeinnützige GmbH ist seit Gustaf Gründgens Zeiten etwas häufig Praktiziertes; Haustarifverträge sind, seitdem die Theater allesamt in finanzielle Schieflage geraten sind, sozusagen tarifpolitischer Alltag geworden, und der Versuch einer einseitigen Aufhebung der Tarifbindung funktioniert aufgrund der Verfassungs- und Rechtsordnung nicht. Mit wem sollte denn die neue Weimarer GmbH die im Kanzlei-Konzept ausgedachten Haustarifverträge abschließen, wenn nicht mit den im Haus vertretenen Gewerkschaften? So kam es denn auch. Weimars Stadtrat lehnte im Februar 2002 die Fusionspläne ab, Märki legte im August 2002 einen modifizierten Umstrukturierungsvorschlag vor, das Land gab die angekündigte Finanzierungszusage ab, die GmbH mit der Stadt Weimar als Alleingesellschafter wurde gegründet und bereits im Juni 2003 waren die zwischen den im DNT vertretenen Gewerkschaften und der GmbH ausgehandelten Haustarifverträge unterschriftsreif. Deren wichtigster Punkt ist, dass alle Personalkostensteigerungen bis 2008 automatisch neutralisiert werden, vereinfacht gesagt: Die Bruttolohnsumme pro Beschäftigtem und Spielzeit wird auf dem Stand von November 2002 eingefroren; Personalabbau findet allenfalls im Rahmen der natürlichen Fluktuation statt. Stadt und Theater zeigen sich solidarischZum „Wunder von Weimar“ gehört es, dass die Solidarität der Stadt mit ihrem Theater sich durch die Solidarität der Beschäftigten des Theaters mit ihrer Stadt bezahlt machte, wobei das „Weimarer Modell“ sich wie des Kaisers neue Kleider als Werbemotor der Umstrukturierung trefflich nutzen ließ. Die Gewerkschaften, legitimiert durch den Willen ihrer Mitglieder, sagten sich, dass schließlich der Zweck, nämlich die Erhaltung des DNT und seiner Arbeitsplätze als kulturpolitisches Muss, fast alle Mittel heilige – warum nicht auch ein irreführendes Etikett? Das ein wenig Besorgniserregende des Vorgangs liegt darin, dass der Deutsche Bühnenverein sich selbst dann noch beratend an den Vorbereitungen zur Theaterfusion beteiligte, als die Staatstheater-Idee sich längst als Fata Morgana entpuppt hatte. Er manövrierte sich dadurch so weit ins Abseits, dass die Stadt und das DNT ihn dort stehen ließen. Das DNT ist heute nicht mehr Mitglied im Bühnenverein, obwohl auf haustarifvertraglicher Basis alle von ihm abgeschlossenen Tarifverträge – mit Ausnahme der Gehaltsregelungen – dort weiter gelten. Die Nichtbeteiligung des Bühnenvereins, der Everding-Empfehlung zuzuschreiben, könnte manch politischem Unverstand vorgaukeln, dass es nur der Ausschaltung der Verbände mit ihrem Ordnungswahn oder ihren Machtbehauptungen bedürfe, um zu neuen Ufern zu gelangen. Das Gegenteil ist richtig, will man am neuen Ufer nicht nur „Nessie“ begegnen. Stefan Meuschel |
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