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Magischer Realismus in der Oper

Battistellis „Der Herbst des Patriarchen“ · Von Christian Tepe

Magischer Realismus“ lautete die Zauberformel des Lateinamerika-Booms der 70er-Jahre. Mit ihrer in die Darstellung der politischen Zerrissenheit des Subkontinents hineingewobenen phantastischen, transrationalen Realitätsebene hat die hispanoamerikanische Literatur Fortüne gemacht. Die Affinität dieser Melange aus Politik, Kritik und Sinnlichkeit zur Ästhetik des „unmöglichen Kunstwerks“ Oper dürfte Bremens Impresario Klaus Pierwoß dazu bewogen haben, den italienischen Komponisten Giorgio Battistelli mit der Vertonung von Gabriel Garcia Márquez’ 1975 erschienenem Roman „Der Herbst des Patriarchen“ zu beauftragen. Durch die Figur des sich ständig selbst überlebenden Patriarchen veranschaulicht der kolumbianische Literatur-Nobelpreisträger die lateinamerikanische Spielart der Dialektik von Herr und Knecht. Political Correctness ist dabei Márquez’ Sache nicht: Er präsentiert den Diktator mit ebenso bissigem wie sympathisierendem Humor und verleiht ihm durch einen enzyklopädischen Kosmos von surrealen Personen und Begebenheiten eine mythologische Aura.

 
Herausragend in unbefriedigender Inszenierung: Der Opernchor des Bremer Theaters. Foto: Landesberg
 

Herausragend in unbefriedigender Inszenierung: Der Opernchor des Bremer Theaters. Foto: Landesberg

 

Battistellis vegetativ-biophile Musik beschwört mit feucht-schwüler, sinnenbetäubender Klangpracht die Zeitlosigkeit des ewig verwesenden Tyrannenlebens, in dem sich viele hundert Jahre ohne Fortschritt, Entwicklung und Geschichte wie ein immerwährender drückend heißer Tropentag zusammenziehen. Souverän und effektbewusst disponiert Battistelli die Stilmittel zeitgenössischer Opernkunst von der Vereinigung mehrerer Partien auf einen Interpreten über die elektronische Potenzierung des Chorklangs und die melodische Verwendung des umfangreichen Schlagzeugapparates bis hin zur Besetzung des Countertenorfaches. Doch der für ihren mimetischen Sinn sonst gerühmten Musik Battistellis fehlt es im „Patriarchen“ an theatralischer Prägnanz. Die entscheidenden Szenen, in denen der Patriarch über sich hinauswächst – etwa in der Begegnung mit der Schönheitskönigin der Slums oder wenn sich sein vielgestaltiger Doppelgänger am Ende als sein Tod zu erkennen gibt – enttäuschen durch die Rationierung der kompositorischen Einfälle und die Blässe der melodischen Erfindung. So bleibt es musikalisch bei einer schöngeistigen Stimmungsfolklore.

Das Lateinamerika-Klischee wird auch durch Carl Friedrich Oberles wunderschön anzusehende Bühnenbild-Augenweide bedient: Der Präsidentenpalast ist eine Friedhofsarchitektur, bestehend aus einer mehrstöckigen terrassenförmig versetzten Grabkammerwand, die im Hintergrund von riesigem saftstrotzenden Pflanzenwuchs überwuchert wird. Hier hält der Patriarch Zwiesprache mit seinen zahllosen Toten. Abgestumpft und willenlos fügt sich das Volk in Rosamund Gilmores um ethnographische Abbilder bemühter Inszenierung seinem vom Patriarchen bestimmten Schicksal, wobei kaum zu unterscheiden ist, ob die monotonen Bewegungsformen des Volkes noch ein Ausdrucksmittel für die Lethargie der Menschen sein sollen oder ob sie bloß der Einfallslosigkeit der Regisseurin zuzuschreiben sind. Schwer zu ertragen ist die schunkelnde Apathie der zum endlichen Tod des Patriarchen in Skelettkostüme gesteckten Chorsänger bei gleichzeitig rapide nachlassender Inspiriertheit der Komposition in jedem Fall. Wenig zu spüren ist von den philosophischen Fluchtlinien des Romans. Wie die Musik entbehrt auch die Inszenierung eines mitnehmenden Spannungsaufbaus. Das auf ein Zehntel des Textes gekürzte Libretto dürfte für die dramaturgische Nivellierung der Restbegebenheiten erhebliche Mitverantwortung tragen. Dies alles bietet ein schwieriges Umfeld für eigenständige, markante Akzente der auf kolumbianischem Spanisch untadelig singenden Solisten mit Karsten Küsters’ üppig ausladendem Patriarchenbariton an der Spitze.

Nur in den scheinbar harmlos daherkommenden sakralen Floskeln des Chorparts blitzt etwas von den Abgründen des Márquezschen Sarkasmus auf. Der von Thomas Eitler sorgfältig einstudierte, fast durchgängig auf der Bühne präsente Chor (Kinderchor: Christian Günther) bewältigt den rhythmisch akzentuierten Sprechgesang ebenso wie die verzwickten Dissonanzen mit der Selbstverständlichkeit eines in der Interpretation zeitgenössischer Musik erfahrenen Vokalensembles. Einen beredten Vermittler hat die Oper mit Stefan Klingele am Pult der Bremer Philharmoniker gefunden. Als sensibler Koordinator zwischen Gesang und Orchester lässt er die reiche Farbpalette des Orchestersatzes mit einer guten Temperierung von spieltechnischer Gediegenheit und emotionaler Überzeugungkraft auftragen.

Christian Tepe

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