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Berichte

Es gibt kein Entkommen

Uraufführung von Bernhard Langs „Dora“ an der Staatsoper Stuttgart

Die junge Frau hasst die ausgeplünderte postindustrielle Wüste mit banaler Siedlung, öder Wohnung, grässlicher Familie. Vor allem hasst sich die mittzwanzigjährige Schulabbrecherin, Arbeitslose, Beziehungsunfähige selbst. Sie ist aller Dinge überdrüssig, perspektiv- und hoffnungslos. Wie in der antiken Tragödie verheißt ein Chor ihr unausweichliches Schicksal: „Damit zwingend sich erfülle, was geplant / und in der Kleinfamilie angelegt, / dem ewigen Mythenproduzenten, / der Vater, Mutter, Kind verklemmt sein lässt, / bis irgendwann es sich entlädt / in Kleidern aus Flammen.“ Franz Witzels Libretto ist ein klassisches Trauerspiel in fünf Akten mit Parallelen zum Fluch der Tantaliden: Vater Agamemnon opfert die Tochter Iphigenie, wird von Gattin Klytämnestra und deren Liebhaber ermordet, Tochter Elektra sinnt auf Rache, Bruder Orest erschlägt die Mutter, und so weiter von Generation zu Generation, damals, heute, morgen.

Bernhard Langs Oper „Dora“ beginnt dagegen ganz unklassisch wie ein Überfall. Es wird nicht wie üblich das Saallicht gedimmt und mit dem Auftritt von Dirigentin Elena Schwarz das Kammerorchester beklatscht; vielmehr wird der Saal schlagartig dunkel und aus Logen bricht ein wildes Donnerwetter von Pauken und Trommeln los. Den mythischen Wiederholungszwang unterstreichen Zitate aus Wagners „Ring des Nibelungen“: Schicksalsfaden der Nornen, raunende Urwelt des „Rheingold“, und der wie Jung-Siegfried naiv dem Soldatenberuf zustürmende Bruder. Zitate aus Richard Strauss’ „Elektra“ und „Sinfonia domestica“ bestätigen vor weißer Projektionsfläche die archetypische Familienaufstellung mit Papa, Mama, Bubi sowie jüngerer und nihilistischer älterer Schwester voll Zorn und Weltschmerz.

Für den zweiten Akt lassen Regisseurin Elisabeth Stöppler, Bühnenbildner Valentin Köhler und Videokünstler Vincent Stefan die Wand verbrennen und nach hinten kippend zum Bühnenboden werden. Dort wird Dora von ihren riesenhaft projizierten Eltern und Geschwistern mit Fäusten traktiert. Langs Musik ist temporeich, energetisch, pulsierend. Sie tritt hektisch auf der Stelle wie der „Marsch der Gehirnzermantschung“ von Bernd Alois Zimmermanns „Musique pour les soupers du roi Ubu“. Statt Veränderung, Fortschritt, Moderne, Neuheit gibt es immer denselben Gleichlauf bei wachsender Nervosität der Personen. Deren Worte und Melodien verfangen sich wie Schallplatten in Dauerschleifen der bürokratisch verwalteten Welt: „im Landratsamt, im Landratsamt, im…“.

Foto: Martin Sigmund

Foto: Martin Sigmund

Mit leuchtenden Lettern umstellen die Begriffe HEUTE, GESTERN, MORGEN, ABEND, JETZT und IMMER die Bühne, doch sind sie bedeutungslos geworden. Von NACHT bleibt nur ein Seufzer ACH.
Während eindreiviertel Stunden laufen Witzels nebensächlich-abstruse Handlung und Langs gelooptes Patchwork Gefahr, langweilig zu werden, gäbe es nicht Dora und den Teufel. Hier die großartige, jugendlich trotzig aufstrahlende Sopranistin Josefin Feiler; dort der gespenstisch Furcht und Faszination erregende Tenor Marcel Beekman. Durch sagenhafte Sprünge wechseln beide urplötzlich zwischen rhythmisch scharfer Diktion wie beim Rap und ariosen Linien in exaltierten Spitzenlagen.

Im fünften Akt erscheint der Teufel wie einst Gustav Gründgens als Mephisto in Goethes „Faust“ und das zuvor bezopfte Gretchen alias Dora wird selber zu Faust im Renaissance-Outfit mit Mantel und Degen. Doch die heroische Antiheldin lässt sich auf keinen Pakt mit dem Verführer ein. Denn sie ist radikal säkular ohne Glauben, Geschichte, Kultur und versteht das ganze Gerede von Satan und Chor einfach nicht mehr. Der Teufel tritt daher frustriert ab und die auf acht Stimmen erweiterten Neuen Vocalsolisten Stuttgart versinken in Bedeutungslosigkeit. Mit einem Mal steht dann aber zu sirrenden Synthesizern das Widerwort „sondern“ im Raum. Es verheißt eine Alternative zum ausweglosen Alltagstrott, bleibt aber letztlich ein ebenso inhaltsleeres Hirngespinst wie das von den Violinen angestimmte Welterlösungsmotiv vom Schluss der „Götterdämmerung“. Kunst, Musik und Literatur richten nichts mehr aus und sind nur noch pathetische Bruchstücke einstiger Narrative. Zurück bleibt Doras Hohnlachen über die Absurdität der Existenz, gesteigert zu eben jenen Schlagzeugsalven, die das Publikum schon einmal überfielen. Der Kreis der ewigen Wiederkehr des Immergleichen schließt sich. Vom Namen der Titelfigur stehen schließlich nur noch die Buchstaben A und O als verlorene Reste auf der Bühne, Alpha und Omega, Anfang und Ende aller ungelösten Fragen des Lebens.

Rainer Nonnenmann

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