|
Vielfalt und Mut zu Neuem
Ein Porträt des Bielefelder Theaters · Von Christian Tepe
Als zu Beginn der Spielzeit 1998/1999 Intendantin Regula Gerber und GMD Peter
Kuhn ihre Arbeit in Bielefeld aufnahmen, beobachteten Musiktheaterfreunde
zunächst mit Skepsis, ob es der neuen Truppe gelingen würde, der
Ära Heiner Bruns’ ein eigenständiges ästhetisches Profil
entgegenzusetzen. Inzwischen wird das Haus republikweit als eine der ersten
Adressen für zeitgenössisches Musiktheater geachtet.
Mit neuen Formen wird hier den Herausforderungen der Menschen in den Lebenswelten
des 21. Jahrhunderts begegnet, so mit dem Orpheus-Projekt, der Uraufführung
von drei Auftragswerken, die den Orpheus-Mythos unter anderem in einem Hochbunker
und in einer U-Bahn-Station aus Gegenwartsperspektiven neu erkundeten.
Auf die Vielfalt des Repertoires von Oper und Ballett müssen die 323.000
Einwohner der Ostwestfalen-Metropole dabei keineswegs verzichten. Mit „Rinaldo“,
„Werther“, der „Zauberflöte“, „Madama Butterfly“,
„Jenufa“, „Coppélia“ und „Le sacre du
printemps“ sind nur einige der Neuproduktionen der letzten Spielzeit
genannt.
Hochkarätiges Ensemble
Ein so umfangreicher Spielplan lässt sich nur dann realisieren, wenn
man wie GMD Peter Kuhn auf ein hochkarätiges Solistenensemble zurückgreifen
kann, aus dem immer wieder auch international gefragte Gesangsstars hervorgehen.
Bevor Eteri Gvasava durch den Film „La Traviata à Paris“
Millionen Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt bekannt wurde, genoss zunächst
einmal das Bielefelder Publikum das Privileg, die junge Sopranistin als Rusalka,
Tatjana oder Liu zu erleben – und nicht nur das Publikum: „Es
ist schön, dass wir solche Solisten begleiten dürfen“, meint
auch Chorvorstand Krzysztof Gornowicz. In der letzten Saison bescherte Karine
Babajanyan, die zum Beginn dieser Spielzeit von der Württembergischen
Staatsoper Stuttgart aus Bielefeld wegengagiert wurde, ihren Zuhörern
als Cio-Cio San vollendetes Puccini-Glück und empfahl sich überdies
in der Rolle der Jenufa als prädestinierte Janácek-Interpretin,
durch ihre Fähigkeit, expressive Emotionalität und Sanglichkeit
miteinander zu verschmelzen. Im kommenden Jahr wird das Bielefelder Ensemblemitglied
Alexander Marco-Buhrmester als gerne gesehener Gast auf dem „Grünen
Hügel“ im neuen Bayreuther „Parsifal“ unter der musikalischen
Leitung von Pierre Boulez den Amfortas übernehmen. Die hervorragende
Ensemblepflege dient in Bielefeld indes nicht einem kulinarischen Sängertheater,
sondern schafft vielmehr die Basis für eine Opernarbeit, die auch bei
Traditionellem auf eine behutsame Aktualisierung der großen Stoffe abzielt,
ohne sie zu bloßen Stichwortgebern eines exzessiv überzogenen Regietheaters
zu degradieren.
Exzellente Chorszenen
Ein exzellentes sängerisches Niveau ist auch den 27 jungen Haus-Chorsängern
zu bescheinigen, die bei großen Produktionen durch den Extra-Chor unterstützt
werden. In der auf tschechisch gesungenen „Jenufa“ und in „La
Traviata“ lassen Chor und Extra-Chor durch ebenso spannungsgeladenen
wie luxuriös blühenden Chorgesang von höchster rhythmisch-dynamischer
Präzision sowie durch die ausdrucksstarke Bühnenpräsenz der
Sänger die Chorszenen mit zu den Höhepunkten des Abends werden.
Regelmäßig werden aus den Reihen des Chores kleine Soli übernommen,
so zuletzt in Ravels „L’enfant et les sortilèges“.
Der Schwerpunkt „Neues Musiktheater“ prägt auch das Profil
des Chores, der nach Globokars „L’armonia drammatica“ (in
Koproduktion mit dem Chor der Städtischen Bühnen Münster unter
Chordirektor Peter Heinrich), Dallapiccolas „Il Prigionero“ und
Kirchners „Ahasver“ mit dem Vokabular zeitgenössischer Bühnenmusik
bestens vertraut ist. Unbestrittener Höhepunkt dieser Saison sind die
„Meistersinger“ zum 100. Geburtstag des Theaters. Für solche
Projekte hilft Chordirektorin Angela Sleeman ein großer Erfahrungsreichtum,
den sie als Repetitorin unter anderem in Sydney und Madrid sowie als Chorleiter-Assistentin
an der Covent Garden Opera erwerben konnte.
Besonders stolz ist Frau Sleeman auf die Zusammensetzung ihres Chores „als
eine Einheit von 12 Nationalitäten“. Da kann für die originalsprachigen
Opernaufführungen des Hauses stets ein Muttersprachler aus Chor oder
Ensemble für das gemeinsame Phonetikstudium am Anfang der Probenarbeiten
gewonnen werden. „Aus dieser authentischen Begegnung mit der fremden
Sprache entspringt eine ganz besondere Probenenergie“, berichtet Frau
Sleeman – selbst hervorragende Kennerin des Französischen und Italienischen.
Auf die Frage, wie sie aus den so verschiedenen Künstlercharakteren eines
Chores schließlich die homogene Chorsängereinheit auf der Bühne
gewinne, verweist sie auf eine „Chorgruppendynamik, die Konflikte trägt
und die einzelnen Chormitglieder auch in Krisensituationen auffängt.“
Das können VdO-Ortsdelegierte Vera Freese und ihr Chorvorstandskollege
Krzysztof Gornowicz bestätigen. Hier ist der Chor ein Freundschaftskreis,
der auch schon einmal eine private Chorwanderung unternimmt und mit dem gemeinsamen
Singen von Volksliedern in der Muttersprache der Mitglieder beschließt.
Flexibles Arbeiten
Im Betriebsalltag geht es freilich nicht nur so romantisch zu: „Die
kleine Gruppe muss viel und sehr flexibel arbeiten. Alle singen alles von
der Moderne bis zum Musical“, erläutert Vera Freese und fügt
hinzu: „Der musikalischen Vielfalt entsprechen grundverschiedene Formen
des Agierens auf der Bühne.“ Neben Oberspielleiter Gregor Horres
arbeitet der Chor mit zahlreichen Gastregisseuren von sehr unterschiedlicher
künstlerischer Provenienz zusammen wie Andrey Woron, Aaron Stiehl und
Werner Schroeter. Zu Barbara Beyers berühmt-berüchtigter Othello-Inszenierung
der Spielzeit 2001/2002 stellt Krzysztof Gornowicz klar: „Anderssein
ist ihr gutes Recht. Wir haben das Glück, dass wir so verschiedene Regisseure
haben.“ Ungemach droht dem Musiktheater nach Meinung des studierten
Germanisten aus ganz anderer Richtung: „Mit ihrer Wiederholung des Immergleichen
desensibilisieren die Massenmedien den Geschmack und die Empfänglichkeit
des Publikums für das Besondere und das Andere. Hier hat es das Stadttheater
als Nische, als Ort für das, was die Massenmedien nicht mehr wahrnehmen,
immer schwerer, steht aber zugleich in der Verantwortung.“
Für das lebendige Chorwesen in Bielefeld und seine breite Fundierung
in der Bevölkerung stehen der Chor des Musikvereins der Stadt unter der
Leitung von Wolfgang Helbich und der Oratorienchor unter der Leitung von Hartmut
Sturm. Beide renommierten Chöre musizieren in festen Programmen mit den
67 Musikern des Philharmonischen Orchesters. Und die „professionellen
Laien“ des Vokalensembles der Neustädter Marienkirche werden Ballettdirektor
Philip Lansdale zur Seite stehen, wenn er im Hohen Chor des Gotteshauses in
dieser Spielzeit Händels „Messiah“ choreographiert.
Vielseitiger Bühnentanz
Mit Ballettdirektor Philip Lansdale und seiner Truppe hat in Bielefeld vor
fünf Jahren ein Tanzstil Einzug gehalten, der sich eines großen
Publikumszuspruchs erfreut. Lansdale, der aus der Londoner Royal Ballet School
als Schüler unter anderem Ninette de Valois’ hervorgegangen ist,
öffnet in seinen Choreografien das Bewegungsvokabular des klassischen
Tanzes zeitgemäßen Ausdrucksformen. Seine besondere Gunst gilt
dem Handlungsballett. Delibes’ romantischen Ballettklassiker „Coppélia“
verlegt Lansdale in seiner spritzig-humorvollen Version in das Umfeld einer
Jugendgang aus Marzahn mit dem verblüffenden Effekt, dass dadurch keineswegs
die Musik verfremdet wird, sondern umgekehrt die jungen Menschen aus den Soziologenklischees
heraustreten und in ihren seelischen Profilen erkennbar werden. Ravels selten
aufgeführte Ballettoper „L’enfant et les sortilèges“
präsentieren die Tänzer als Capriccio über die Nöte und
Ängste einer mit der Erwachsenenwelt konfrontierten Kinderseele. Dass
Lansdale und seine Truppe überdies die Sprache der Abstraktion beherrschen,
stellt die Compagnie am gleichen Abend mit einer die Handlungselemente zugunsten
des reinen Tanzes zurücknehmenden, auf ein chorisches Geschehen konzentrierten
Fassung von „Le sacre du printemps“ unter Beweis. Ballett und
Musiktheater accompagnieren auf eine für die Stadttheater-Infrastruktur
traditionelle Weise gegenseitig ihre Produktionen und widerlegen, indem die
Tänzer die Opernaufführungen um zusätzliche Sinnebenen bereichern
und das Orchester die Ballettabende zu einem vollendeten Live-Erlebnis werden
lässt, die häufig geäußerte Meinung, dass die enge Kooperation
zwischen den beiden Sparten heute obsolet sei.
Umbauspielzeiten
Sollte jemals wieder die Aufstockung des künstlerischen Personals auf
die kulturpolitische Tagesordnung gelangen, Lansdales Compagnie von gegenwärtig
nur 10 Tänzern wäre ganz sicher ein lohnendes Handlungsfeld. Aktuell
steht dem Drei-Sparten-Haus mit seinen 320 Mitarbeitern ein fast vollständig
von der Stadt finanzierter 20 Millionen Euro-Jahresetat zur Verfügung.
Ab der Spielzeit 2004/2005 müssen sich die Theaterleute und ihr Publikum
mit zwei Umbauspielzeiten arrangieren, damit die schlechten Hör- und
Sichtverhältnisse im Stadttheater verbessert und betriebsgerechte Funktionsräume
gebaut werden können. Für die Sanierung wurde die Theaterstiftung
als Bauherrin ins Leben gerufen, die auf einer durch die Stadt, die Stadtwerke
und die Sparkasse zusammengetragenen Kapitalbasis von 15 Millionen Euro noch
Sponsoren sucht, um die insgesamt 23 Millionen Euro kostende Sanierung zu
finanzieren.
Christian
Tepe
|