Die ideologisch tragende Säule war der antifaschistische Gründungsmythos der DDR: Überwindung des deutschen Faschismus, verbunden mit dem Weg eines selbstdefinierten Sozialismus, Abgrenzung und Kampf gegen den westdeutschen imperialistisch-kapitalistischen Ausbeuterstaat (die bösen Bonner Ultras). Sinnigerweise nutzten die selbsternannten Arbeiterführer für den Waffenrock ihrer Armee-Angehörigen den gleichen Stoff wie ihn schon die Wehrmacht einige Jahre zuvor durch den Weltkrieg trug. Gebrauch der KunstDer ästhetische Ansatz der SED ähnelte dem der feudalabsolutistischen Gesellschaft, man maß der Kunst einen enormen Stellenwert zu und glaubte an ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf Menschen. Hanns Eisler, der kreative Komponist, der kritische Marxist, beschrieb 1962 die Situation sehr treffend: ... die Säkularisierung, die Emanzipation der Kunst vom Religiösen, vom Mythos, ist ihre Verbürgerlichung oder ihre Modernisierung! Das heißt, in dem Moment, wo die Kunst sich von ihrem praktischen Gebrauch abtrennt der Ritus ist ja praktischer Gebrauch , wird sie erst das, was wir modern als Kunst bezeichnen (...). Nun ging anscheinend ein Teil auch der Kunst der revolutionären Arbeiterklasse wieder auf die Urfunktion der Kunst zurück (...). So müssen wir sagen, dass wir doch in diesen Zeiten zurückgehen, ich sage es ganz grausam, auf die Höhlenzeichnungen. Wir brauchen Kartoffeln, also eine Kartoffelkantate! Wir brauchen bestimmte Produktionssteigerungen, also Komponisten und Dichter, schreibt Lieder, Gesänge und Kantaten, um unsere Produktion zu steigern! (...) Aber ist es nicht, philosophisch gesprochen, eine ungeheure Zurücknahme der Säkularisierung? (Hanns Eisler zitiert nach Wolfgang Emmerich Kleine Literaturgeschichte der DDR, Aufbauverlag, Berlin). Hohes NiveauNun ist es aber so, dass der Kerngehalt von Kunst nicht die Funktionalität, der politische Aussagewille ist, sondern vom individuellen Verhältnis zur Realität und entscheidend von der Gestaltungsfähigkeit geprägt wird. Getreu dem alten Kantinenwitz: Kunst kommt vom Können und nicht vom Wollen, sonst hieße es ja Wunst, mussten die Sänger des Chores an ihrer künstlerischen Gestaltungsfähigkeit arbeiten. Aus dem Chor der NVA wurde ein Berufsensemble. Die Sänger erhielten eine hochqualifizierte Ausbildung mit Hilfe eigener Gesangslehrer der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler. Die Ausbildung wurde in der Regel mit der staatlichen Bühnenreifeprüfung abgeschlossen. Die NVA hatte einen Berufschor auf ihren Soldlisten. Mit steigender Professionalität wurde die Trennung zwischen dem politischen Kunstauftrag und der Kunstausübung in der Realität erkennbar. Die Sänger beschrieben es so: Neben seiner kulturpolitischen Hauptaufgabe, vor Angehörigen der NVA aufzutreten, machte sich der Chor national wie international einen geachteten Namen als in Qualität und Vielfalt des Repertoires sehr geschätzter Klangkörper. Die Chöre verschiedener Opernhäuser (zum Beispiel Staatsoper, Komische Oper) nahmen gern Sänger des NVA-Chores in ihre Reihen auf. EingliederungDer Herbst 1989 sah in der DDR eine kulturvoll gestaltete Revolution, Künstlerinnen und Künstler riefen am 4. November 1989 nach Meinungsfreiheit, nach Freiheit von Zensur und nach Reisefreiheit Hunderttausende hörten den Ruf und kamen auf den Berliner Alexanderplatz. Vielleicht war in dieser geschichtlichen Sekunde die Volksarmee eine Volksarmee nicht verwendungsfähig gegen die eigene Bevölkerung. Vom Chor der NVA erscholl kein Kampfesgesang. Die Folgezeit sah den Einigungsvertrag, den Vertrag 4 plus 2 der vier Besatzungsmächte, den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, sah die Eingliederung der NVA in die Bundeswehr und sah den Auflösungsbeschluss für das Künstlerensemble. Für immerhin fast ein Jahr zählte das Ensemble zum Bestand der Bundeswehr. Der übernehmende General der Bundeswehr, Schönbohm, heute Innenminister des Landes Brandenburg, war plötzlich auch Vorgesetzter eines Chores. Ein Chor passte nicht in das Selbstverständnis vom militärischen Handwerk. Die Abwicklung hatte bis zum 30.6.1991 stattzufinden. HoffnungsschimmerUnd doch zeichneten sich nach diversen Auftritten in den alten Bundesländern und nach prominenter Fürsprache Hoffnungsschimmer für den Chor ab. Der in Hamburg lebende Ururenkel des Komponisten Carl Maria von Weber, Hans-Jürgen Carl-Maria Freiherr von Weber, übernahm die Schirmherrschaft über den Berliner Männerchor, der jetzt Carl Maria von Weber-Chor hieß. In einem Selbstzeugnis führt der Chor die nachfolgende Entwicklung so aus: Der einzige deutsche Berufsmännerchor, durch den Neuzugang von Sängern auch aus den alten Bundesländern zu einem gesamtdeutschen Klangkörper avanciert, wurde auf Beschluss des Deutschen Bundestages auch nach seiner Ausgliederung aus der Bundeswehr am 30.6.1991 weiterhin aus dem Bundesverteidigungshaushalt finanziert. Die Finanzierung war die wirtschaftliche Grundlage für das überaus erfolgreiche Wirken des Chores bis April 1995.
Das Veranstaltungsbuch des Chores weist eine Vielzahl von Höhepunkten
auf. Im Namen der Bundeswehr traten die Sänger in der ZDF-Sendung
Achtung! Klassik auf. Weitere bedeutende auch
internationale Auftritte folgten. Im Jahre 1994 lief die
Finanzierung des Carl Maria von Weber-Chores aus. Es
fehlte wohl nicht nur an Geld, sondern es ist auch eine politische
Absicht dahinter zu vermuten. Die Schublade, in die sich diese Kunstinstitution
hätte einsortieren lassen können, war sowohl in politischer
als auch in künstlerischer Hinsicht nicht vorhanden. Der Chordirektor der Metropolitan Opera, Raymond Hughes, sei hier auch zitiert: Der Chor der Metropolitan Opera hat neulich, in einer unserer Aufführungen in der Alten Oper Frankfurt, die außerordentlich positive und kreative Erfahrung gemacht, mit dem Berliner Männerchor Carl Maria von Weber zusammenzuarbeiten. Nach einer solchen fruchtbaren Zusammenarbeit wirkt die Nachricht um so störender, dass die bloße Existenz dieses exzellenten und in Deutschland und wahrscheinlich Europa einzigartigen professionellen Männerchores jetzt durch Subventionskürzungen bedroht ist. Auch Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt setzte seine Autorität
für den Erhalt des Chores ein: Der Berliner Männerchor...
ist ein Stück lebendiger deutscher Geschichte. Aus dem ehemaligen
NVA-Chor der DDR hervorgegangen, wirkt Ihr Chor für das Zusammenwachsen
der Deutschen in West und Ost mit. Dies verbindet uns als Teil unserer
gemeinsamen Kultur mehr als viele Lippenbekenntnisse. Der Einigungsvertrag bestimmt in seinem Artikel 35, Absatz 2 und 4: Die kulturelle Substanz... darf keinen Schaden nehmen.(...) Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der Länder oder Kommunen über... Eine Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefällen, insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Weiterexistenz des Chores war also mit dem Einigungsvertrag gegeben. Böswillig interpretiert der Autor den Wegfall der Finanzierung durch den Bund als einen gewollten politischen Akt. Für die verbliebenen kalten Krieger im Westen, aber auch für die bürgerrechtliche Betrachtung galt und gilt: Wer sang, dass die Partei immer Recht hat, kann im Westen nicht auf die Rechte der Kunstfreiheit und Kunstförderung pochen, Lobet den Herrn steht der Kunstfreiheit allemal näher. Ein Chormitglied zitierte gegenüber dem Autor einen hohen deutschen Militär, als der Chor zur Umrahmung des Deutschlandtages 1994 im NATO-Hauptquartier in Brüssel auftrat: Sie haben einen einzigen Fehler, sie kommen aus dem Osten. Folgen für die MusikerMit der wegbrechenden Finanzierung brach im Chor eine Vielzahl menschliche Probleme auf. Viele der hochqualifizierten Sänger sind bis heute arbeitslos, einige wurden in andere Ensembles aufgenommen, wieder andere befinden sich in Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Es gibt sie immer nochEine kleine Formation machte und macht unter dem Namen Berliner Vokalensemble Carl Maria von Weber weiter. Über drei Jahre war man ein Arbeitsförderbetrieb (von 1995 bis 1998), getragen von der Berliner Arbeitsverwaltung unter der Senatorin Bergmann. Durch eine leider schlechte Managementberatung konnten sich die Sänger nie aus ihrer Existenzkrise befreien. Fast tragisch mutet die Aussage des jetzigen künstlerischen Leiters, Heiko Jerke, an: Unser größter Erfolg? Uns gibt es immer noch. Wir brauchen etwas zum Leben, ansonsten wollen wir nur singen. Ihr künstlerisches Profil beschreiben die Sänger als Vereinigung der Tugenden von den Kings Singers, Comedian Harmonists und Donkosaken. Sie stellen sich dem Motto: Wir werben für den Gesang! Trotzdem scheint es, dass die traditionelle Männerchorliteratur einer ihrer bedeutsamsten Träger verlustig gegangen ist. Dietrich Peters |
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