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Verdiente Wiederentdeckung

Die Komponistin Louise Bertin und ihre Oper „Fausto“ am Aalto Theater Essen

An Musiktheater-Entdeckungen knüpfen sich mitunter hohe Erwartungen, die in Teilaspekten dann doch unbefriedigt bleiben. Ein solcher Fall ist die am 7. März 1831 am Théâtre italien de Paris uraufgeführte Opera semiseria „Fausto“ von Louise Bertin (1803 bis 1877). Eine aus heutiger Perspektive spannende Situation: Bertin schrieb ihr vor der Vertonung ins Italienische übersetztes Textbuch selbst und schuf auf dieser Grundlage ab 1827 die (sieht man von Schuberts Liedern ab) allererste Vertonung von Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ – also lange vor Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann, Charles Gounod, Arrigo Boito und sogar noch vor den ersten öffentlichen Aufführungen der „Compositionen zu Goethes Faust“ von Fürst Anton Heinrich Radziwill (vollendet 1830).

Mirko Roschkowski (Fausto), Almas Svilpa (Mefistofele) und Tatjana Gürbaca (als Margarita-„Einspringerin“ in der Premiere). Foto: Forster

Mirko Roschkowski (Fausto), Almas Svilpa (Mefistofele) und Tatjana Gürbaca (als Margarita-„Einspringerin“ in der Premiere). Foto: Forster

Von Bertins insgesamt vier musikalischen Bühnenwerken gelangte je eines an den drei großen Pariser Opernhäusern zur Uraufführung. „La Esmeralda“ – uraufgeführt am 14. November 1836 in der Salle Le Peletier – war schon vor der in den letzten 20 Jahren stark eingeforderten Auseinandersetzung mit Komponistinnen immer wieder in wissenschaftlichen Publikationen erwähnt worden. Von besonderem Interesse war das Werk, weil der berühmte Victor Hugo der querschnittgelähmten Tochter von Louis-François Bertin selbst das Textbuch nach seinem bis in die Gegenwart häufig adaptierten Roman „Notre-Dame de Paris“ (1831) eingerichtet hatte. Ein Tumult nach einer Vorstellung von „La Esmeralda“, bei dem Bertin eines Plagiats von Berlioz angeklagt wurde, beendete nach vier Bühnenwerken ihre Opernkarriere. In späteren Jahren komponierte sie Kammermusik.

Die Erwartung an die lange als verschollen gegoltene und erst vor kurzem wiederentdeckte Opera semiseria „Fausto“ hatte mehrere Gründe. Zum einen weist der Mitschnitt von „La Esmeralda“ aus Montpellier von 2008 unter Lawrence Foster Louise Bertin als vollgültiges kompositorisches Talent auf Höhe der Entstehungszeit aus. In „La Esmeralda“ erreichte Bertin nicht ganz die hochdramatische Konzentration und musikalische Durchdringung von Giacomo Meyerbeers epochaler Grand Opéra „Les Huguenots“ und Jacques Fromental Halévys „La Juive“, zu denen alle in Paris entstandenen großen Opern der nächsten Jahre in Konkurrenz treten mussten. Aber keineswegs führte die Komponistin Bertin ein Schattendasein. Sie war die Schülerin des als Komponist und Musikschriftsteller hochgeschätzten François-Joseph Fétis. Sie kommunizierte mit den maßgeblichen kulturellen und intellektuellen Zirkeln von Paris. Berlioz widmete ihr seinen Liedzyklus „Les nuits d‘été“, Franz Liszt fertigte den Klavierauszug für „La Esmeralda“ an und in „Fausto“ traten einige der prominentesten Sänger der Zeit auf. Wie zum Beispiel Clara Schumann und die insgesamt 15 Opern komponierende Amalie von Sachsen, welche einen Teil ihres Schaffens als (transparentes) Pseudonym herausgebracht hatte, genoss Bertin hohes Ansehen.

„Fausto“ wurde im Januar 2023 am Aalto Theater Essen fast gleichzeitig wie Augusta Holmès‘ Oper „La Montagne Noire“ (Der schwarze Berg) an der Oper Dortmund als deutsche Erstaufführung und erste Wiederaufführung seit 1895 gespielt. Beide szenischen Produktionen entstanden in Kooperation mit der französischen Stiftung Palazzetto Bru Zane. Im Falle von „Fausto“ war der Essener Produktion eine konzertante Aufführung in Paris und die in der CD-Buch-Reihe von Bru Zane edierte Einspielung unter Mitwirkung des Barockensembles Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset vorausgegangen.

Tatjana Gürbaca (als Margarita-„Einspringerin“ in der Premiere) und der Opernchor des Aalto Theaters Essen. Foto: Forster

Tatjana Gürbaca (als Margarita-„Einspringerin“ in der Premiere) und der Opernchor des Aalto Theaters Essen. Foto: Forster

Die CD präsentierte Bertins bisher noch nicht in einer Bühnenaufführung erklungene Urfassung von „Fausto“. In dieser ist die Titelpartie mit Mezzosopran besetzt. In Essen spielte man dagegen die Fassung der Uraufführung für Tenor. Diese hatte Bertin eingerichtet, als die ursprünglich vorgesehene Besetzung nicht mehr zu Verfügung stand. Die in der Uraufführung engagierten Hauptdarsteller beendeten bald ihre Pariser Engagements. So wurde „Fausto“, dessen musikalische Originalität Rossini und Meyerbeer rühmten, nach nur zwei Folgevorstellungen abgesetzt.

Bis zur Wiederentdeckung von „Fausto“ galten vor allem die französische Übersetzung von Goethes Text durch Gérard de Nerval, die Illustrationen von Eugène Delacroix und Berlioz‘ zwischen Oper und Oratorium stehende dramatische Legende „La damnation de Faust“ als erste Meilensteine einer französischen „Faust“-Rezeption. Delacroix und Berlioz akzentuieren in ihren Adaptionen die phantastischen und hybriden Akzente der Szenenfolge von der Wette zwischen Gott und Teufel, dem Teufelspakt des Mephistopheles mit Faust und die Gretchen-Tragödie. In Delacroix‘ Bilderreihe und Berlioz‘ Partitur ist die Gretchen-Tragödie ein zwar wesentlicher, aber nicht zentraler Moment.

Anders bei Louise Bertin. Bis zum solistischen Beckenschlag, mit dem sie nach Margaritas Verklärung und fast gleichzeitig eintretender Verdammung Fausts in einem martialischen Effekt die Oper beendet, hatte sie die Gretchen-Tragödie adaptiert. Allerdings kommt der Teufelspakt in Bertins Oper als Konsequenz von Fausts Leidenschaft für Margarita, nicht aber wie bei Goethe als Konsequenz aus dem Verjüngungstrank zustande. Bei Bertin treten nur wenige weitere Figuren auf.

Tatjana Gürbaca versetzte mit dem Bühnenbild Marc Weegers das Geschehen in einen Klinikraum. Mephisto erhebt sich aus einem Krankenbett, nachdem Fausto dort einen Körper seziert hatte. Die Liebesgeschichte mit dem Eklat des Kindstods wurde als Experiment, zu dem Faustos Reaktionen auf den Verjüngungstrank gehörten, betrachtet. Der Chor tritt bei Bertin als Stimmen, die Faustos Selbstmord verhindern, als orgiastisches Dämonenensemble, als Freundinnen Margaritas und Volksmasse auf. Der im Vergleich zu um 1830 entstandenen Opern Donizettis und Rossinis relativ umfangreiche Chorpart und Gürbaca boten dem Opernchor des Aalto-Theaters unter Leitung von Klaas-Jan de Groot eine Reihe eindrucksvoller Szenen.

Goethe hatte sich in seinen Gesprächen mit Eckermann eine Musik zu „Faust“ im Stil von Mozart oder Meyerbeer vorgestellt. Den Einfluss von Mozarts Komtur-Klängen aus „Don Giovanni“ hört man in Bertins fragmenthaft angerissenen Sätzen der Ouvertüre. Bertin adaptierte, erweiterte und experimentierte mit umfangreichen Satzgebilden, wie sie Rossini für seine neapolitanischen Opern entwickelt hatte. Somit dürfte Bertins „Fausto“ der kompositorischen Vorstellung Goethes verhältnismäßig nahegekommen sein. Meyerbeer hatte bis zur Komposition von „Fausto“ noch keine seiner epochalen Opern komponiert, aber vor allem mit seiner italienischen Oper „Il crociato in Egitto“ Rossinis Formsprache aufgegriffen und erweitert. Während Bertin „Fausto“ komponierte, arbeitete Bellini an „Il pirata“. „Fausto“ entstand vor den Hauptwerken Donizettis, vor Berlioz Symphonie phantastique (1830) und parallel zu dessen „Huit scènes de Faust op. 1“. Vor allem ist „Fausto“ also durch das von Bertin dramatisch aufgeladene Kolorit, ihre auffallende Bemühung um eine effektive Instrumentation und teils sehr anstrengende Vokalsätze ein Dokument für die kompositorische Aufbruchstimmung einige Jahre kurz vor den orchestralen Erweiterungen durch Berlioz und Wagner. Möglicherweise wäre das Erleben von „Fausto“ für das Essener Publikum einfacher gewesen, hätte man sich für eine eher konventionelle Wiedergabe entschieden. Andreas Sperings Dirigat betonte mit den Essener Philharmonikern die Schroffheit, aber auch Bertins Bezüge zur Vergangenheit anstelle ihres in die Zukunft der 1830er-Jahre weisenden kreativen Potenzials. Nicht erkennbar wurde in der ersten Aufführung nach fast 200 Jahren, warum der „Faust(o)“-Stoff beim Pariser Publikum eine solche Sensation war. Die Versachlichung durch ein medizinisch-wissenschaftliches Ambiente durch das Inszenierungsteam war genau das Gegenteil von dem, was Bertin mit ihrer Stoffwahl offenbar bezwecken wollte. Sie durchfurchte als eine der ersten das halb-ernste Operngenre, zu dem im italienischen Fach Titel wie Rossinis „La gazza ladra“ und Bellinis „La sonnambula“ gehörten, mit phantastischen Akzenten, wie sie durch die Beliebtheit von Webers „Freischütz“ in Paris und vor allem wenig später durch Meyerbeers „Robert le diable“ zum Kult werden sollten.

Roland H. Dippel

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