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Keine Mittelalter-Romantik
„L’amour de loin“ am Staatstheater Darmstadt
· Von Johannes Hirschler
Nicht wenige Kritiker fanden die Geschichte des liebes- und lebenskranken
Troubadour Jaufré Rudel und seiner Gräfin Clémence
von Tripolis befremdend, als „L’amour de loin“
von Kaija Saariaho und Amin Maalouf bei den Salzburger Festspielen
2000 seine Uraufführung erlebte. Ein Mann aus dem Hochadel
mit musischen Neigungen, überdrüssig seines luxuriösen,
aber im Grunde bedeutungslosen Lotterlebens, schafft sich eine imaginäre
Frau. Sie beginnt in seiner Fantasie zu leben, gewinnt betörende
Züge und einen makellosen Charakter. Da erfährt er von
einem Pilger, dass diese Frau existiert, auf der anderen Seite des
Mittelmeers. Er wird ganz krank vor Liebessehnsucht; sie dagegen,
als sie von eben demselben Pilger von ihrem unbekannten Verehrer
erfährt, ist zunächst reichlich befremdet.
Für überholte Mittelalter-Romantik hält die finnische
Komponistin ihr Sujet aber nicht, wie sie im Programmheft erläutert:
„Ich musste oft an junge Leute denken, die über das Internet
persönliche Verbindungen zu Menschen aufbauen, die sie noch
nie gesehen haben. Wie schafft man sich ein Bild von einem andern?
Zu welchen Konflikten führt das? Können die Menschen Wunsch
und Realität auseinander halten?“ Lyrischer Wohlklang
bestimmt dieses erste Libretto des libanesisch-französischen
Autors Amin Maalouf, aber er versteht es auch, in die leuchtenden
Farben überbordender erotischer Gefühle dunklere Bänder
einer obsessiven, manischen Selbstbespiegelung einzuflechten. Die
von ironischen Untertönen modulierte Stimme der Vernunft teilt
er einem Pilger und dem in der Darmstädter Aufführung
frisch und präzise agierenden Chor zu. Der mahnt in Gestalt
von Jaufrés Gefährten, seine „Lippen suchen nicht
mehr den Hals der Flasche noch die Lippen der Frauen ...“,
und als Chor der Tripolitanerinnen sortiert er der Gräfin energisch
die Unterschiede zwischen (gesunder) weiblicher Hingabe und (ungesunder)
Selbstaufgabe aus-einander. Kaija Saariaho arbeitet in „L’amour
de loin“ ganz aus dem Klang. Das Orchester entfaltet bei der
Darmstädter Aufführung unter Stefan Blunier ein überwältigend
reiches und fein ausdifferenziertes Klangspektrum. So wie Maalouf
Lieder des historischen Troubadours Rudel verarbeitet, lässt
Saariaho gelegentlich mittelalterlich anmutende Bordunklänge
und Gesangsmodi durchscheinen, ohne direkt zu zitieren. Nicht nur
im Sujet, vor allem im Verhältnis von Musik und Handlung zeigt
sich ihre erste Oper Wagners „Tristan und Isolde“ verwandt:
Die Musik ist die eigentliche Szene. Sie kanalisiert unmerklich
den Übergang von Jaufrés Überdruss und Lebensmüdigkeit
in die irreale, selbstbezogene Fantasieliebe; sie ahnt schon vor
den Worten, wie sein Liebeswahn zwangsläufig in den Tod führen
wird, den er, endlich in Tripolis ankommend, in den Armen von Clémence
erleiden wird.
Philippe Arlaud inzeniert weniger als dass er die Musik mit einem
psychedelischen Video-Clip begleitet. Weiße Quader in verschiedenen
Größen bis sechs, sieben Meter Kantenlänge, schräg
in den Raum gekippt und aus dem Schnürboden herabhängend
erinnern an Robert Wilson. Einer davon dient dem Bariton Hans Christoph
Begemann in der Rolle des Jaufré Rudel als schräge Spielfläche,
die er wie seine Obsession nicht verlassen wird; auf der Kante des
benachbarten Riesenwürfels hält Mary Anne Kruger im grotesk
überstilisierten Kostüm als Gräfin Clémence
Hof. Videoprojektionen in stupender Perfektion überziehen die
Szene mit einer stetigen Flut ineinander fließender Visonen:
Sie beschäftigen das Auge, wenn die spärliche Aktion des
Protagonisten pausiert. Mit feinabgestuften Lichtwechseln strukturiert
Arlaud die wechselweisen Besuche des Pilgers bei Rudel und Clémence,
akzentuiert das Aufeinandertreffen von Realität und Liebestraum.
So verfolgt man halb hypnotisiert, halb eingelullt den von Hans
Christoph Begemann formidabel gesungenen und gespielten Untergang
des Jaufré Rudel und die langsame Erweckung der Gräfin
Clémence, die Mary Anne Kruger mit klar geführtem, bei
aller Strahlkraft nuancenreichem Sopran singt. Karin Gerstenberger
gibt die Mezzo-Partie des Pilgers mit einer musikalischen Souveränität
und Selbstverständlichkeit und einer intelligenten Rollendarstellung,
die nichts zu wünschen läßt – bestenfalls
den Mut, mehr der Darstellungskunst solcher Sänger zu vertrauen
und weniger der beständigen Bilderflut, die immer am Rande
gefälliger Illustration operiert. Mit dem Orchester, das unter
dem Darmstädter GMD Stefan Blunier souverän und spielfreudig
die farbreiche Partitur zum Leben erweckte und wie alle Mitwirkenden
bei der Premiere mit Standing Ovations gefeierte wurde, und dem
von André Weiss hervorragend einstudierten Chor hatte Arlaud
dazu die richtigen Partner.
Johannes
Hirschler
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