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Der Spielkasten-Regisseur
Zum Tod von Herbert Wernicke · Von Gerhard Rohde
Herbert Wernicke ist tot. Selten hat eine Nachricht so verstörend gewirkt, wie die unerwartete Todesmeldung
aus Basel. In Basel hatte Herbert Wernicke seinen Wohnsitz, das Basler Theater bildete inmitten der Welt-Theater-Landschaft,
die der Regisseur in einem Vierteljahrhundert in immer weiter ausgreifenden Kreisen durchschritt, den ruhenden
Pol. Hier konnte er experimentieren, spielen, fabulieren, spintisieren. Hier lebten und arbeiteten gleichgestimmte
Kollegen und Freunde. Was war das für ein intelligentes, fast kauziges Vergnügen: Wernickes Dinner
for One am Silvesterabend 1998: Wernicke zitierte den bekannten Fernsehsketch, aber nur als Titel. Anlass
für die Paraphrase war vielmehr das Tagebuch des Engländers Samuel Pepys, der im siebzehnten
Jahrhundert ein elfbändiges Kompendium seiner objektiven und höchst subjektiven Befindlichkeiten verfasste
ein äußerst eigenwilliges Seelen-und Sittengemälde seiner Zeit, gegenüber dem manche
heutigen Befindlichkeiten eher harmlos erscheinen wollen.
Wernicke besaß eben dieses Gespür für die zweiten und dritten Ebenen eines Textes, die scharfe
Beobachtung nach vorn und zurück, die ihm immer wieder überraschende Einsichten in Werke und Vorlagen
ermöglichte. Harmloses existierte im Wernicke-Theater nicht, alles hatte tiefere Bedeutung, auch wenn es
in Scherz, Satire, Ironie verpackt erschien, oder in das Kostüm der Operette, für die Wernicke eine
geheime Liebe pflegte, auch wenn die Ergebnisse auf der Bühne mitunter das Gegenteil zu annoncieren schienen.
Dann wurde die verfratzte Fledermaus-Sozietät wie ein Schwarm Lemminge eine steile Rundtreppe
hinuntergetrieben: ab in den Orkus. Oder das große imaginäre Zähnefletschen und Blutlecken im
Wiener Blut ein sehr ungemütliches Wien war das. Und die Gesellschaft, die sich im Weißen
Rößl im großen Bier-Zelt-Kasten versammelte, waren das nicht gestern die gleichen Leute,
die Wagners Meistersinger-Festwiese (in Hamburg und Paris) bevölkerten? Wernicke erblickte
gern und überall das deutsche Wesen, an dem angeblich die Welt genesen sollte, sogar in Verdis
Falstaff, wo der dicke Sir John eine ähnlich fürchterliche Tracht Prügel durch die
so genannte Gesellschaft bezieht wie der Jude Beckmesser in der Johannisnacht durch den munteren
Lehrbuben David. So geht es eben zu, wenn deformierte Sozietäten ihren Spaß haben wollen:
Tödlich.
Wernickes erste Operninszenierung sah man 1978 in Darmstadt. Kurt Horres hatte dem jungen Bühnenbildner
Händels Belsazar für eine szenische Realisation anvertraut. Juden werden wie Freiwild
über die Bühne gejagt, Angst und Schrecken verzerren Gesichter, Körper, Gebärden, und die
Herrschenden fressen und saufen ungeniert, bis das fatale Menetekelzeichen auf der Wand erscheint. Da war schon
die Pranke des neuen Regisseurs für das gegenwärtige Musiktheater zu erkennen, der zugleich als sein
eigener Bühnen- und Kostümbildner agierte.
Der Sohn eines Gemälderestaurators, 1946 in Auggen im Schwarzwald geboren, schrieb fortan mit jeder seiner
Inszenierungen an der Operngeschichte mit. Die Barockoper stand vorerst im Vordergrund: Auf den Belsazar
folgte zwei Jahre später in München der Judas Maccabäus: Eine Zeiten übergreifende
Schreckensvision, voll dialektischer Umkehrungen und Demaskierungen der Mächtigen. Beide Aufführungen
erscheinen einem gerade in diesem Augenblick von unerhörter Gegenwärtigkeit: Die Bilder, die sich
damals ins Gedächtnis einbrannten, springen einem heute als Realität aus den Medien wieder entgegen.
Lullys Alceste, Vivaldis Juditha triumphans (beide in Darmstadt), vor allem Händels
Jephta in Bremen setzen die Barock-Linie fort, die im vierteiligen Zyklus an der Oper in Kassel
mit Lullys Phaéton, Glucks Orpheus, vier szenisch dargestellten Bach-Kantaten
und der imponierenden szenischen Realisierung von Florentinischen Intermedien ihren Höhepunkt
erreicht: Wechselspiele zwischen Macht und Unterwerfung, Vermessenheit und Absturz, Gefühlen und deren
Missbrauch. Die barocke Linie zog sich gleichsam wie ein roter Faden durch Wernickes Schaffen unvergesslich:
die wundersame hochpoetisch-schmerzliche Brüsseler Inszenierung von Cavallis La Calisto (sie
wanderte über viele Bühnen) in einem der Zauberkästen des Bühnenszenikers Wernicke:
Der geschlossene Spielkasten zählte zu den optischen Kennzeichen des Regisseurs: Er zwang zur
Konzentration, zu Fokussierung des Geschehens. Wernickes Kisten waren sicher die sinnfälligsten,
auch ästhetisch schönsten in der modernen Opernwelt.
Man könnte nun unendlich fortfahren in der Beschreibung von Herbert Wernickes Szenenkunst, die immer
vieles war: Interpretation, Vergegenwärtigung, Projektion zurück und nach vorn bei den alten Stoffen,
Visualisierung, Versinnlichung im Theatralischen. Mussorgskis Boris Godunow und Berlioz Trojaner,
der Rosenkavalier als hintergründige Komödie der Spiegelungen, die Zerrissenheit
der Monteverdischen Orfeo-Gesellschaft, symbolisch gezeigt im Fassadenriss an der Salzburger
Residenz, der verdoppelte Herzog Blaubart von Bartók mit dem zweimaligen variierten Durchlauf
des Paares das alles waren Aufführungen, von denen man als höchstes sagen darf: Sie befanden
sich auf der Höhe des Bewusstseins unserer Zeit.
Gleichsam als Zusammenfassung aller Perspektiven geriet Wagners Ring des Nibelungen, für
Brüssel entworfen und auch in Frankfurt gezeigt. Wernicke fasste in den Bildern in filmischer Manier und
in einem symbolträchtigen Einheitsraum (Hitlers Berghof mit Blick aufs Alpenpanorama) nicht nur die Rezeptionsgeschichte
des Rings zusammen, sondern zugleich deutsche Geschichte überhaupt. Manchmal musste man lachen,
aber das Lachen blieb einem meist im Halse stecken. Unter dem schwarzen Flügel im Salon (dem Symbol bürgerlicher
deutscher Musikkultur), stapelten sich im Verlauf der vier Abende die Leichen der Erschlagenen: Die andere Seite
der Musikkultur. Gerade hatte Herbert Wernicke begonnen, an der Münchner Oper einen neuen Ring
zu erarbeiten. Das Rheingold zeigte den vorsichtigen Beginn einer Variation der Brüsseler Vorlage.
Die Walküre soll nach den Entwürfen noch im Juni zu den Münchner Festspielen folgen.
Was aber dann? Das wissen wohl nur die Nornen.
Gerhard
Rohde
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