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Kulturpolitik

Opernerlebnis hautnah

Kinder- und Jugendprojekte im Musiktheater · Von Christoph Forsthoff

Der Oper stirbt das Publikum weg! 100 Euro für ein Opernticket: Das kann sich doch kein Jugendlicher leisten. Der Tod des Bildungsbürgertums ist auch der Tod der Oper! Nur noch fünf Prozent der Opernbesucher sind jünger als 25 Jahre.

Klagen und Hilferufe wie diese sind seit Jahren landauf, landab zu hören, die entsprechenden Fakten und Zahlen in der Tat alarmierend: Schließlich sind die Kinder und Jugendlichen von heute die Zuschauer von morgen – allerdings nur, wenn beizeiten ihr Interesse für die Oper geweckt wird. Keine neue Erkenntnis, doch anders als beim Schauspiel setzt sich am Musiktheater erst seit einigen Jahren die Einsicht durch, dass es dafür auch eigener Anstrengungen der Opernhäuser bedarf. Denn der zwanglose Kontakt zur klassischen Musik im Elternhaus ist in den meisten Familien längst Vergangenheit, die wöchentliche Stunde Musikunterricht in vielen Schulen besitzt kaum noch mehr als eine Feigenblatt-Funktion – eine Zahl von 6.000 Musiklehrern, die allein in Nordrhein-Westfalen fehlen, steht für das Versagen des Staates.

Wie für Erwachsene

 
 

„Zauberflöte“ für Kinder in Frankfurt. Foto: B. Aumüller

 

Höchste Zeit also für Deutschlands Opernhäuser zu handeln in puncto Publikums-Nachwuchs – nur wie? Natürlich führen viele Wege nach Rom, aber auch in die Oper? Schon Maxim Gorki wusste, dass die junge Generation keineswegs mit Kinderkram zu fesseln sei: Seine Antwort auf die Frage, wie er für die Jüngsten schreibe, gilt denn auch bis heute als beispielhaft – „Wie für Erwachsene, nur viel besser!“ Kinder müssen gefesselt werden, ihr Interesse hängt stark von der Handlung und Spannung ab. „Kinder sind das kritischste Publikum, das man sich vorstellen kann“, pointiert Bettina Milz, Dramaturgin und Produktionsleiterin an der Jungen Oper Stuttgart, ihre Erfahrungen. „Wenn die gelangweilt sind, steigen sie aus.“

Fragt sich nur, wie sich ihr Interesse gewinnen lässt. Mit kindgerecht aufbereiteten Erwachsenen-Opern wie der „Zauberflöte für Kinder“? Oder doch eher mit speziellen Kinderopern – wobei: Was ist das eigentlich? Oper für Kinder? Für Kinder gespielt wie Humperdincks „Hänsel und Gretel“? Für Kinder geeignet wie Wilfried Hillers „Traumfresserchen“? Für Kinder von erwachsenen Ensemble-Mitgliedern gespielt wie an der Deutschen Oper in Berlin? Oder für Kinder von Kindern aufgeführt wie bei der „Opera piccola“ in Hamburg? Schon die Begriffsdefinition bereitet Schwierigkeiten – und zeigt zugleich die unterschiedlichen Herangehensweisen an deutschen Opernhäusern.

Arbeiten ohne Etat

Immerhin lassen sich drei Haupt-Strömungen ausmachen: Opern in einer speziellen Kinderfassung. Kompositionen für Kinder, die von Profi-Sängern und Musikern aufgeführt werden. Und Opern, die von Kindern für Kinder gespielt werden. Wobei bissige Betrachter sogar eine Gemeinsamkeit dieser Ansätze erkennen: Kinderoper ist... wofür das Geld reicht. Denn ob Berlin, München oder Hamburg: In Deutschlands größten Opernhäusern gibt es keinen eigenen Etat für die Nachwuchsarbeit. Allerorten ist deren Umfang abhängig vom Engagement des jeweiligen Intendanten – wie etwa in Dortmund, wo John Dew 1999 am dortigen Opernhaus die Stelle eines Musiktheaterpädagogen neu einrichtete und Heike Buderus für diese Aufbauarbeit gewann.

Eine Pionier-Position, die indes vielerorts schon das höchste (finanzielle) Glück darstellt. Fehlanzeige vermeldet in dieser Hinsicht etwa die berühmte Dresdner Semper-Oper – „und wir werden uns das auch künftig nicht leisten können“, bedauert Pressesprecherin Helena Pape. Ihre Münchner Kollegin Ulrike Hessler hat aus dieser Not eine Tugend gemacht, organisiert an der Bayerischen Staatsoper seit kurzem gemeinsam mit einer Dramaturgin Einführungen und Workshops für Jugendliche. Theaterpädagogische Arbeit wie sie an vielen kleinen und mittleren Häusern Usus ist: als zusätzliche Aufgabe von Presse- oder Produktionsdramaturgen. Natürlich ohne zusätzliche Honorierung.

Eigentlich Peanuts

 
 

Workshop an der Berliner Staatsoper zur „Entführung aus dem Serail“. Foto: Barbara Kosanke

 

Eine rühmliche Ausnahme bildet hier die Stuttgarter Oper. Intendant Klaus Zehelein hatte schon früh die Notwendigkeit solcher Zukunfsinvestitionen erkannt und 1995 mit der finanziellen Hilfe des Förderkreises des Staatstheaters die Stelle eines Musiktheaterpädagogen eingerichtet. Seit 1997 ist dieser „Erlebnisraum Oper“ dann zur „Jungen Oper Stuttgart“ ausgeweitet worden: einem Theater im Theater mit eigenem Etat und mittlerweile vierköpfigem Team aus Musiktheaterpädagogin, musikalischem Leiter, Dramaturgin und Assistentin. 350.000 Euro – inklusive Geldern von Sponsoren, Mäzenen und dem Förderkreis – stehen für deren Arbeit pro Spielzeit zur Verfügung. Eigentlich „Peanuts“, die sich auch andere Häuser leisten können müssten angesichts von Gesamtbudgets von mehr als 40 Millionen Euro... Vor allem aber mit Blick auf die reiche Ernte, die mit dieser verhältnismäßig geringen Summe eingespielt wird: Dank der finanziellen wie personellen Sicherheit sind der „Jungen Oper Stuttgart“ pro Saison zwei eigene Produktionen mit 40 Vorstellungen im Kammertheater möglich, bei denen Musikhochschul-Studenten ebenso mitwirken wie Schüler und junge Sängerprofis. Ein „besonders spannender Mix“, wie Dramaturgin Milz findet, „gibt es doch sonst nur ganz wenige Situationen, wo Kinder und Erwachsene konstruktiv zusammenarbeiten“.

Eigenes Einfühlen

Pionierarbeit hat Stuttgart aber auch noch auf einem anderen Gebiet geleistet: Von Anfang an setzte man hier auf die Vermittlungsmethode der „Szenischen Interpretation“. Spielerisches Lernen durch Nachahmung, Einfühlen und Kreativität statt musikalischer Opern-Analyse. Rainer O. Brinkmann, heute Musiktheaterpädagoge an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, hatte Anfang der 90er- Jahre diese Arbeitsweise entwickelt, bei der sich Schüler in historische Situationen, soziale Gruppen und Personen der Oper einfühlen, über deren Handlungsmotive nachdenken und so diese Figuren von innen heraus verstehen. Eine Reflexion, die zu einem tieferen, vor allem aber emotionalen Verständnis führt und damit auch die Hemmschwelle vor der hehren Opernkunst abbaut.

Und das offenbar mit Erfolg: Nicht allein, dass das vierköpfige Team der „Jungen Oper Stuttgart“ die Nachfrage der Lehrer hinsichtlich der Schulprojekte kaum bewältigen kann, auch die Wünsche der Kinder und Jugendlichen nach Opernkarten für das große Haus sind schon längst nicht mehr alle zu erfüllen – und das, obwohl bereits zehn Prozent aller Tickets für Schüler und Studenten reserviert sind. Ein Andrang, den viele Opernhäuser erleben: So sitzen in Frankfurts Alter Oper an jedem Abend drei bis vier Schulklassen, zählen die Kölner Kinderopern-Aktivitäten bis zu 130 Aufführungen pro Spielzeit. Und in Dortmund gehören diese Vorstellungen zu den „bestverkauften“ (Buderus) im großen Haus: 2002/03 waren die 800 Plätze bei den 12 Aufführungen der „Kinder-Zauberflöte“ stets ausverkauft.

Was nicht alle Geschäftsführer mit Freude sehen: Aufgrund der ermäßigten Karten nimmt ein Opernhaus an Abenden mit reinen Schüler- und Studenten-Vorstellungen kaum etwas ein – entsprechend gering versucht mancher Verwaltungsdirektor ihre Zahl zu halten. Glücklich schätzen sich da jene Musiktheaterpädagogen, die für ihre Arbeit eine hauseigene Nebenspielstätte nutzen können wie die „Kleine Szene“ in Dresden oder das „Bockenheimer Depot“ in Frankfurt. Da es in letzterem zudem keinen Orchestergraben gibt, „sind die Kinder viel näher dran“, so Deborah Einspieler, die hier das „Schulprojekt Oper Theater“ – kurz „SPOT“ genannt – begleitet. Was die Oper dann zum ganz konkreten Erlebnisraum werden lässt, bei der Liebesszenen, tote Tenöre und Selbstmorde hautnah präsentiert werden.

Geeignete Türöffner

Zweifellos ein Zugang zur Faszination Oper. Wie auch die vielen anderen Türöffner, die Jugendlichen (und ihren Lehrern) von Hamburg bis München angeboten werden: Werkeinführungen und Workshops, Probenbesuche und Werkstättenführungen. Das digitale Programmheft zur „Fledermaus“-Produktion, das Frank Rohde in Köln mit Jugendlichen erstellt hat und durch das sich nun allabendlich Opernbesucher an zwei im Foyer aufgestellten Bildschirmen klicken können. Die Dia-Show „Von der Planung zur Premiere“, mit der Hilde Schuller in Hamburger Schulen den Entstehungsprozess einer Opernproduktion aufzeigt. Die Lehrer-Fortbildungen in Dortmund und Stuttgart, umfangreiche Materialiensammlungen, die Tage der offenen Tür in Dresden. Oder auch Jugendclubs wie „Rheingold“ in Düsseldorf, bei denen das gemeinsame Opernerlebnis im Kreise Gleichaltriger im Zentrum steht.

An Interesse seitens der Teenager mangelt es offenbar nicht. Und auch wenn manchem Schüler erst einmal erklärt werden muss, dass Handys auszuschalten sind und anders als beim Kinobesuch die Unterhaltung mit dem Nachbarn höchst störend ist: Ein Traditions-Verfall steht mit dem Einzug dieser Generation nicht zu befürchten. Über allzu legere Kleidung anderer Besucher empören sich nämlich auch schon 13-Jährige, erzählt Deborah Einspieler – desgleichen übrigens über allzu moderne Inszenierungen. Und noch in einem anderen Punkt seien sie sich einig mit erwachsenen Operngängern, schmunzelt Frank Rohde: Pausen könnten nie lang genug sein – bei den älteren für den Sekt, bei den jüngeren für den Flirt.

Christoph Forsthoff

Tradition Kinderoper

Neu ist die Form der Kinderoper nicht. Was manchem Zeitgenossen wie eine Entwicklung fortschrittlicher Pädagogen des 20. Jahrhunderts dünken mag, besitzt eine lange Tradition – wie die Oper für Erwachsene. Ja, einige Musikhistoriker sehen die Ursprünge gar im lateinischen Schuldrama der Humanisten im 15. Jahrhundert. Als ein Vorläufer darf auf jeden Fall das Ordenstheater der Jesuiten gelten, deren musikalisches Schultheater sich an den üppigen Aufführungen der Barockzeit orientierte.

Seit dem 19. Jahrhundert wird die Kinderoper zunehmend in die Familien- und Vereinssphäre verdrängt, in der Schule dienen Musiktheater-Aufführungen als schmückender Rahmen für nationale Gedenktage. Ideen und Inhalte treten zurück, stattdessen wird das Ideal einer bürgerlich-heilen Idylle beschworen. Und noch eine andere Form des Musiktheaters für Kinder nimmt im 19. Jahrhundert an den Stadttheatern ihren Ursprung: die bis heute als Kassenfüller heiss geliebten Weihnachtsmärchen und Märchenopern à la Humperdinck.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermag die Reformpädagogik dem szenisch-musikalischen Kinderspiel neue Impulse zu verleihen: Statt mit „Gefühlsduselei” sollen die Kinder mittels zeitgenössischer Musik angesprochen werden, Jugend- und Laienspielbewegung wollen die schöpferischen Kräfte des Nachwuchses fördern. „Der Jasager” von Brecht/Weill (1930) entsteht, Hindemith komponiert „Wir bauen eine Stadt” (1930), Dessau „Das Eisenbahnspiel” (1932). Gegenwartsmusik, leicht nachsingbar und nachspielbar, zugleich mit politischen und sozialen Zielen – was unter den Nationalsozialisten ihr vorläufiges Aus bedeutet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verhelfen in der DDR Komponisten wie Kurt Schwaen dem Brechtschen Lehrstück-Konzept zu neuer Blüte, die staatliche Führung erkennt den ideologischen Schulungswert und fördert das Musiktheater für Kinder. Währenddessen bemühen in der Bundesrepublik Komponisten wie Cesar Bresgen oder Eberhard Werdin weiterhin Märchenstoffe für ihre Spielmusiken – erst Hans Werner Henze gelingt 1980 mit seiner Kinderoper „Pollicino” ein entscheidender Schritt: Zeitgenössische Klänge zu verbinden mit einem Libretto, das dem Märchenstoff sozialkritische, ernste Betrachtungen aus der eigenen Um-Welt zur Seite stellt und damit ein ebenso lebendiges wie anspruchsvolles Musiktheater schafft, gegenwartsnah und pädagogisch wertvoll.

 

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