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Kulturpolitik
Nachhaltigkeit auf
und hinter der Bühne
Zwischen Klimabilanz und kulturellem Wandel
Im November 2023 startete die Oper Leipzig einen ungewöhnlichen Aufruf: Sie bat die Bürger der Stadt Leipzig, ihnen alte Tische für das Bühnenbild der Oper „Mary, Queen of Scots“ zu spenden – für eine Gegenleistung von zwei Freikarten pro Tisch. Von Bühnenbildner Dirk Becker wurden die Tische dann in der Werkstatt in skulpturale Kunst verwandelt, bevor sie in Form eines großen Happenings per Hand durch die Stadt transportiert wurden, um auf den normalerweise anfallenden großen Transportaufwand per LKW aufmerksam zu machen. Durch das Spektakel sollte aber auch Publikum generiert und Interesse für die Welt hinter den Kulissen geweckt werden. Für Tobias Wolff, den Intendanten der Leipziger Oper, haben beide Aspekte, sowohl der Ressourcenverbrauch der Produktionen als auch die Publikumsentwicklung, mit Nachhaltigkeit zu tun, wie er auch schon in einem Interview mit „Oper und Tanz“ (Ausgabe 2022/03) deutlich machte.
Ist „Mary, Queen of Scots“ als erste sogenannte klimaneutrale Opernproduktion Deutschlands eine Eintagsfliege oder Vorreiter in einer umfassenden Transformation des Kulturbetriebs hin zu mehr Nachhaltigkeit? Welche Rolle wird dieses Thema zukünftig in Förderrichtlinien spielen und inwiefern wird sich dadurch der reguläre Betrieb verändern? Nachhaltige Entwicklung, so viel steht fest, ist als Thema in den Künsten angekommen und muss – als die konfliktgeladene politische Idee, die sie ist – dort auch verhandelt werden. Das wird auch daran deutlich, dass die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, Ende November in der Oper Leipzig die dritte von vier Konferenzen zum Thema „Green Culture“ durchgeführt hat. Unter dem Titel „Mehr Kultur für die Zukunft? – Nachhaltigkeit in Theater und Orchester“ kamen rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Kulturbetrieb, der Politik und der Wissenschaft zusammen, um Fragen der Nachhaltigkeit für Kunst und Kultur zu verhandeln. Dabei sollte es nicht nur um ein – in den Worten von Jacob Bilabel, dem Leiter der bundesweiten Anlaufstelle „Green Culture“ – „niedrigschwelliges Verständnis für Klimabilanzen“ und relativ einfach zu organisierende Effizienzmaßnahmen gehen, sondern auch um die sprichwörtlichen Elefanten im Raum, die in diesem Fall durch eine lebensgroße Nilpferdskulptur repräsentiert wurden.
Was lohnt sich eigentlich?
Gleich zu Beginn der Konferenz machten Paddy Dillon und Lisa Burger, die mit dem „Theatre Green Book“ einen Leitfaden für ressourcenschonendes Arbeiten im Theater geschrieben haben, in ihrer Keynote deutlich, warum sie die deutsche Theaterlandschaft in einer besonderen Verantwortung sehen. Die Klima- und Artenkrise stelle eine existenzielle Herausforderung für die Menschheit dar, und Kultureinrichtungen als gesellschaftsprägende und häufig von Steuergeldern finanzierte Institutionen seien somit dazu verpflichtet, zur Bewältigung dieser Herausforderungen beizutragen. Bei ihrer Tour durch zahlreiche Theaterwerkstätten Deutschlands sei ihnen zudem vor Augen geführt worden, dass deutsche Theater in Qualität und Größe in Europa kaum ihresgleichen fänden und dadurch auch international eine gewisse Strahlkraft und Vorreiterrolle hätten. Als Aufgabenbereiche identifizieren der Architekt und die Regisseurin die Bereiche Produktion, Gebäude und Organisation, wobei zu letzterem beispielsweise die Menge und Herkunft des verbrauchten Stroms sowie der durch die Anreise der Besucher verursachte CO2-Ausstoß zählen.
Die Königin Maria Stuart (Nicole Chevalier) mit ihren vier Hofdamen Mary Beaton (Augusta Kling), Mary Seton (Leah Weil), Mary Fleming (Lena Herrmann) und Mary Livingston (Katharina von Hassel). Foto: Tom Schulze
Diese Themen sind nicht mehr neu in der deutschen Theaterlandschaft. Zahlreiche Materialinitiativen und -lager, die eine Weiter- und Umnutzung von Materialien im Kontext von Kulturproduktionen ermöglichen, zeugen von dem Bemühen, Mechanismen der Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Modulare Bauweisen beim Bühnenbildbau, Verzicht auf Verbundstoffe und die Pflege und Dokumentation der Bestände gelten an vielen Theatern als gelebte Realität. Am Staatstheater Braunschweig wurde kürzlich sogar ein Bühnenbild aus Elefantengrasfasern erprobt, die durch Pilzmyzel stabilisiert wurden. Vermittelt unter anderem durch das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit, das seit 2021 Transformationsmanager für den Kulturbereich ausbildet, und die neue bundesweite Anlaufstelle „Green Culture“ erstellen immer mehr Kulturinstitutionen CO2-Bilanzen. Im Oktober 2023 haben die BKM, die Kulturministerinnen und -minister der Bundesländer und die Kommunalen Spitzenverbände hierfür einen offiziellen Standard verabschiedet.
Diese Bilanzen sind hilfreich. Sie zeigen aber auch, dass ein Großteil des CO2-Ausstoßes in der Regel durch die Gebäudenutzung und die An- und Abreise der Besucherinnen und Besucher entsteht. Für deren Veränderung gibt es kaum etablierte Konzepte; Zielkonflikte deuten sich an. Die energetische Sanierung großer Gebäude kann meist weder von den Häusern selbst finanziert werden noch durch die herkömmliche staatliche Kulturförderung. Einigen Akteuren mag sich hier die Frage stellen, ob sich Einsparungen im Produktionsprozess überhaupt lohnen – nicht zuletzt auch deshalb, weil die direkten Emissionen des Kultursektors im Vergleich zu anderen eher klein sein dürften. Belastbare Hochrechnungen der bisher für einzelne Einrichtungen erstellten Klimabilanzen auf den Gesamtsektor existieren zwar nicht, geschätzt wird dessen Anteil an den deutschen Treibhausgasemissionen jedoch auf kaum mehr als ein Prozent.
Ästhetik und Kommunikation –
die Elefanten im Raum
Die Königin Maria Stuart (Nicole Chevalier). Foto: Tom Schulze
Das Argument für ein umweltverträgliches Arbeiten besteht also vor allem in der Öffentlichkeitswirksamkeit von Kulturinstitutionen in ihrer Rolle als Kommunikatoren. Dann geht es auch um die Frage, wie Kultureinrichtungen über die Veröffentlichung von CO2-Bilanzen hinaus nachhaltige und nicht-nachhaltige Entwicklungen in der Gesellschaft prägen – etwa durch das Verhandeln von Normen und Werten auf der Bühne, das Einüben bestimmter Sehgewohnheiten, die Setzung bestimmter Themen und die Auslassung anderer. Was ist normal? Was ist gerecht? Was ist Luxus, was schön und was hässlich? Wie blicken wir auf die Vergangenheit und Zukunft?
Die Königin Maria Stuart. Nicole Chevalier und der Chor der Oper Leipzig sowie Rupert Charlesworth (Lord Darnley). Foto: Tom Schulze
Auf solche Aushandlungsprozesse ist nachhaltige Entwicklung angewiesen. Der Begriff wird in seiner wohl bekanntesten Lesart verstanden als eine Entwicklung, die es nicht nur den heute lebenden Menschen, sondern auch künftigen Generationen ermöglicht, ihre Bedürfnisse zu erfüllen – weltweit. Für uns im Globalen Norden erfordert die dafür nötige Reduktion von Ressourcenverbräuchen einen Wandel unserer Lebensgewohnheiten, unserer Wohlstands- und Normalitätsverständnisse. Dieser kulturelle Wandel ist ein zentraler, aber auch der schwierigste Teil nachhaltiger Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit Veränderung und die Verarbeitung von Verlust gehören zu seinen Voraussetzungen. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Valentina Bressan, die als technische Direktorin an der Pariser Oper für Nachhaltigkeit zuständig war und im Anschluss mit „Farabello“ ihre eigene Beratungsstelle für eine ökologische Transformation französischer Kultureinrichtungen gegründet hat, sieht die Oper hier sogar in einer besonderen Verantwortung. Denn das Opernpublikum hat nicht nur einen hohen privaten Ressourcenverbrauch, sondern auch besonders viel Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Die Oper, so Bressan 2023 in einem Vortrag beim Festival „Time to Listen“ in Berlin, präge bestimmte Vorstellungen von Luxus und vermittle ästhetische Ideale, die diese Bevölkerungsgruppe auch im Alltag kultiviert. Hinzu kommen die meist nicht ausgeschöpften Funktionen von Orten „klassischer“ Musik für die öffentliche Meinungsbildung und als Treffpunkt der Stadtgesellschaften. Obwohl entsprechende Räume für die Verständigung über die oben genannten Fragen in Transformationsprozessen dringend gebraucht werden, bescheiden sich gerade Konzertsäle meist mit der im 19. Jahrhundert eingeübten Kultur des Schweigens (und artigen Applaudierens). Werkeinführungen erfolgen im Frontalformat, und Bemühungen um eine Diversifizierung von musikalischen Sprachen und Weltsichten werden nur selten – wie etwa beim Bridges-Kammerorchester in Frankfurt – programmatisch zentral. Dass Werke oder – in der Oper – Inszenierungen zu Steinen des Anstoßes und damit der zeitpolitischen Auseinandersetzung werden, ist seltener geworden als noch vor einigen Jahrzehnten und nicht nur Fingerzeig auf ein liberaler gewordenes Stammpublikum, sondern auch auf höhere Indifferenz. Sich in der Klimakrise wieder auf mehr Wagnis einzulassen, ist riskant. Dirigent Vladimir Jurowski erlebte das, als er Klimaaktivist*innen, die sein Brucknerkonzert mit dem Bayerischen Staatsorchester beim Luzern-Festival im September 2023 störten, das Reden gestattete: Er erntete damit Zuspruch, aber auch zusätzliche Wut seitens der Besucherinnen und Besucher.
Bilder von der „Green Culture“-Konferenz (Gastgeber Oper Leipzig). Foto: Tom Schulze
Auf der „Green Culture“-Konferenz in Leipzig war die Rolle von Kulturinstitutionen für gesellschaftliche Aushandlungs- und Transformationsprozesse der sprichwörtliche Elefant im Raum, wie sich an der Diskrepanz zwischen den vielen Beiträgen der Teilnehmer dazu und der Aussparung des Themas im Programm zeigte. Das liegt nicht nur daran, dass dieses Thema ungleich vielfältiger, diffiziler und kontroverser ist als das der Ressourceneinsparung. Es liegt auch daran, dass dahingehende Überlegungen immer wieder als Angriff auf die Kunstfreiheit gebrandmarkt werden. De facto ist allerdings keinerlei Regelung im Gespräch, die eine solche Entwicklung befürchten ließe. Verpflichtende Vorgaben zu thematischen und ästhetischen Aspekten werden weder in der Politik noch unter Künstlern und Künstlerinnen diskutiert – vielmehr geht es um eine kritische Selbstreflexion hinsichtlich der Frage, wie Kulturinstitutionen gesellschaftliche Entwicklungen zukünftig mitprägen wollen.
Nachhaltigkeit als Betriebsmodus?
Im Hinblick auf die Frage des Ressourcenverbrauchs steht die Forderung nach verbindlichen Standards hingegen durchaus im Raum. Sie kommt allerdings nicht von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die lieber auf Freiwilligkeit als auf Vorgaben setzen will, sondern von Künstlerinnen und Künstlern selbst. Denn manche von ihnen wollen gerne umweltverträglicher arbeiten, bekommen dafür an ihrem Haus aber keine Unterstützung. Andere finden es überfordernd, bei ihrer Arbeit Abwägungen zum Ressourcenverbrauch ständig mitzudenken, solange das nicht zwingend notwendig ist. Und nicht zuletzt geht es auch um Fairness und Vergleichbarkeit im Konkurrieren um Aufträge.
Bilder von der „Green Culture“-Konferenz (Gastgeber Oper Leipzig). Foto: Tom Schulze
Auf der „Green Culture“-Konferenz in Leipzig wurden von Künstler*innen und Kultureinrichtungen neben verbindlichen Standards auch Gelder für Stellen für Nachhaltigkeitsbeauftragte gefordert. Allerdings ist es fraglich, ob diese ausreichend für die betriebliche Verankerung von Nachhaltigkeit sind. Denn nicht nur die Erfahrungen von Paddy Dillon und Lisa Burger in ihrer Arbeit mit Theatern in Deutschland zeigen, dass Bemühungen zu ressourcenschonenderem Arbeiten weniger an fehlendem Know-how, sondern vielmehr an Personalmangel und Zeitdruck scheitern, die sich unter anderem auf den stetigen Anstieg der Produktionen pro Spielzeit während der letzten dreißig Jahre zurückführen lassen. Eine andere förderpolitische Ausrichtung, die weniger Produktionsdruck erzeugt und mehr Anreize zu nachhaltigem Arbeiten schafft, ist daher möglicherweise wichtiger als die Schaffung zusätzlicher Stellen.
Wesentlich für das Verständnis von Nachhaltigkeit ist der Umstand, dass es sich dabei nicht um eine willkürliche Zusammenstellung von sozialen und ökologischen Zielen handelt, sondern dass diese Ziele miteinander verknüpft sind. In der Produktion „Mary, Queen of Scots“ zeigt sich das darin, dass durch das Streben nach Klimaneutralität eine viel intensivere Zusammenarbeit zwischen der Regisseurin und den Bühnenschreinern nötig wurde, dass der Produktionsprozess stellenweise langsamer ablief und dass durch die Spendenaktion für die Sammlung der Tische für das Bühnenbild eine neue Form der Interaktion mit der Stadtgesellschaft entstanden ist. Möglicherweise werden mit diesem Stück auch neue Zielgruppen angesprochen, während Teile des Stammpublikums sich dafür nicht begeistern lassen. Wenn sich der Umgang mit Ressourcen substanziell ändert, ändern sich auch eingeübte Abläufe und soziale Gefüge, die den gesamten Betrieb betreffen und nicht von einer einzelnen Person allein geplant oder gesteuert werden können.
Chancen ergreifen
Mit zunehmenden Auswirkungen auf die Gesellschaften wird die planetare Umweltkrise auch für Kultureinrichtungen langfristig Thema sein. Das wurde auf der Konferenz in Leipzig besonders im Workshop zu Klimawandelanpassung deutlich. Inwieweit es dabei aber vor allem um die Verteidigung des Kultursektors gegen steigende Versicherungsprämien, schrumpfende Kulturetats und während der Hitzeperioden sinkende Besucherzahlen geht oder ob sich Kulturinstitutionen auch als mitgestaltende Kräfte in einer Neuausrichtung der Gesellschaft begreifen können, wird sich zeigen.
Dass Not erfinderisch machen kann, zeigen die Bühnen-Tische für „Mary, Queen of Scots“. Dirk Becker und Regisseurin Ilaria Lanzino haben sich durch das Leitbild der Klimaneutralität zur Besinnung auf den Wesenskern des Stückes anregen lassen und damit auf den Tisch als paradigmatischen Ort des privaten und politischen Streitens, Verhandelns, auch des sprichwörtlichen Über-den-Tisch-gezogen-Werdens. In der turbulenten Inszenierung wünscht man sich bisweilen sogar eine noch präzisere Orientierung der Personenregie an den symbolisch-pragmatischen Möglichkeiten, die ein Tisch einer Szene bietet. Versuche des Kritikers der „Deutschen Bühne“ hingegen, die wiederverwendeten Materialien als Hinweise auf den „verhängnisvollen Kreislauf der Geschichte“ oder die „Vergänglichkeit der Dinge“ zu deuten, liefen ins Leere oder wirkten – Stichwort Kreislaufwirtschaft – sogar eigentümlich verfehlt. Eine konzeptionelle Einheit ist die Materialdimension nämlich weder mit der feministischen Lesart des Textes von Ilaria Lanzino eingegangen noch mit der eher lustvoll der frühneuzeitlichen Gewalt des Stoffes sich anschmiegenden Musik von Thea Musgrave. So erscheint es eher folgerichtig, dass die Dramaturgin des Stückes den Nachhaltigkeitsaspekt bei den abendlichen Werkeinführungen mit keiner Silbe erwähnt. Zuschauerinnen und Zuschauer, die das Interview mit Dirk Becker im Programmheft nicht lesen, dürften die Leipziger „Mary“ wohl sehen und hören, ohne an die Klimakrise auch nur im Entferntesten erinnert zu werden. Eine verpasste Gelegenheit – aber sicher nicht die letzte. Das Kapitel „zirkuläre Bühnenästhetiken“ steht ja, wie vieles im Buch der nachhaltigen Entwicklung, erst ganz am Anfang. Opernhäuser wie das in Leipzig haben die Chance, es mitzuschreiben.
Teresa Erbach und Manuel Rivera |