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Berichte

Dämmernd auf totem Geleise

Wernickes und Aldens „Ring“ in München · Von Michael Herrschel

Der „zerrissene Ring” der Bayerischen Staatsoper ist nun vollendet. War das „Rheingold” noch von Herbert Wernicke inszeniert worden (s. auch O&T Ausg.02/02, S. 6ff.), so übernahm nach dessen unerwartetem Tod Hans-Peter Lehmann die Stafette für die „Walküre” und übergab sie für „Siegfried” und „Götterdämmerung” schließlich an David Alden, der wiederum die „Walküre” nach seinem Regie-Konzept umarbeitete. Über das Ergebnis berichtet Michael Herrschel.

 
 

Stig Andersen als Siegfried. Foto: Wilfried Hösl

 

Der Monaco Franze wollte nicht hineingehen. Er misstraute einer Schickeria, die unter dem Vorwand vermeintlicher Sternstunden mit elementarer Rücksichtslosigkeit nur sich selbst zu feiern gewillt war. Unter vergleichbaren Konstellationen wehrte sich früher wie heute das unbeugsame Individuum vor, auf und hinter der Bühne gegen den philisterhaften Drang zur Vereinnahmung des Unverstandenen. Wenn sich über der neuen, halbszenisch geratenen, auf die Kraft hochkarätiger Musiker vertrauenden Wiedergabe der Tetralogie im Nationaltheater der Vorhang hebt, sieht man in verkleinerter Nachbildung den Innenraum jenes Festspielhauses, nach dem ein eifriger Epigone der Minister Pfistermeister und von der Pfordten seine Hand ausstreckte. Gebieten wollte er mit ihr, nun ist sie verdorrt. Geht es um Wagner, so bleibt kein Zweifel: München sei was es wolle, es träumt doch immer von Bayreuth.

Ob sich der Regisseur Herbert Wernicke damit abfand, dass viele Menschen im „Ring“ nichts anderes sehen als das gesellschaftliche Treiben, das sich an seine Aufführung knüpft? Die friedfertig fernblickenden Gestalten im „Rheingold“ geben keine Antwort darauf. Nahm er sein Tun am Ende nicht mehr wichtig und vermied darum alles, was irgend beunruhigen könnte? Ungeheuer ist ja der Gedanke Wagners, die von der Moderne aufgeworfenen sozialen Fragen mitten ins Licht einer fremden, alten, grausam das menschliche Auge blendenden Erzählung zu stellen! Wernicke suchte das helle Leuchten zu dämpfen und floh aus der ängstigenden Wildnis des Mythos in die Höhle der Kunst- und Alltagshistorie, um dort heimlich ein paar Funken zu schlagen. Das gelang zwar kaum mit dem Modell der Donaustaufer Walhalla im zweiten oder dem sonderbarerweise ohne Tierschutzvereins-Proteste zum Wassertreten benutzten Aquarium im ersten Bild, aber doch zum Schluss, da die Regenbogenfarben des Lichtmeisters Max Keller über Bayreuther Parkettreihen kletterten und die Rheintöchter aus der Münchner Königsloge ihre sehnsüchtige Weise hinübersandten…

David Alden schien Wernickes Abschieds-Augenzwinkern zu erwidern, als er mit „Siegfried“ neu ansetzte: unsichtbar lässt sich der Wanderer Wotan zuerst aus einer Bodenluke vernehmen; kaum erschienen, behext er den Raum – bei der Wissens-Wette sprießen Speere aus Gideon Daveys Bühnenwand und ziehen sich krallenartig wieder zurück. Magische Rieseneier illustrieren das Waldweben: ein fliegendes mit schwarzen Federn, eins mit Mädchenbeinen im Tanzrock, eins mit großen behaarten Füßen. Hielte solche Phantasie doch vor… Warum schrumpft sie beim Drachenkampf ins Putzige? Warum verbraucht sie sich fast jedesmal so rasch? Wo die Partitur kein Scherzo bereithält, inszeniert Alden eine brav dahindämmernde Opernparodie, synchronisiert sie schlecht und recht mit der Länge des Originals, tötet Geistesblitze durch zeitüberbrückende Mittel wie Tabak, Spirituosen, Sitz- und Liegemöbel, durch spiegelverkehrte Regieanweisungen und eine stereotyp äußerliche Darstellung seelischer Vorgänge – drei Tage lang: denn fürs epische Labyrinth der „Walküre“ gab es von Wernicke nur Skizzen, die Alden gelöscht hat, ohne einen eigenen Weg zu finden. Gelegentliche Durchblicke ins Bayreuther Auditorium schweißen die heterogenen Teile der Produktion auch nicht zusammen. Da bieten die musikalischen Interpreten bessere Orientierung – fast wie in einer konzertanten Aufführung wird manche Aussage allein durch die Besetzung gemacht.

John Tomlinson ist Wotan: von bühnenbeherrschender Gegenwart selbst da, wo er rückhaltlos Schwäche zeigt. Die Krone seiner Töne lichtet sich. Als Bass ist er ein Gott, als Bariton sterblich wie die Fricka von Marjana Lipovsek. Im „Rheingold“ glänzt neben ihnen Francisco Araiza als lyrischer, kurios melancholischer Loge ohne Lächeln, ohne Umschmeicheln; es schimmern Jon Ketilsson als zarter, argloser Froh, Jyrki Korhonen als stärkerer Fasolt und Anja Harteros mit ihrer beklemmenden Studie der lauteren Seele Freia. Helmut Pampuch führt den Schwanktanz des verzweifelten Mime auf, malt den Jammer bis zum steifen Schrei und verfällt doch nie so ins Groteske wie der Alberich von Franz-Josef Kapellmann, der mit wechselnden Stimmfarben wie Masken hantiert, bis er sich am fafnerischen Granitklang von Kurt Rydl – der in Hunding wiederkehrt – die Stirn einrennt. Prachtvoll ungeschlacht steht Juha Uusitalo als Donner gegen Fafner auf: sein stolzer Kopf will Mauern und Felsen durchbrechen und verfällt doch, sobald er auf Gunthers Leib sitzt, der schlangengleichen Regsamkeit von Matti Salminens Hagen – spätestens, wenn der zum Zaubertrank rät und in ironisch sonorer Zwiesprache mit dem Solo-Cello die Dreieinigkeit von Text, Melos und Mimus derart lustvoll, seriös und böse auf den Punkt bringt, dass einem der Atem stockt.

Nur Gabriele Schnaut wagt sich an diesen Bezwinger: mit lakonischer Piano-Deutlichkeit und konsonantenverschlingenden, von Wut und Weinen blinden Aufwallungen macht sie ihre Brünnhilde zu Hagens Gegenspielerin – denn Siegfried, der im Duett mit ihr trotz baritonaler Tapferkeit zu versinken droht, scheidet aus. Stig Andersens erfrischend natürliche Mittellage gesellt ihn eher der lieblich timbrierten Gutrune von Nancy Gustafson zu. Der Glanz der Höhe ist Peter Seiffert vorbehalten: Siegmunds Töne tanzen im Licht, im lachenden Forte. Sieglinde steht wie ein Schattenriss gegenüber. In der Tiefe klar und lockend, reagiert Waltraud Meier mit scharf nuancierender Präsenz – ein Wort von ihr verwandelt alles. Auf ganz andere Art gilt das auch für die Erda von Anna Larsson, diese vielleicht schönste aller dunklen Frauenstimmen. Man spürt sie wie kühle Nebeltropfen auf der Haut. Sie ist ein Elementargeist, dessen klingende Anwesenheit in Trance versetzt. Ihr zu Füßen, in der Schar der Luft- und Wasserfrauen, öffnet Ann-Katrin Naidu als Wellgunde und Waltraute einen Wonnegarten virtuoser Körpersprache; ihre Rufe sind Signale, sind flatternde Angriffslust. Neben der bedenklich verschwimmenden Soubretten-Artikulation von Margarita De Arellano als Woglinde und Waldvogel besticht die Floßhilde von Hannah Esther Minutillo mit unprätentiöser Homogenität von Ton und Sprache; denkwürdig sind auch der heldische Impetus von Irmgard Vilsmaier, das verschleierte Flammenblühen von Sally du Randt und die nächtlichen Farben von Marita Knobel und Catherine Wyn-Rogers, einer ebenbürtigen Tochter Erdas.

Eingebettet in die samtweiche Poesie des Bayerischen Staatsorchesters unter Zubin Mehta, überzeugen die von Udo Mehrpohl präparierten Gibichungen mit guten Chorsolisten und einem organischen Gesamtklang, dem nur ab und zu die Choreografie mit täppischen Verdopplungen von Worten und Rhythmen in die Quere kommt. Wenn die Mannen hinter Hagen an unpassender Stelle den Niederschlag jedes Taktes mit Fußstampfen begleiten, kann sich ihr Gesang kaum so entfalten, wie es bei einer freien, lachend ausbrechenden Bewegung der Fall wäre. Zubin Mehta interpretiert hellwach die fahlen, unheimlichen Partiturstellen; das Welken der Götter im „Rheingold“, das pochende Streicher-Staccato zu Siegmunds Worten „Der Erschlagnen Sippen stürmten daher“ lassen ebenso aufhorchen wie die Kammer-Ensembles und lyrischen Augenblicke: Siegmunds Lenzgesang ist fast ein Wesendonck-Lied. Manchmal freilich bleibt die Wildheit der Musik wie ein unbezähmtes Tier im Winkel hocken – im ersten und dritten „Walküre“-Vorspiel schreien die schnell aufsteigenden Streicherfiguren danach, entschlossener, gewitterhafter angepackt und emporgerissen zu werden… Festlich gestimmt, lässt der Maestro im Gegenzug dem Blech und den Pauken gern die Zügel schießen – aber herrlich ist es, wenn er sie wieder fest in die Hand nimmt und alle Farblinien jäh ineinanderführt: im zweiten „Walküre“-Vorspiel, im straussisch aufblühenden Feuerzauber, im schwebenden Erlösungsmotiv am Ende der Götterdämmerung. Dann entwirft Zubin Mehta die Vision einer anderen Inszenierung: preisgegeben an die Elemente und das nackte menschliche Antlitz, an Lebensspuren, die im weiten Bühnenrund wie fremde Schriftzeichen erscheinen – und das ist kein eitler Traum.

Michael Herrschel

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