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Editorial


Frei nach Bert Brecht: Stellen Sie sich vor, es ist Oper – und keiner geht hin? Zwei Meldungen provozieren die Frage. Die Statistiker der Zeitschrift “Die Deutsche Bühne” (6/2000) haben errechnet, dass unter den 630 Neuinszenierungen, die die rund 100 Opernhäuser und die freien Musiktheater-Gruppen in Deutschland in der Spielzeit 1999/2000 bringen, gerade mal 70 von ihnen Werke betreffen, die dem “zeitgenössischen Repertoire” zuzurechnen, also nach 1945 entstanden sind. Und von den 36 Uraufführungen der Münchener Biennale seit 1988 fanden lediglich 20 den Weg auf deutsche Opernbühnen – und das meist nur für eine einzige Aufführungsserie. Das Resümee der “Deutschen Bühne”: Es wird sehr viel komponiert, doch die meisten Werke landen nach ihrer Uraufführung in der Schublade. Eine zeitgenössische Repertoirepflege findet nicht statt. Unbestreitbar: So ist es. Aber warum?

Die zweite Meldung liest sich wie ein Paradoxon. Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” (11.5.) untertitelt eine Premierenbesprechung wie folgt: “Kassel hat den originellsten ,Rosenkavalier´ der Republik – und keiner will ihn sehen.” Der Rosenkavalier in der Documenta-Stadt vor halb leerem Haus? Aus Kassel zurückgekehrt, ist festzustellen: Die FAZ hat recht. So ist es. Aber warum?

Ohne den eitlen Versuch auch nur anzupeilen, den tausend gescheiten Problematisierungen der Themen “Zeitgenössische Musik” und “Regie-Theater” die tausenderste hinzufügen zu wollen, sei behauptet, die Frage nach dem “Warum?” beantworte sich so: Die Praxis des Musiktheaters negiert nur allzu oft das Musikverständnis und –empfinden des Publikums. Das Publikum ist viel klüger als viele Musiktheater-Macher. Es weiß zum Beispiel auch, dass es nichts weiß – und wenig versteht vom zeitgenössischen Repertoire. Vielleicht sollte das Musiktheater sich von dem romantischen Vorurteil verabschieden, erklärungsbedürftige Kunst sei keine? Aus Elfenbeintürmen dringt nichts heraus.

Das Publikum weiß auch, dass keine Musik der Welt überzeitlich ist, sondern ihrem Zeitgeist und ihrem Entstehen unlösbar verhaftet. Der Glaube an die Überzeitlichkeit der Musik gehört klassizistischem Heroenkult (auch politisch) unseliger Zeiten an und wird heute nur noch von meist “literarischen” Musiktheaterregisseuren gepflegt, um jegliche szenische Interpretationsfreiheit zu rechtfertigen. Die endet aber dort, wo die jeweilige Zeitlichkeit der Musik die Grenze setzt.

Das Publikum hört, dass Richard Strauss’ Rosenkavalier-Musik keine Sauna im Schlafzimmer, keine „schnelle Nummer“ in einem Klo-Häuschen duldet und es hört auch, dass Faninal nicht der Waffenhändler ist, als der er ihm vorgestellt wird. Und das Publikum fragt sich zu Recht, warum der Inszenierung immer dann nichts mehr einfällt, wenn die Musik nach Szene geradezu fleht.

Ganz gewiss lässt es sich nicht von dem Kritiker trösten, der die Ratlosigkeit der Regie mit dem Text Hofmannsthals begründet: Weil die zutiefst verstörte Marschallin “Ich weiß auch nix, gar nix” sagt, muss auch die Regie nix mehr wissen... und wundert sich dann, dass auch das Publikum nix mehr wissen will.

Ein respektvolles Hoch dem Publikum.

Ihr Stefan Meuschel

 

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