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Dem man den Gott noch glaubt
Wilhelm Pitz-Preis 2003 an Hotter · Laudatio von Joachim Kaiser
Zum zehnten Male verlieh die VdO im Rahmen der Richard Wagner-Festspiele
den Wilhelm Pitz-Preis, der Neu-Bayreuths erstem Chordirektor gewidmet ist.
Kammersänger Professor Hans Hotter nahm ihn am 10. August 2003 im Chorsaal
des Festspielhauses entgegen. Mit Standing Ovations begrüßten die
Teilnehmer des Festaktes den 1909 geborenen Bass-Bariton, Regisseur und Gesangspädagogen,
der in seiner Dankesrede vom Beginn seiner Laufbahn als Leiter eines Kirchenchores
in Milbertshofen bei München erzählte. „Jetzt schließt
sich der Ring mit diesem mir von den deutschen Opernchören verliehenen
Preis.“
Joachim Kaiser hielt die Laudatio auf Hans Hotter, die wir – leicht
gekürzt – hier abdrucken.
Ouvertüre
Wir wissen es wohl: Die Welt hat nur durch das Mittlere Bestand – aber
nur durch das Außerordentliche und das Extreme Wert! Der Künstler,
den ich heute hier ehren und loben darf – und zwar ganz ohne schlechtes
opportunistisches, schmeichlerisches Gewissen – ich habe nämlich
all meine Rezensionen durchgeblättert, da findet sich wirklich kein hämisch-negatives
Wort über Hotter, sondern nur jene Substanz des Lobes und des positiven
Erschüttert-Seins, von welcher ich in dieser Laudatio zehren kann –
der Künstler also, vor dem wir uns heute verneigen, vermochte sich wahrlich
immer zu verbünden mit jenem Außer-Ordentlichen, welches den Dingen
Wert verleiht. Nicht umsonst hat Dietrich Fischer-Dieskau den Kollegen Hans
Hotter als „wahrscheinlich wichtigsten Wagner-Darsteller seiner Zeit“
bezeichnet – und „seine Zeit“ war eine lange Zeit, in der
wir – mittlerweile Älteren – Gelegenheit hatten, uns der
Dringlichkeit Hans Hotters auszusetzen, ihm zuschauen und zuhören durften.
Worin aber bestand seine Größe? Nun, auf den ersten, banalen Blick
hing diese Größe mit Hotters imponierender und hoch gewachsener
Gestalt zusammen. „Hans Hotter“, so schrieb ein von Hotters Wotan-Darstellung
tief beeindruckter englischer Kritiker, sei „der einzige, dem man noch
einen Gott glaubt“. Das hing, weiß Gott, aber eben nicht bloß
zusammen mit seinem Gardemaß von 1,93 Meter, sondern mit der direkten
und glühenden Gewalt seiner Vergegenwärtigungen, wie ich ihnen in
meinem 14. Lebensjahr begegnet bin. Damals, während des Zweiten Weltkrieges,
noch in Königsberg, bei Hotters „Winterreise“. Ich hörte
den Schubert-Zyklus zum ersten Mal. Er warf mich um, verfolgte mich bis in
die Träume. Dann, seit 1952 in München oder Bayreuth, begegnete
ich dem Sänger so manches Mal. Bis 1985, als der 76-jährige Hotter
den Schigolch aus Bergs „Lulu“ in Jean Pierre Ponnelles Inszenierung
bot.
Nun gilt dieser Schigolch, ähnlich wie die Herodes-Partie aus der „Salome“,
als eine Rolle für ältere, ausgesungene Künstler. Und der Umstand,
dass Schigolch an Asthma leidet, erlaubt so manchen reiferen Seelenmalern,
die Figur zu reduzieren auf heiseres krächzendes Geröchel. Nicht
so Hans Hotter. Der sang die Partie eindringlich prägnant. Und er verkörperte
auch keineswegs bloß einen asozialen Schnorrer, einen lästigen
hochbetagten Verwandten, der immer irgendwas will, sondern er symbolisierte
weit mehr: nämlich eine archaisch-mythische, aus weiter Ferne in die
Gegenwart ragende Ur-Gestalt. Aber das war ja nur der Schigolch ...
Wir wissen es alle: Wagners Wotan enthält sehr viel mehr Dimensionen.
Wie aber Hotter diese Wotan-Dimensionen in lodernde Spannung umzusetzen verstand,
dafür möchte ich den Hamburger wie Pariser Intendanten und Komponisten
Rolf Liebermann zitieren. „Ich war“, so berichtet Liebermann in
seiner Autobiografie „Opernjahre“, „bei einer erschütternden
Probe des dritten Walküre-Aktes mit Martha Mödl und Hans Hotter
dabei. Um die Vater-Tochter-Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde bis
ins Tiefste auszuloten, hatte der Regisseur Rennert eine derartige Atmosphäre
von Zartheit und erotischer Spannung geschaffen, dass alle Anwesenden bei
Wotans Abschied nasse Augen bekamen. Der inzestuöse Charakter der Liebe
zwischen ihm und seinem „kühnen, herrlichen Kind“ wurde in
den letzten dreißig Minuten jedem klar, und zugleich stockte einem der
Atem vor der unbeschreiblichen Schönheit der Szene“. Ja, solche
Dinge vermochte Hotter...
Aber man kann Hotters Wotan-Wirkung auch sehr viel knapper fixieren. Als
er, ein riesiger, von schwarzem Feuer erfüllter Gott, zu Hunding, dem
Knecht Frickas, um derentwillen Wotan seinen geliebten Siegmund hatte ins
Messer laufen lassen müssen, als dieser Hotter-Wotan am Ende des zweiten
Walküren-Aktes ruhig zu Hunding sagte: „Geh!“, dann noch
einmal, nun aber angeekelt und lodernd zornig: „Geh!“ –
da war klar: Hunding musste einfach tot niedersinken. So machtvoll und terroristisch
und menschenverachtend tönte Wotans schreckliches Wort aus Hotters Mund.
Ich darf unterstellen, zumindest hoffen, dass Sie meinen lobenden Worten und
Zitaten, deren Zahl sich mühelos vervielfachen ließe, Vertrauen
schenken.
Hotters Ruhm ging ja um die Erde, er ist vielfach ausgezeichnet. Er hat allüberall
auf der Welt, deutsch und englisch singend, unendlich Mannigfaltiges für
Wert und Ehre großer deutscher Musik getan. Gewiss glauben Sie mir das.
Nur: Es hilft Ihnen vielleicht nicht allzu viel. Wie sagte doch Grillparzer:
„Beschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen“. Und
genau gegen diese Vagheit möchte ich nun konkret etwas zu unternehmen
versuchen – und zwar in drei Akten mit tönenden Hotter-Beispielen.
Solche Akt-Einteilung müsste in einer Opern-Stadt erlaubt sein, zumindest
bietet sie folgenden Vorteil: Man weiß ungefähr, woran man ist
und wie lange es noch weitergeht. Ich bin ja Opern- und Schauspielkritiker:
da kann es manchmal höchst angenehm sein, den Umfang des noch zu Befürchtenden
abschätzen zu können. Sonst verliert man völlig die Orientierung,
so wie Erich Kästner, als er sich entsetzlich langweilte und dann mit
gebrochener Stimme berichtete: „Um Mitternacht schaute ich auf die Uhr;
es war halb zehn“. Und in diesem Zusammenhang muss auch jener New Yorker
Opern-Besucher Erwähnung finden. Als dortselbst zum ersten Mal „Tristan“
gegeben wurde und die Leute nur an weit kürzere Belcanto-Opern gewöhnt
waren, da dauerte, auch wegen der langen, für die Sänger nötigen
Pausen die „Tristan“-Premiere bis nachts um halb drei. Unter dem
gestirnten Himmel New Yorks fragte der ermattete Opernbesucher seinen Freund:
„Ist Roosevelt noch Präsident?“. Diese Total-Verwirrung möchte
ich Ihnen heute Vormittag ersparen, darum die Akt-Einteilung. Erster Akt:
Hans Hotters hoher, streng-schnörkelloser Stil, demonstriert am Schubert-Lied
„Der Doppelgänger“. Zweiter Akt: Hotters lebendig-beseelte
Werktreue. Dritter Akt: Was Hotters Skepsis gegenüber inszenatorischen
Anachronismen und Asynchronitäten begründet.
Dies wäre die Akt-Einteilung. Was Sie bisher hörten, war die Ouvertüre.
Und damit fangen wir an.
Erster Akt: Hans Hotters hoher Stil
Wenn Wagner sich zur Formulierung seiner dramatischen Texte des Stabreims
bedient, wenn die große Schauspiel-Klassik zwischen Shakespeare, Lessing,
Goethe, Schiller, Hebbel, Grillparzer den fünfhebigen Blankvers als Hauptausdrucksmittel
verwendet, wenn in Opern zwischen Mozart und Strauss das Orchester kommentiert
und der Gesang die Worte in eine artifizielle Sphäre hebt, dann herrscht,
grob gesagt, „hoher Stil“. Zumindest keine flotte, naturalistisch-konversationshafte
Direktheit, sondern eine gewisse Überhöhung. Diese Überhöhung
schafft einen artifiziellen Anspruch. Solche Kunst kommt nicht jovial-fernsehvertraut
daher, sondern sie ist „irgendwie“, ich benutze das Wort nicht
gern, aber hier scheint es zu passen, sie ist „irgendwie“ etwas
Besonderes. Erfordert darum besondere Konzentration.
Wir wissen alle, dass sich hinter einem solchen Anspruch manchmal auch Talmi
verbirgt. Dass es eine falsch-feierliche, gipsartige, heuchlerische Klassizität
geben kann, die sich spreizt, aber in Wahrheit nichts zu sagen hat. Doch wir
wissen erst recht, wie schwer es der authentische hohe Stil eines jeden Kunstanspruchs
heute in unserem globalen Medien- und Internet-Zeitalter hat. Nichts wirkt
gegenwärtig erwünschter, populärer, als wenn jemand sich anschickt,
die Kunst vom Sockel zu holen, einen Goethe zum Anfassen zu bieten, den archaischen
„Ring des Nibelungen“ möglichst eventfreudig zu aktualisieren.
All das kann durchaus auch mal gelingen. Aber trotzdem sind, gerade in solcher
Zeit, Künstler notwendig, die auf dem hohen Ton bestehen und ihn verstehbar
machen. Die fühlen, welch riesige erfüllte Menschheitstradition
erlischt, wenn die Bürger des 21. Jahrhunderts kein Ohr mehr hätten,
haben wollten für die Qualen und Tröstungen, von denen große
Klassik kündet.
Nun helfen da aber keine pädagogisch gut gemeinten Beschwörungen.
Man kann niemandem „beweisen“, dass er sich für „Parsifal“
oder Schönbergs 2. Streichquartett interessieren muss. Ja, es ist sogar
sehr gefährlich, in falscher Weise zu werben. Etwa zu sagen, Bachs Matthäus-Passion
oder Wagners „Ring“ seien wunderschön und fabelhaft leicht
zu haben. Das stimmt platterdings nicht. Man muss Arbeit und Anstrengung investieren,
wie in das Erlernen einer Sprache, eines Instruments, einer Fertigkeit. Es
gibt da auch Durststrecken.
Nur wer bereit ist, eine solche Investition zu erbringen, der wird meiner
Überzeugung nach die Erfahrung machen, dass diese Investition sich lohnt,
wie sich sonst kaum etwas auf dieser Welt lohnt für uns arme Erdenbürger.
Um zu dieser Einsicht geneigt zu sein, muss einem das Elternhaus oder das
Schicksal oder das Glück helfen, überzeugende Kunsterfahrungen zu
machen. Wann immer ich Hans Hotter begegnete, ging mir das Kunst-Erlebnis
des hohen Stils auf. Hotter brauchte nie ordinär, gefallsüchtig,
verschmiert, effektgeil zu agieren oder zu singen. Und traf mit seiner strengen,
aber offenen Direktheit alle Hörer ins Herz, machte sie begeistert und
betroffen. Wie aber ging das zu?
Um Ihnen eine möglichst vollständige Vorstellung geben zu können
von Hans Hotters Kunst, halte ich es für richtiger, legitimer, vollständiger,
nun gerade nicht wunderschöne Opernausschnitte vorzuführen, die
eben doch nur ungenügende Ausschnitte darstellen können aus einem
sehr viel umfassenderen Zusammenhang der Handlung, der dramatisch-aktionistischen
theatralischen Totalität – wobei Hotter übrigens die Vorzüge
seiner imponierenden Riesengestalt klug einzusetzen lernte: wer solche Arme,
einen solchen Leib hat, der muss nämlich mit seinen Gesten umso sparsamer,
knapper, gezügelter umgehen. „Mach gar nichts!“ habe ihn
der Wieland Wagner oft genug beschworen. Und gerade die kluge Reduktion war
von gewaltiger Wirkung. Doch so wenig Zeichnen „Weglassen“ ist,
so wenig gewährt bloße Reduktion automatisch expressiven Reichtum.
Mit welcher grandiosen Kunstfertigkeit und Herzenskraft Hans Hotter seine
Mittel einsetzte, das möchte ich Ihnen nun mit einer Liedinterpretation
Hotters vor Ohren führen. Es ist der „Doppelgänger“
aus Schuberts spätem Zyklus „Schwanengesang“ nach einem ergreifenden
Text von Heinrich Heine. Hotter war übrigens keiner der Opernsänger,
welcher sich gelegentlich, überdramatisch-opernhaft auch zu einem Liederabend
herabließ, sondern der gern von sich sagte: „Über das Lied
bin ich recht eigentlich zum Singen gekommen“.
In Schuberts „Der Doppelgänger“ führt Hotter –
die Aufnahme entstand 1947 – mit herzbewegender Eindringlichkeit vor,
was zu einer großen Kunstdarbietung gehört. Das Entscheidenste:
die Abwesenheit jedes kleinen, hübschen, empfindsamen Ausdrucks –
und dann aber die niederschmetternde Eindringlichkeit des umso gewaltiger
eingesetzten Espressivo. So etwas macht ja den Meisterinterpreten aus: nicht
alles gleichermaßen empfindsam, ausdrucksvoll artikuliert zu geben,
sondern mit formbildender Kraft herstellen zu können. Die fahle, aber
darum wirklich nicht spannungslose Bewegtheit des rezitativischen Anfangs
– und dann die Gewalt des schließlichen Verzweiflungsausbruchs.
Im „Doppelgänger“, einem sehr langsamen, sehr schweren Kunstlied,
scheint Schubert anfangs im Klavier ein passacagliahaft starres Ostinato komponiert
zu haben, düster, fern aller sentimentalen Leidensbekundung. Dazu singt
das lyrische Ich: „Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen/In diesem
Hause wohnte mein Schatz. Sie hat schon längst die Stadt verlassen/Doch
steht noch das Haus auf demselben Platz.“
Wie Hotter das gestaltet: dunkel, fahl – nur das „mein“
bei „mein Schatz“ ganz wenig hervorhebend – es fasziniert
mehr als aller Ausdrucksüberfluss. Dann aber sieht dieses Ich entsetzt,
mit gesträubtem Haar seinen Doppelgänger, der die Hände vor
Schmerzen ringt. Der Unselige fühlt sich auch noch in seinem Liebesleid
nachgeäfft und verhöhnt. Die Kraft und Wahrhaftigkeit, mit der Hotter
die knappen Riesenausbrüche darbietet, lässt seine Opernpräsenz
indirekt spüren, gleichsam subkutan. Hotter überschreitet aber nie
den Bereich des Schubert`schen Kunstliedausdrucks, in welchem Depression und
Entsetzen wahrlich auch Platz fanden.
Zweiter Akt: Hotters lebendig-beseelte Werktreue
Wenn wir uns hierüber Gedanken machen wollen, dann fällt zunächst
beim Blick auf die Karriere und die Repertoirefülle Hotters auf, dass
da alles ein wenig anders verlief, als Gesangsgurus es idealtypisch erwarten.
Hotter, Sohn urbayerischer Eltern, sein Vater war Lehrer an der Münchener
Kunstgewerbeschule, wurde 1909 in Offenbach geboren, wuchs aber in München
auf, besuchte die Musikhochschule ohne jeden Gedanken, etwa Heldenbariton
zu werden. Lieber Orgelspielen, Musiktheorie, Liedgesang. Sein Lehrer ist
der Jean de Reszke-Schüler Matthäus Römer gewesen, der 1909
in Bayreuth immerhin den Parsifal gesungen hat.
Dann, sehr rasch, ging eine bunte Sängerkarriere durch die mitteleuropäische
Provinz los. Hotter debütierte als 22-Jähriger im Stadttheater Troppau,
dort übernahm er eine seiner später eindrucksvollsten, abgeklärtesten
Partien, nämlich den Sprecher aus der „Zauberflöte“.
Und 22-jährig allen Ernstes den „Wanderer“-Wotan aus dem
„Siegfried“. Dann folgte rasch Breslau mit italienischen Partien.
Der 23-Jährige scheute weder vor dem Amonasro noch vor dem Amfortas zurück.
1934 holte ihn die Hamburgische Staatsoper, und 1937 begann die große
Hotter-Zeit, deren internationale Ausweitung zwischen 1939 und 1945 der Zweite
Weltkrieg unterband: Sein Wirken an der Bayerischen Staatsoper München,
wo Hans Knappertsbusch und Clemens Krauss den jungen Sänger weiterformten,
wo Richard Strauss ihm zum Mentor wurde und wo er als Endzwanziger bereits
das Fundament legte für seine einzigartigen Vergegenwärtigungen
des Holländers und des Wotan.
Wer ein bisschen was vom Singen zu verstehen glaubt – der hat dieser
Rollenaufzählung nur kopfschüttelnd folgen können. Es war doch
immer viel zu früh für derartige Partien, jammern die Fachleute.
Sie warnen ihre Schüler vor Verschleiß, Stimmbeschädigung,
vor allzu frühem Tremolo. Die Ausnahme bestätigt die Regel –
auf diese Weisheit zieht man sich in derart unkonventionellen Fällen
zurück. Aber Hotters Stimme, der der Autor Jens Malte Fischer „heroische
Weichheit“ attestierte, die vom Heldenbariton bruchlos reichte bis zum
lyrischen, zugleich auch komisch talentierten Bariton, entspricht glücklicherweise
nicht den Rollenfachklischees, sondern ging wohlgeführt über deren
Grenzen hinaus. Ich möchte Ihnen verraten, dass ich die Sentenz von der
die Ausnahme bestätigenden Regel für einen Schmarren halte: Jede
kraftvolle Ausnahme schwächt im Gegenteil die Regel.
Immerhin: Wir ahnen nun, mit welchen sängerischen Gaben Hans Hotter
1954 auf dem Grünen Hügel erschien und dann zum wichtigsten Heldenbariton
des Neuen Bayreuth wurde. Dass er zum „Sing-Schauspieler“ wuchs,
hat er nach eigenem Bekunden wesentlich hier in Bayreuth gelernt. Das entrümpelte
Nürnberg, wo es gar nicht leicht war, einen Hans Sachs gleichsam isoliert
darzustellen, war für ihn gewiss ebenso neu, wie der damals so antipathetisch
wirkende Inszenierungsstil der Wagner-Enkel Wieland und Wolfgang. Hotter kam
ja noch aus der meiningerhaften Dreißigerjahre-Sphäre steiler Gesten,
bedeutungsträchtigen Schreitens, heroischen Posierens – so, wie
er als junger Sänger auch Schuberts „Winterreise“ zunächst
ganz direkt als Schmerzens-Rolle dargestellt hatte, um doch allmählich
zu spüren, dass auch die beseelte Distanz des lyrischen Berichts zu ergreifen
vermag – mehr womöglich als jeder Ego-Trip.
Wer verstünde nicht, dass sich in jemandem, der immerfort, im Ganzen
wohl über 400 mal den Wotan gesungen hat, ein gewisser Germanen-Gott-Überdruss
bildet. Auf die Frage nach seinen Lieblingsrollen antwortete Hotter einmal:
Boris Godunow, Falstaff, Borromeo (aus Pfitzners „Palestrina“)
und Gurnemanz. Den Wotan vergaß er glatt. Vom erstaunten Interviewer
darauf angesprochen, erwiderte er: „Vielleicht habe ich ihn zu oft singen
müssen, weil man ihn immer mit mir identifiziert und immer wieder von
mir verlangt hat. Dadurch hat sich in mir ein gewisser Widerstand gebildet.“
Diesen Widerstand begreifen wir nur zu gut. Aber wahrlich auch jene Intendanten
und Regisseure, die immer wieder überzeugt und zwanghaft auf Hans Hotter
zurückzukommen pflegten. Dabei machte ihm der steinreiche, heitere aber
kleingläubige Mandryka aus der Strauss‘schen „Arabella“
oder der Sir Morosus aus der „Schweigsamen Frau“ genau so viel
Kunst-Spaß wie Wotan. Als ich zum ersten Mal der „Schweigsamen
Frau“ begegnete, da ging mir dank Hotter auf, dass der Sir Morosus eine
Mischung ist aus bürgerlich gewordenem Fliegenden Holländer, melancholischem
Hans Sachs und erschlafftem Ochs von Lerchenau. Was für eine Altersstudie.
Und am Schluss sang Hans Hotter da: „Wie schön ist doch die Musik
– aber wie schön wird‘s, wenn sie vorbei ist ...“,
ein Fazit, dem sich gerade hier in Bayreuth, wo Wagners Dimensionen herrschen,
kaum jemand ganz verschließen dürfte.
Bei Reden zu hohen runden Geburtstagen, Preisverleihungen und Ordensübergaben
wird natürlich „geschönt“, alles Grämliche wohlwollend
verschwiegen und unter den Ehrenteppich gekehrt.
Wie wenig das aber hier, bei dieser Laudatio, der Fall ist – dafür
habe ich einen historischen Beweis. Nämlich die Süddeutsche Zeitung
vom 11. August 1965. Da hatte ich keine „Laudatio“ sondern einen
Bericht zu verfassen über die letzte Bayreuther „Parsifal“-Premiere.
Diese Rezension fiel keineswegs völlig positiv aus. Nur, wenn ich jetzt
vorlese, was ich damals, ohne jede Laudatio-Nötigung über Hans Hotters
Gurnemanz schrieb, dann dürften Sie spüren, wie sehr der große
Künstler zu ergreifen wusste, wie sein Zauber sich senkte über Gerechte
und Ungerechte.
„Um so dankbarer“, begann ich, wollen wir dafür sein, dass
Hans Hotter in der gewiss mühseligen und manchmal zu frömmelnder
Sentimentalität verführenden Partie des Gurnemanz nicht nur den
eigenen Standard wahrte, sondern noch eindringlicher, männlicher und
ernster wirkte als im Vorjahr. Dass Gurnemanz Exponent einer mächtigen,
elitären Kaste ist, dass die Gralsgemeinschaft gewissermaßen auf
vorgeschobenem Posten eine anti-arabische (anti-heidnische) Mission erfüllen
zu müssen meint: Nicht die Inszenierung deutete dergleichen an, sondern
Hotters königlich-männlicher Ernst. Er behandelte im ersten Akt
den doch durchaus kampftüchtigen Parsifal väterlich-derb –
ein Wunder, dass er ihm keine Ohrfeige versetzte. Gurnemanz ließ auch
spüren, wie sehr man ihm seine Erzählung, die er mit ausdrucksvoller
Bewegtheit vortrug, entreißen musste: Ein Großvater, der den neugierigen
Enkeln höchst ungern erzählt, welch ein Skandal das Familienleben
seit altersher vergiftet. Und Hotter erstickte auch die schöne Karfreitagsinterpretation
– Wagners Parsifal ist ja unter anderem eine Oper der Tierliebe –
nicht durch theatralischen Weihrauch.“
Ja, so vermochte der Künstler Hans Hotter zu wirken und beim Vorlesen
fragte ich mich melancholisch, ob solche Beschreibungen einzelner Partien
heute von den Kritikern noch geboten und vom Publikum überhaupt noch
gewünscht werden.
Zu solchen großen Triumphen unpathetischer darstellerischer Vergegenwärtigung
hatte also Wieland und Wolfgangs Neues Bayreuth einen großen Künstler
wie Hans Hotter zu animieren vermocht!
Und es geschah alles noch in einer alles in allem werktreuen Interpretationsperiode,
wo es nicht Regel, sondern seltene Ausnahme war, Tondramen aus ihrer Welt,
aus ihrer archaischen oder mittelalterlichen oder romantischen Spielzeit herauszureißen.
Dritter Akt: Das Problem der Asynchronität
Hotter selbst hat sich oft streng ablehnend, 1989 aber doch sehr abwartend
dazu geäußert. Er sagte bei der Erörterung von Opern-Inszenierungen:
„Allerdings kann ich mich an die Anachronismen, die heute fast eine
Selbstverständlichkeit sind, nicht gewöhnen. Aber ich lehne sie
nicht ab, gab das Regieführen aber wieder auf, weil mein Denken nicht
in diese Zeit zu passen scheint. Vielleicht kommt es einmal wieder.“
„Wenn man älter wird“, sagt Goethe, „muss man mit Bewusstsein
auf einer gewissen Stufe stehen bleiben ... Aber man muss wissen, wo man steht
und wohin die anderen wollen.“
In diesem Hotter-Goethe-Zusammenhang erscheint das Problem des zeitlichen
Umfunktionierens auch als Generationsproblem. Ehrgeizige, auf Originalität
bedachte jüngere Regisseure sind von der Überzeugung erfüllt,
der Geschichte, welche der Operntext mitteilt, eine weitere, durch Assoziationen
oder kritische Einwände oder neue Gedanken über den verborgenen
Geist der Sache etwas mehr oder weniger anderes hinzufügen zu müssen.
Und mein Freund Loriot jammert deshalb: „Ich habe den Wotan schon so
oft mit Aktentasche gesehen – jetzt möchte ich ihn mal wieder mit
einem Speer sehen.“
Diese oft spannungsreiche, manchmal absurde Gegenüberstellung ist deshalb
für Ältere – wie auch mich – problematisch, weil umso
bereitwilliger genossen wird, je weniger die Überzeugungstäter und
das Publikum den Buchstaben oder den Geist der Sache kennen. Regisseure handeln,
als wären sie nicht Geburtshelfer sondern Autoren, als pflegten sie das
Kunstkind nicht nur, sondern hätten es gezeugt.
Nun scheint mir, dass man etwa Wagners „Rheingold“ schlechthin
nicht kapiert und sich tödlich dabei langweilt, wenn man nicht konkret
jedes Wort des genialen Textes über das „Werden“ eines Diktators,
nämlich Alberichs, begreift. Doch die märchenhafte Aura dieses Textes
hängt auch zusammen mit der mythischen Zeit, in der die Sache sich vollzieht.
Wenn nun Hotter vorbringt, er stelle den Wunsch des Autors über alles
– er könne sich an die Anachronismen, die er fairerweise nicht
in Bausch und Bogen ablehnt, einfach nicht gewöhnen, dann drückt
er etwas aus, was manche Eingeschüchterten denken. Selbst wenn man intellektuell
durchaus versteht, was der Regisseur sagen, hinzufügen will – man
ist gefühlsmäßig frustriert. Der fabelhafte russische Ljubimow
hat beispielsweise in Stuttgart den „Tannhäuser“ im Pariser
Ambiente des späten 19. Jahrhunderts angesiedelt. Da entstand er ja ungefähr,
da wurde er in Paris aufgeführt. Und eitle Sänger oder liebende
Frauen gab es zur eleganten Zeit der Prousts oder Balzacs ja auch ...
Nur: Das Tugendsystem des Mittelalters war weg. Für den Landgrafen,
die heilige Elisabeth, den Wolfram von Eschenbach ward ein tödliches
Verbrechen begangen, als Tannhäuser sich ins Nobelbordell der Venus wagte.
Doch im dekadenten Paris hätte sich kein Mensch darüber aufgeregt.
Das spätbürgerliche Tugendsystem funktionierte anders als das mittelalterliche.
Elegante Künstlerkollegen hätten den Tannhäuser eher nach der
offenbar interessanten Adresse der Venus gefragt.
Das heißt: Selbst Ljubimow opferte einem brillianten Effekt Wagners
tragisch-musikdramatische Wahrheit. Wenn nun zu solchen Ananchronismen ein
Hans Hotter feststellt, er könne sich nicht daran gewöhnen, sein
Denken passe nicht in diese Zeit – dann hofft er offenbar, es könne
auch einmal wieder jene Strenge beginnen, die er vermisst. Natürlich
existiert bei jedem Kunstwerk, das diesen Namen verdient, Vieldeutigkeit.
Auch vor 1968 waren die Aufführungen keineswegs alle gleich. Weiß
Gott nicht. Doch die Vieldeutigkeit großer künstlerischer Objektivation
ist eine gebundene Vieldeutigkeit. Keine Einladung zur Willkür. Musiker,
Instrumentalisten, wissen das. Doch die Macht der Töne gleicht sich freilich
oft genug auch den exzentrischsten Neudeutungen an...
Meine sehr verehrten Damen und Herren – seriöse Noblesse, spannungsvolle,
positive Werktreue sowie die Kraft, ohne Schnörkel bis zum Extrem des
Ausdruckszieles vorzudringen: Diesen großen, vorbildhaften Eigenschaften
begegnen wir bei Hans Hotter.
Aber eben dies: Kraft, Wahrhaftigkeit, dynamischen Ausdrucksernst vermochte
Wilhelm Pitz dem seit Jahrzehnten berühmten Bayreuther Festspiel-Chor
wahrlich auch zu vermitteln. Und sind nicht die bisher erkorenen Preisträger
Wolfgang Wagner, Josef Greindl, Astrid Varnay, Norbert Balatsch, Birgit Nilsson,
Dietrich Fischer-Dieskau, Götz Friedrich, Hans Mayer und Pierre Boulez
sämtlich auch von der Familie derer, denen es mehr um die Sache zu tun
war als um die Karriere, mehr um die Wahrheit als um bloßen Effekt?
Die Verleiher des Wilhelm Pitz-Preises 2003 dürfen stolz sein auf ihre
Entscheidung und auf ihren Preisträger.
Herzliche Gratulation!
Joachim
Kaiser
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