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Das Wunder von Füssen
Ludwig II. Sehnsucht nach dem Paradies ·
Von Nikolas Kuhn
Alle durften nach der Welt-premiere des König
Ludwig-Musicals zufrieden sein: Der Landrat hoffte, der Musical-Tourismus
werde die von der Gesundheitswesen-Reform geleerten Betten im Ost-Allgäu
wieder füllen, die Riege der Tatort-Kommissare fühlte
sich in ihrem schauspielerischen Anspruch bestätigt, da einer
der ihren, Dietz-Werner Steck alias Bienzle, in der Rolle Richard
Wagners auf der Bühne gute Figur gemacht hatte, und Felix Maria
Roehl, Allein-Vorstand der Ludwig Musical AG & Co-Betriebs KG,
sah die stählernen, nicht selten geschlitzten Augen der Tourismus-Manager
und Aktionäre teils der königlichen Wasserleiche, teils
der aus ihr resultierenden Rendite-Hoffnung wegen feucht werden
und schien im Moment davon überzeugt, das Kürzel KG stehe
nicht für Kommandit-, sondern für Königliche Gesellschaft.
Dies das Phänomen Nummer eins: Die Musical AG hatte gerufen
und alle, alle kamen. Diese nur der Hamburger vergleichbare Münchner
Gesellschaft der offenen Upper Class war repräsentativ erschienen,
von den auch nur großbürgerlichen Wittelsbachern
über die Millionäre des Neuen Marktes und die sonstigen
Eintags-Brummer bis zum Fußball-Kaiser. Eine solche, strukturell
seit 200 Jahren unveränderte, die Politik gerade mal (er-)duldende
Gesellschaft benötigt und verkraftet den Hofnarren: Der beinahe
zu spät kommende Ministerpräsident Edmund Stoiber, im
feschen Trachten-Janker, musste es sich gefallen lassen, vom Mode-Clown
Rudolph Moshammer begrüßt zu werden. Der hatte eigentlich
Hausverbot und gelangte nur dank der Protektion der Autoverleih-Chefin
Regine Sixt ins neue Musical Theater Neuschwanstein...
Dieser Theater-Bau ist das Phänomen Nummer zwei. Er stellt
alle deutschen Theater-Neubauten seit 1945, das Aalto-Theater in
Essen vielleicht ausgenommen, in den Schatten. Seine Erbauerin,
Josephine Barbarino, hatte die von den 1848er-Revoluzzern Gottfried
Semper und Richard Wagner ideologisierte Idee des demokratischen
Theaters aufgegriffen, in dem außer den Privilegierten
in der Königsloge alle Besucher gleichberechtigt sitzen.
Alle Menschen sind gleich; nur zwei Personenkreisen sind herausgehobene
Positionen gestattet: den Künstlern auf der Bühne und,
ihnen gegenüber, dem Sachwalter der Künste, dem König.
Gottfried Sempers Bauidee fußte auf Palladios 1585 eröffnetem
Teatro Olimpico in Vicenza (Oberitalien), das mit seinem ansteigenden
Halbrund des Zuschauerraums vor der Orchestra und dem Bühnenhaus
sich wiederum die römischen (und griechischen) Amphitheater
zum Vorbild genommen hatte. Palladios Modell setzte sich gegen die
gesellschaftlichen Entwicklungen des Feudalismus und der Gegenreformation
ebenso wenig durch, wie 300 Jahre später Sempers Modell des
demokratischen Theaters gegen die adlig-bürgerliche Klassendominanz.
Verwirklicht wurde es nur im Münchener Prinzregenten-Theater
(1901), im 1944 zerbombten Charlottenburger Schiller-Theater (1908)
und im Festspielhaus Bayreuth (1876). In allen anderen Theaterbauten
widerspiegelt die Vierteilung in Parkett, Ränge, Logen und
Stehplätze den jeweiligen Zeitgeist. Erst mit der Theaterarchitektur
des Jugendstils wurde unter Beibehaltung des Klassen-Prinzips bautechnisch
eine Art Gleichwertigkeit der Besucherplätze erreicht. Ludwig
II., übrigens, favorisierte die Semper-/Wagner-Idee des königlich-demokratischen
Theaters; eine der vielen Niederlagen, die er auf dem Gebiet seiner
Kulturpolitik hinnehmen musste, war es, dass das entsprechende Festspielhaus
nicht auf den Münchener Isarhöhen, dem Maximilianeum nahe,
sondern in Oberfranken, einem weit entfernten wilden Landstrich,
in einer obskuren Kleinstadt namens Bayreuth errichtet wurde, den
Preußen und dem Bürgertum näher als Hohenschwangau
und der Königs-Idee.
Ob Josephine Barbarino mit ihrem Theaterbau in Füssen nun
Ludwig II. oder der in sich widersprüchlichen Idee des königlich-demokratischen
Theaters der Herren Semper und Wagner Tribut zollen wollte, ist
angesichts des Ergebnisses ihrer Arbeit gleichgültig. Ihre
Entscheidung, die Baupläne des Bayreuther Festspielhauses und
des Münchener Prinzregenten-Theaters zur Grundlage ihres Neubaus
zu machen, erweist sich als zeitlos-richtig: Für das Musiktheater
auf der mich immer mehr faszinierenden Guckkastenbühne
mit ihrer gewissen Art von Magie (Robert Wilson) ist der nach
Bayreuther Vorbild gestaltete Zuschauerraum geradezu ideal. Auf
allen 1.389 Plätzen des dezent-eleganten, in den Naturfarben
amerikanischen Walnussholzes belassenen Auditoriums, dessen Decke
die Kopie eines Gemäldes aus Ludwigs Schlösschen Linderhof
schmückt, sind Sicht und Akustik hervorragend. Dass die mit
eigenen Service-Räumen ausgestattete Mittel-Loge, die alles
inbegriffen mietbar ist, immer noch Königsloge heißt,
löst ironische Assoziationen aus: Ob wohl das sie künftig
nutzende Kapital sich ihrer historischen Bedeutung erinnern wird?
Die Lage des ganzen Theater-Komplexes mit großzügig
angelegten Foyers, Terrassen, Gartenanlagen und Parkplätzen,
mit nicht weniger als vier Restaurants und einem auch für Tagungen
geeigneten Panoramasaal am Ufer des den Lech stauenden Forggensees
mit Blick auf die Allgäuer Alpen und natürlich auf
die selbstverständlich nächtens angestrahlten Königsschlösser
Hohenschwangau und Neuschwanstein ist das Phänomen Nummer drei
und fordert Respekt: Hier wurde dem Thema am adäquaten Ort
das adäquate Haus errichtet. Zugleich kommt die bohrende, bei
einigem Überlegen in Ärger umschlagende Frage auf: Warum
bedurfte es privater, auch privatwirtschaftlicher Initiative, um
einen der Gegenwart adäquaten Theaterkomplex zu errichten?
Längst ist bekannt, dass von Traditionsbühnen in
Großstädten abgesehen das Theater nur dann eine
Zukunftschance hat, wenn es sich als regionales Kultur- und Kommunikationszentrum
der gewandelten individualistisch-demokratischen Neu-Gier-Gesellschaft
zur Verfügung stellt. Wer will denn in einem nur zur Vorstellungszeit
erleuchteten Haus tagsüber die Eintrittskarten am düsteren
Schalter bei einer nach BAT bezahlten Angestellten kaufen, die weder
weiß, wer abends singt, noch Auskunft geben kann, ob die Schamhaare
der Lulu auf dem Theaterplakat eventuell die ganze Veranstaltung
als jugendgefährdend erscheinen lassen?
Das Theater muss seinen berechtigt elitären, seinen die öffentliche
Finanzierung rechtfertigenden bildungspolitischen, seinen freiheitlich-künstlerischen
Anspruch nicht verraten, wenn es sich öffnet zu einem Ganztagsbetrieb,
in dem die Dramaturgen an der Kasse sitzen, in dem die Literatur
zum Spielplan samt Tageszeitung und Capuccino im Foyer zur Verfügung
stehen, in dem eine unterhaltsame Vermittlungs-Veranstaltung der
anderen folgt: Je höher der künstlerische Anspruch, desto
größer der Bedarf nach Vermittlung. Das Publikum, die
Erfahrungen der Museen beweisen es, will die Vermittlung und bedarf
der Vermittlung, denn die Künste sind fast so kompliziert geworden
wie die Computertechnik, doch die Theater, in ihrer Mehrzahl und
unter Anleitung des künstlerisch vollkommen erstarrten Deutschen
Bühnenvereins, verweigern sie.
Der Theater-Komplex am Forggensee ist wegweisend, mag er auch aus
der kalkulatorischen Notwendigkeit entstanden sein, gleich einem
Fun-Park möglichst viele Nebeneinnahmen zu erzielen. Die Angebots-Palette
umfasst alle erdenkbaren Freizeitaktivitäten; im Theatermarkt
ist Sisis Kochbuch zu erstehen und nach dem Theatermenü
im Romantikrestaurant kann auf einer neuhochdeutschen Backstage-Tour
das Bühnenhaus mit seiner Technik besichtigt werden. Es zeigt
Gero Zimmermanns, des Technischen Direktors Bayreuths, Handschrift
und ist mit 36 Metern Bühnentiefe samt großer, in sich
gegenläufiger Drehbühne vom Feinsten. Wenn Ludwig II.,
die geheimnisumwitterte Frage nach seinem tatsächlichen Ende
offen lassend, im 30 Tonnen schweren, 90.000 Liter fassenden Starnberger
See-Bassin auf dem Weg ins geträumte Paradies untergeht, wenn
er im Ballon die Erde umkreist, wenn er, von zwei echten Pferden
gezogen, im Prunkschlitten durch die winterliche Sternennacht fährt,
brandet zum Trampeln sich steigernder Applaus auf, in dem Text und
Musik untergehen. Immer dann, wenn es dem Librettisten, Regisseur
(und Intendanten) Stephan Barbarino gelingt, Bild und Situation
zur dramatischen Station in des Königs Leben zusammenzufügen,
ist das Musical auf seiner Höhe; vollkommen zu Recht wird neben
Librettist und Komponist der Bühnenbildner Heinz Hauser als
dritter Autor auf dem Programmzettel genannt. Sein Bühnenzauber
ist teils naives, teils surrealistisches Volks- und Märchentheater
mit den Mitteln ausgefeiltester Technik. Von der Hinterbühne
gesehen, mit Blick auf den König in seiner Loge, turnen da
Wagners Rheintöchter in ihren historischen Schwimmgeräten,
kämpft Siegfried mit dem Drachen, während Richard Wagner
in der Kulisse es mit Cosima von Bülow treibt. Ludwig entdeckt
sie dort und aus ist es mit Männerfreundschaft und gemeinsamen
Festspielplänen: Julian Tovey, darstellerisch ganz der König,
darf eine Weltschmerz-Arie singen und fügt sich endlich dem
Rat seiner ihn von Geburt an begleitenden drei Nymphen, sich von
Wasser, Weibern und Staatsgeschäften fern zu halten und stattdessen
Schlösser zu bauen. Mir san deine Hexenweiber, Schutzmatronen,
Zeitvertreiber (Christina Contes, Rosemary Porte, Tamara Wörner)
anempfehlen sich die einem bajuwarischen Macbeth entstiegenen Kobolde
ihrem Schützling, dem aber, weil er nicht auf sie hört,
alles das zustößt, was die Geschichte vorschreibt: Kriege
führen und eine verhängnisvolle Rolle bei der Reichsproklamation
1871 spielen zu müssen, sich gegen die Trends und die Konventionen
der Zeit nicht behaupten zu können. Seine Traumliebe zu Elisabeth
von Österreich (Gabriele Schmid) wird so verschnulzt dargestellt,
wie die Ludwig-Legende es will, und seine Entlobung von deren Schwester
Sophie zeigt, wo des Komponisten Franz Hummel Stärken liegen:
Annette Mayer singt die Offenbach-Barkarole so schaurig-schön
in den Grund und Boden der Parodie, dass Ludwig entsetzt die Flucht
ergreift, das Publikum jedoch begeistert wiehert.
Vom K.A. Hartmann- und R. Leibowitz-Schüler Franz Hummel,
1939 in Altmannstein geboren, war bisher überwiegend neutönend
Seriöses bekannt, so seine Opern Ubu, Blaubart
und Luzifer. Nur seine Opernparodie Sallad
(1983) deutete an, weshalb künftig der Begriff Hummel-Flug
nicht mit Rimsky-Korsakoff, sondern mit dem Ludwig-Musical in Verbindung
gebracht werden wird, so mit dem Lederhosen-Stepp-Plattler oder
mit der Musik zu Ludwigs multisexuellem Rauschgelage in Linderhofs
Maurischem Kiosk: Cannabis, Kanapee! Dea ma nix,
dram ma schee, etza zwickts Dekolleté. Wassernix, hast
koan Zeh! Sog`n ma amoi, sapperdix, raus aus`m Stoi, schnapp da
de Schix. Selbst wer, des Bayerischen nicht mächtig,
zur viersprachigen Leuchtschrift-Übersetzung hinaufschauen
musste, konnte sich dem ohrwurmverdächtigen Sog dieser gnadenlos
bayerisches Musikgut ausbeutenden Nummern nicht entziehen: Geld
ham` ma koans, Schloss brauch` ma koans! Was für Bayern richtig
is`, des wiss`n mir alloans!, singt das Kabinett. Hummel selbst
hat erklärt, dem Geist dieses Musicals entsprechend sich mal
nachempfindend, mal parodierend bei Verdi und Wagner, bei Offenbach
und Liszt, bei Mussorgsky und Weill bedient zu haben. Auch Richard
Strauss, vor allem dessen Vier letzte Lieder, war herauszuhören
in diesem erstaunlicherweise sich doch zum Ganzen fügenden
Klang-Mix, der, ohne allzu viel zu webbern, zwischen
breitem Sound von Kinomusik und parodierendem Accompagnato sich
bewegt.
Unbefriedigend war bei der Premiere die offenbar noch nicht eingespielte
Tontechnik. Alle Klänge kamen über Lautsprecher, die Sänger
via Mikroport verstärkend, dem kleinen Orchester unter Leitung
von Bartholomew Berzonsky viel Musik, vor allem die Tutti des Chores
und der Streicher vom Band zuspielend. So ist auch das sängerische
Können des darstellerisch durchweg hervorragenden 34-köpfigen
Ensembles (die zwei namentlich genannten Schlittenpferde eingerechnet)
schwer zu beurteilen. Manch königliches Vibrato, manch verschmiertes
Duett war wohl eher dem Tondesign als den Sängern anzulasten.
Die Elektronisierung des Klanges ist und bleibt im Musiktheater
eine Behelfslösung.
Für die Träume des König-Ludwig-Märchens eine
originäre Heimat geschaffen zu haben, ist der Genie-Streich
all der Erfinder dieses deutschen Musicals, das Rührstück
und große Show in einem ist. Jetzt gilt es, die Refinanzierung
dieses gelungenen, rund 80 Millionen Mark teuren Projekts zu bewältigen.
Den Betreibern des Theatermarkts des Musical Theaters Neuschwanstein
sei ans Herz gelegt, den von Martha Schad herausgegebenen Briefwechsel
zwischen Ludwig II. und Cosima Wagner (Lübbe Verlag, Bergisch
Gladbach 1996) ins Buch-Angebot zu nehmen: Cosima ist dort besser
kennen zu lernen als in ihrer Autobiographie, und Ludwig erweist
sich als ernst zu nehmender Kulturpolitiker, der auch, aber nicht
nur träumte.
Nikolas
Kuhn
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