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Editorial
Der kulturelle Balanceakt in Zeiten des Protests
Wie politisch darf Kultur sein, wie politisch das Theater? In einer Zeit, in der politische und soziale Bewegungen immer präsenter werden, steht die Kulturwelt vor einer entscheidenden Frage: Wie kann sie ihre Stimme erheben, ohne dabei in die Falle der Einseitigkeit zu tappen? Es ist ein delikater Balanceakt, den Künstlerinnen und Künstler sowie kulturelle Institutionen meistern müssen. In den zur Aufführung gelangenden Stücken darf es sicher – abseits der grundsätzlichen künstlerischen Ausrichtung durch eine Intendanz – im Sinne der grundgesetzlich geschützten Freiheiten keine Beschränkung des künstlerischen Schaffens geben. Aber in welchem Maße gilt dies auch für die politische Positionierung der Institutionen selbst? Können, dürfen, sollen oder gar müssen diese ausdrücklich gegen oder für spezielle Strömungen Stellung beziehen? (vgl. dazu auch das Interview mit Christian Spuck, S. 11, Mitte)
Gerrit Wedel. Foto: VdO
Aus Sicht des baden-württembergischen Staatssekretärs Arne Braun (Bündnis 90/Die Grünen) darf sich die Kultur aus dieser aktuellen öffentlichen Diskussion nicht heraushalten, denn auch diese habe angesichts der anhaltenden politischen Kritik und der Massenproteste auf den Straßen eine wichtige Verantwortung. Der Dialog sei das grundlegende Element des Theaters und die Bühne folgerichtig der richtige Ort für die lebendige Wechselrede und den Austausch von Positionen. Dieser helfe der Gesellschaft dabei, neue Handlungsoptionen zum Weiterdenken und -handeln zu entwickeln – „streitbar, nachdenklich und nicht belehrend“, so Braun zur Deutschen Presse-Agentur Anfang Februar. In der aktuellen Demokratiekrise komme der Kultur eine spezielle Aufgabe zu. Sie könne dazu dienen, die Sprache zurückzugewinnen, Brücken zu bauen und Menschen wieder ins Gespräch zu bringen. „Als Teil der Zivilgesellschaft kann Kultur auch die Möglichkeit nutzen, sich laut und vernehmlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für den Erhalt der Demokratie einzusetzen“, forderte Braun.
Dies gilt unzweifelhaft, wie bereits eingangs ausgeführt, für das, was in den Kulturinstitutionen – noch mehr oder weniger unabhängig – unmittelbar präsentiert wird.
Die Kunst hat die einzigartige Fähigkeit, gesellschaftliche Diskurse zu reflektieren und zu prägen, bietet sie doch einen Spiegel, in dem wir unsere kollektiven Hoffnungen, Ängste und Konflikte betrachten und mit ihnen spielerisch experimentieren können. Doch mit großer Macht kommt auch große Verantwortung. Es ist - nicht zuletzt im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit - auch für die Institutionen selbst entscheidend, dafür einzustehen, der Vielfalt von Perspektiven und Stimmen gerecht zu werden und sich der Versuchung zu widersetzen, als Sprachrohr für eine einzige politische Agenda zu fungieren. Die Herausforderung liegt darin, kritisch zu bleiben, Fragen zu stellen und Diskurse anzuregen, ohne dabei in die Falle der Polarisierung zu tappen, einen Raum zu eröffnen, in dem Dialog und Reflexion gefördert werden, einen Ort, der zum Nachdenken und zum – auch kontroversen – Austausch anregt.
Letztendlich ist es die Fähigkeit zur Nuance, zum Hinterfragen und zum kreativen Ausdruck, die die Kultur so mächtig macht. In Zeiten des Protests kann und sollten Kunst und Kultur eine führende Rolle einnehmen, indem sie Brücken bauen und zu einem tieferen Verständnis unserer gemeinsamen Menschlichkeit beitragen, auch indem man die Motive der jeweils Andersdenkenden jedenfalls zu verstehen versucht. In jedem Fall sollte klar und entschieden die Stimme erhoben werden, wenn grundlegende demokratische Prinzipien in Frage gestellt werden, die eben auch die zentrale Grundlage für das kulturelle Schaffen darstellen und dazu gehört m.E. auch das unbedingte Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt und Diversität!
In diesem Sinne sind wir alle aufgefordert, die Rolle von Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft zu reflektieren und sie als wesentliches Element für den Fortschritt und den sozialen Zusammenhalt in den Vordergrund zu rücken.
Gerrit Wedel
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