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Vexierspiele im Stiegenhaus
„Der Fliegende Holländer“ in Bayreuth · Von Michael
Herrschel
Das Geisterschiff ist nichts als ein blutroter Vorhang oberhalb der Treppe,
die sich über die ganze Bühnenbreite emporschwingt. Unterhalb, in
der Wohnhalle, pflegt bei schlechter Witterung eine Stehlampe umzustürzen;
Choristen spielen Seesturm in einer Projektion schwarzweißer Wellengischt…
Gut an der Inszenierung sind die periodischen Anfälle von Doppelbödigkeit
im bildnerischen Arrangement von Christian Schmidt. Alles ist Maske, auch
der Raum – als der Holländer die Treppe herabgestiegen ist, wird
der rote Vorhang weggezogen, und man sieht oben eine spiegelverkehrte Doublette
der Halle. Egal, ob auf dem Teppich oder an der Decke – man strandet
im Interieur wie ein Gefangener.
Raum und Spiegelraum zerfließen, wenn auf das reale Bühnenbild
eine Lichtbildaufnahme desselben projiziert und langsam verschoben wird. Altkariert
kleinbackene Tapeten- und Fußbodenmuster lösen sich flirrend voneinander
ab. Hinter irgendeinem dieser Punkte versteckt, scheint Claus Guth seine Angel
auszuwerfen: zieht er an, dann steht die Lampe wieder auf – oder es
kommt ein Sensenmann aus der Schießbude – oder der sichtbare Teil
des Chores führt im Ensemblezwang fröhlich nichtssagende Bewegungen
aus, die sich ebenso wiederholen wie die für’s Kostümfest
vorgegebenen Schnittmuster: zwei Kapitäne zum Verwechseln, weiß
und blaue Matrosen, putzsüchtige Mannequins in Schuluniformen…
Durch die Masken hindurch, ihnen zum Trotz, klingen Individuen. John Tomlinsons
bleicher Holländer: Wie viele Leben hat er gelebt auf den Bühnen
der Welt? Packend, schier überlebensgroß in der Wortgestalt ist
sein Zorn. Mit gefährlichem Lächeln in der Stimme preist er seine
Schätze an, während Jaakko Ryhänen als Daland ihm dunkelfüßig
flink um den Bart geht und die ungefüge Pracht des eigenen Organs behende
durch artikulatorische Klippen lenkt. Ein feinfühlig hintersinniger,
edel timbrierter Steuermann ist Tomislav Muzek.
Während projizierte Lichtpunkte wie Kohlensäureblasen aufsteigen,
tritt die Regie aus ihrer Reserve und läßt Frau Mary schaukeln
anstatt zu spinnen: Das schwankende Gurren der Gouvernante ertönt aus
einem Stuhl, den sie – gespenstisch im Dunkeln anzuschauen – in
Bewegung hält. Von Erinnerung gequält erhebt sie sich, geht am Stock
zur Wand, tastet nach dem alten Bild, das nicht mehr da ist. Uta Priew spielt
die Szene mit großer Eindringlichkeit. Mary hat ihr Augenlicht verloren;
die Senta von Adrienne Dugger verschließt gesunde Augen, wenn sie leise
und zum Träumen schön die Erlösung verheißende Oboenmelodie
mitsingt. Von der mörderisch gesteigerten Ballade an wird jede ihrer
Phrasen hochexplosiv wie der Schrei, mit dem sie im doppelten Holländer
den doppelten Vater erkennen soll.
Ins Zentrum des Geschehens aber rückt ihre Zwiesprache mit Erik. Ihr
Traum geht seinem Traum voraus: sie hält ihm die Augen zu, auf dass er
sehe was sie sah; danach geschieht es umgekehrt. Endrik Wottrich bündelt
vom ersten Ton an die Aufmerksamkeit, verbrennt sein enormes Material zu purer
Dramatik. Verzweiflung reißt ihn fort, doch da ist keine Note, die nicht
gestaltet wäre. Düster-baritonale Färbung, klangvolles Piano,
Durchschlagskraft im Forte, blitzschnelles Reagieren auf Stimmungswechsel
sind Elemente seines dramatischen Enthusiasmus – nicht zuletzt ihm ist
es zu danken, dass der Dreieckskonflikt interpretatorische Kontur erhält.
Wenn Senta und der Holländer sich gegenseitig hypnotisieren – mit
körperlos schwebenden Stimmen, die einander wie Lichtstrahlen durchdringen
– dann erscheint Sentas Beziehung zu Erik als Gegenbild: lebendig, stürmend,
in allem Widerspruch irdisch real.
Die von Eberhard Friedrich dynamisch fein differenzierten Chöre stehen
für diesmal zu oft unter dem Scheffel. In den Buffoszenen singen Frauen
brillant und spitz wie Spinnrocken, donnern Männer wie Orgelpfeifen;
aber große Teile des Chors werden immer wieder – nicht nur für
die Geisterrufe – ins Off oder in den Graben abgezogen, und die Verbliebenen
fungieren als ein Park von Standbildern… Man muss die Augen zumachen,
um die musikalischen Kräfte zu spüren, die hier zu Gange sind. Der
oratorische Gleichmut ist nur eine optische Täuschung – und mindert
doch die elementare Spannung des Werkes, die am Pult einen starken Anwalt
hat.
Marc Albrecht stürzt sich in die Urfassung der Partitur. Was mit aller
Kraft geradeheraus kommt, erringt seine akzentuierende Liebe: Ankerkrachen,
Knattern der Segel, ein Abreißen von Akkorden, dass schier die Luft
bebt. Klarer, scharfer Blechbläserklang, Paukensoli mit harten Schlegeln.
Ruckartiges Anziehen im Tempo, Stretta-Leidenschaft – dazwischen gewitterhell,
schiffspfeifengrell die piccologekrönten Mixturen der Holzbläser.
Reizvoll zu denken, wie sich all das unter Albrechts Händen weiter entwickelt,
wenn er der Musik noch mehr innere Schärfe abzwingt, den Klang noch mehr
à la bande spielt in dieser Akustik, wo ein gezieltes Rubato, eine
genialisch kalkulierte Unschärfe hundertfältigen Effekt macht. Ein
großer Gedanke will dort so unruhig werden wie ein Flackern in freier
Luft: Dann trifft er ins Ziel.
Michael
Herrschel
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