Kulturpolitik
Auf ein Wort mit Christian Spuck, Intendant des Berliner Staatsballetts
Im Gespräch mit Barbara Haack und Gerrit Wedel
Oper & Tanz: Bevor Sie nach Berlin gekommen sind, gab es eine nicht ganz glückliche Phase in der Leitung des Staatsballetts – mit einer Doppelspitze, die mit einer Petition namens „Rettet das Staatsballett“ begrüßt worden war und auch nicht lange geblieben ist. Wie war Ihr Start vor diesem Hintergrund und nach dieser Vorgeschichte?
Christian Spuck. Foto: Marzena Skubatz
Christian Spuck: Dank Christiane Theobald hatte ich schon in der Spielzeit vor meinem Amtsantritt einen Beratervertrag. Ich konnte diese letzte Spielzeit künstlerisch mitgestalten und hatte die Möglichkeit, die Compagnie lange zu beobachten. Ich konnte bereits mit allen 120 Mitarbeiter*innen Gespräche führen, Proben begleiten und hatte dann die Möglichkeit, durch die Premiere und Einstudierung von „Messa da Requiem“ das Ensemble genauer kennenzulernen. Ich habe ein hochmotiviertes Ensemble vorgefunden, aber auch Orientierungslosigkeit gespürt. Zu Beginn dieser, meiner ersten, Spielzeit war im Ensemble durchaus Nervosität zu spüren, bei mir ebenso. Aber wir sind relativ schnell in einen guten Findungsprozess gekommen. Wenn neue Künstler*innen hinzukommen, ist die Frage, ob diese sich mit der Compagnie verbinden, ob sie eins werden. Nach sechs Monaten hat sich das sehr gut eingespielt. Ich habe ein Ensemble vorgefunden, das voller Hoffnung ist und voller Lust auf einen Neuanfang.
O&T: Wie schafft man es dann, einer so großen Compagnie Orientierung zu geben?
Spuck: Ich denke, das Wichtigste ist, vor Ort und präsent zu sein. Das Zweitwichtigste ist es zuzuhören, nicht nur in individuellen Gesprächen, sondern auch in Probenprozessen; zu schauen, wie die Künstler*innen und Mitarbeiter*innen miteinander umgehen, dem ein wenig nachzuspüren und sich darauf einzulassen. Nicht gleich zu sagen: Ich weiß es besser, sondern vorsichtige Reformschritte zu machen, die nur möglich sind, wenn man den Status quo und auch die Ängste und Sorgen verstanden hat. Das hört sich einfach an, ist aber ein komplexer Vorgang. Es bedarf sehr viel Kraft und Verständnis – und auch Geduld. Man kann gerade in künstlerischen Betrieben nichts erzwingen.
O&T: Sie waren vorher in Zürich. Was unterscheidet Berlin von Zürich in Bezug auf die Compagnie, aber auch auf das Publikum?
Spuck: Das Ballett Zürich ist viel kleiner und eingebunden in nur ein Opernhaus mit einer gewissen Schutzfunktion. Dort war ich Ballettdirektor, hier bin ich Intendant. Es kommt also ein großes Aufgabenfeld hinzu. Ich konnte in Zürich noch mehr Zeit im Studio verbringen, konnte noch näher an den Künstler*innen sein, während ich hier merke, wie viel Schreibtischarbeit anfällt und wie sehr der Betrieb momentan meine Aufmerksamkeit braucht.
„Bovary“. Foto: Serghei Gherciu
In Zürich war das Publikum in den letzten Jahren einfach immer da. Wir waren zu Beginn der Spielzeit für die ganze Saison ausverkauft. Die Zuschauer*innen waren auch sehr enthusiastisch, oft gab es stehende Ovationen. Ich hatte befürchtet, dass ich Jahre brauchen würde, um das auch in Berlin zu schaffen. Aber es funktioniert hier ebenfalls. Wir haben derzeit eine Auslastung von 97 Prozent in der laufenden Spielzeit. Bei fast jedem Forsythe-Abend steht das Publikum, und ich habe mich sehr gefreut, dass die Eröffnungspremiere gut angekommen ist. Das war aus meiner Sicht nicht nur in Bezug auf das Publikum wichtig, sondern auch für den Betrieb, für die Künstler*innen und Mitarbeiter*innen.
O&T: Wenn Sie von der Eröffnungspremiere sprechen, meinen Sie damit „Bovary“. Das Stück haben Sie selber choreografiert. Was hat Sie an dem Stoff so begeistert, dass Sie ihn für den Start in Berlin ausgewählt haben?
Spuck: Der Stoff hat mich schon lange beschäftigt. Ich finde das Grundthema spannend: sich selbst zu inszenieren, mit der eigenen Wahrheit nicht zurechtzukommen, sondern einer Idee, einer Vision von sich selbst hinterher zu leben und diese auch zu kreieren. Das ist ja etwas, das im Moment bei uns durch die sozialen Medien leider immer mehr zum Lebensmittelpunkt wird. Niemand inszeniert sich dort so, wie er wirklich ist. Deswegen fand ich das Thema wichtig; es ist immer noch relevant. Ich habe mich für diesen Stoff begeistert und auch für diese wunderbare Sprache.
O&T: Spielt die Sprache in Ihrer Inszenierung eine Rolle?
Spuck: In der Produktion werden einzelne Kapitel mit Originalzitaten aus dem Werk angekündigt, mit einer Stimme aus dem Off, die die Situation von Emma beschreibt. Manchmal wird allerdings etwas anderes beschrieben als auf der Bühne zu sehen ist. Mir war es wichtig, dass dieser Sprachklang und diese unglaubliche Dichte des Textes von Flaubert auch in der Produktion präsent sind.
O&T: Emma Bovary ist eine Frauengestalt, die wir als Frauen heute nicht mehr nachahmen wollen. Hat das Thema Emanzipation eine Rolle gespielt?
Spuck: Es spielt immer eine Rolle, besonders wenn ich als Mann gemeinsam mit Frauen dieses Werk entwickle. Als Mann eine Frauenfigur zu kreieren geht nur im Dialog – in diesem Fall mit den Tänzerinnen Weronika Frodyma und Polina Semionova. Zunächst wollen sie das Material kennenlernen, und erst wenn sie das choreografische Material verstanden haben und es an die szenische Umsetzung geht, kommen die Fragen: Wer bin ich? Was erzähle ich in dem Moment? Ich fand es sehr beeindruckend, dass viele Mitglieder des Ensembles das Buch mehrfach gelesen und sich Filme angesehen hatten und dann in den Proben auch Fragen dazu hatten. Das Spannende ist, dass im Vergleich zum Beispiel mit Anna Karenina Emma Bovary gar keinen Emanzipationsprozess hat. Sie ist nur mit sich selbst beschäftigt. Sie sucht nur das eigene Glück und will geliebt werden. Dass sie dafür so aus der Gesellschaft ausbricht, vermittelt eine Farbe von Emanzipation. Emma versucht sich sexuell zu befreien und anders zu leben, aber sie kämpft nicht für die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft.
O&T: Und sie findet das Glück nicht, das sie gesucht hat.
Spuck: Ich frage mich auch, ob man das Glück finden kann, wenn man es sucht. Sie kann es nicht finden: Angesichts der Art und Weise, wie sie es sucht, wäre die Erfüllung gleichzeitig ihr Ende. Sie lebt davon, dass sie diesen Druck spürt, dieses Drama, diese Suche nach Liebe. Wenn wir erreichen, wonach wir uns sehnen, ist es fast wie eine Implosion. Dann hört es auf, dann ist es erschöpft.
O&T: Sie sagten, die Tänzer*innen wollen zuerst die Choreografie kennenlernen und sich dann an die szenische Erarbeitung machen. Haben Sie die Choreografie schon zu Beginn komplett ausgearbeitet? Ist das nicht eigentlich ein Prozess, der erst im Schaffen entsteht?
„Bovary“ mit Weronika Frodyma als Emma Bovary. Foto: Serghei Gherciu
Spuck: Ich hatte vor etwa 15 Jahren ein Schlüsselerlebnis. Ich war als junger Choreograf eingeladen worden, bei einem Workshop des New York City Ballet zu arbeiten. Ich sollte eine achtminütige Choreografie für sechs Tänzer*innen machen. Ich war extrem aufgeregt, habe mich intensiv vorbereitet und wusste ganz genau, auf welchen Takt welche Bewegung erfolgen soll. Ich war ganz stolz, dass ich so gut vorbereitet war, bis der Ballettmeister sagte: „Du bist richtig gut vorbereitet; das ist aber schade. Auf diese Weise wiederholst du dich nur selbst. Du schöpfst aus dem, was du kennst, und verzichtest auf alles, was im Dialog mit dem Tänzer entstehen kann.“ Das habe ich mir sehr zu Herzen genommen und habe mich danach getraut, unvorbereitet in die ersten Proben zu gehen. Jetzt ist das für mich ganz normal.
O&T: Wie war es konkret bei „Bovary“?
Spuck: Eine Produktion wie „Bovary“ braucht zwei Jahre Vorbereitungszeit. Zu Beginn setze ich ein Konzeptionsgespräch an, in dem ich meinem künstlerischen Team erkläre, worum es geht. Dann entsteht das Bühnendesign, das Kostümdesign und die Musikauswahl. Wenn ich in die erste Probe gehe, weiß ich, welche Szene ich proben will, was wir in dieser Szene erzählen wollen, welche Musik wir spielen (die Partitur kenne ich meistens auswendig), ich weiß aber noch keinen einzigen Schritt. Ich fange dann gemeinsam mit den Tänzer*innen an, die Musik zu hören. Ich markiere eine Bewegung nur mit den Händen. Dann fangen sie an, das umzusetzen, und es entsteht ein Dialog. Ich leite sie, und irgendwann übernehmen sie selbst, finden eigene Phrasierungen. Dann entsteht die Choreografie, und wenn die Szene fertig ist, kommen die Fragen: Warum diese Bewegung, warum jetzt? Bin ich verzweifelt? Bin ich glücklich? Dann beginnt die Arbeit als Regisseur. Dieser Prozess macht besonders mit solchen großartigen Künstler*innen wie hier in Berlin viel Spaß.
O&T: Braucht man dann als Choreograf nicht auch noch ein Musikstudium?
Spuck: Ich kenne viele Kolleg*innen, die das ganz intuitiv machen, die auch keine Noten lesen können. Ich hatte das Glück, dass ich gelernt habe Partituren zu lesen. Das ist natürlich von Vorteil. Aber es gibt auch den/die Korrepetitor*in in den Proben, der oder die sich freut, in den Prozess einbezogen zu werden.
O&T: In Berlin verantworten Sie das gesamte Programm. Was sind die Highlights dieser Spielzeit, gibt es einen roten Faden?
Spuck: Mein Wunsch und der meines Teams ist es, dass wir sehr gerne aus dieser großartigen Compagnie eine noch stärker kreierende Compagnie machen wollen. Auf der einen Seite wollte ich viele Neuproduktionen aufgleisen. Kreieren heißt aber auch, bestehende Produktionen neu zu durchdenken und neu zu bearbeiten.
William Forsythes‘ „Approximate Sonata“ mit Cohen Aitchison-Dugas und Weronika Frodyma. Foto: Yan Revazov
Wir hatten das Glück, dass William Forsythe uns zugesagt hat, drei Wochen bei uns zu arbeiten. Er hat hier zum Beispiel „Approximate Sonata 2016“ komplett neu erarbeitet. Er hat während der Arbeit mit den Tänzer*innen die Choreografie umgestaltet. Er hat den Tänzerinnen und Tänzern zugehört und zugeschaut und war dadurch neu inspiriert. Als ich nach der zweiten großen Probe auf die Bühne ging, war das komplette Bühnenbild verschwunden, auch die Kostüme waren verändert. Er hat aus dem Stück, das 1996 entstanden ist, erneut eine komplette Neufassung gemacht. Das kann auch ein kreativer Prozess sein.
Allerdings müssen wir zwischen 100 und 110 Vorstellungen in einer Spielzeit meistern, was sehr wenig Zeit zulässt für neue Kreationen. Das ist immer ein Kampf um die Probenzeit. Wichtig ist mir, dass die Choreografinnen und Choreografen hier vor Ort sind und mit den Tänzer*innen arbeiten. Und ich wünsche mir, dass wirklich jeden Tag hinterfragt wird: Was machen wir eigentlich? Wofür machen wir das? Was möchten wir erzählen? Das scheint gut anzukommen bei den Tänzerinnen und Tänzern.
O&T: Früher gab es drei Ballettcompagnien, die dann zu einer Compagnie zusammengewachsen sind. Ist dieses kreierende Element das, was diese Compagnie zusammenschweißt?
Spuck: Wir haben ca. 80 Tänzer*innen und insgesamt 120 Mitarbeiter*innen. Dieses Kreative muss natürlich in allen Bereichen, auch in den Büros, gelebt werden. Mein Wunsch ist, dass alle Mitarbeiter*innen und Künstler*innen das Gefühl haben etwas dazu beizutragen, dass eine Premiere stattfinden kann. Jeder und jede hat eine Wertigkeit. Nur dann kann es funktionieren und ein Zusammenhalt entstehen.
Trotzdem gibt es hier jeden Tag auch Probleme, es gibt Konflikte, manchmal auch Tränen und viele Gespräche. Das gehört dazu, aber ich hoffe, dass alle wahrnehmen, dass die Leitung präsent ist und unterstützen möchte. Das Wichtigste ist zuzuhören.
O&T: Sie haben von der „Schutzfunktion Opernhaus“ gesprochen. Es gibt in einem großen Betrieb immer ein Gewerk neben dem anderen. Es ist ein Betrieb, der auf der einen Seite Schutz bietet, auf der anderen Seite aber auch Anonymität schafft.
Spuck: In Zürich war es so, dass alle sich kannten, die Musiker*innen, die Techniker*innen, die Tänzer*innen. Dadurch entstand eine Nähe. In Berlin haben wir drei Opernhäuser. Allein die Planung ist hochkompliziert und schwierig. Es ist nicht so einfach, sich von drei Requisitenabteilungen die Namen zu merken, von den Beleuchtungsabteilungen, von allen Bühnenarbeiter*innen. In dem Moment, in dem ich die Mitarbeitenden mit Namen anspreche, präsent bin in den Vorstellungen, nach der Vorstellung eine Kritik liefere oder sage, wie toll es geklappt hat, arbeiten sie ganz anders. Sie fühlen sich wahrgenommen.
O&T: Wie erleben Sie die Struktur der Stiftung Oper in Berlin als Intendant, der auch mit Verwaltung und Politik zu tun hat?
Spuck: Es ist auf der einen Seite ein Geschenk, dass wir an drei weltberühmten Opernhäusern auftreten können. Die Komische Oper kommt wegen des Umzugs erst ein bisschen später dazu. Aber es ist in der Planung irrsinnig kompliziert, auch in Bezug auf die Wiederaufnahmen. Also arbeite ich an einer besseren Planung der Abläufe. Ganz oft unterliegen wir den Gegebenheiten der Häuser und es ist schwierig, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Grundsätzlich ist die Zusammenarbeit mit den Häusern aber extrem positiv. Man hört aufeinander, man unterstützt sich gegenseitig. Es ist auf jeden Fall ein Unterschied, ob man in einem Haus arbeitet oder in einer großen Stiftung, bei der man dann ja auch relativ schnell mit der Politik in Berührung kommt. Das ist neu für mich, und es ist sehr aufregend.
O&T: Gibt es keine Konkurrenz zum Beispiel in der Frage der Finanzierung, gerade in einer Zeit, in der die Kassen nicht gerade voll sind?
Spuck: Ich glaube, dass der Konkurrenzgedanke unter den Opernintendanten größer ist als bei uns. Wir sind als Staatsballett in Berlin und in ganz Deutschland die größte Ballettcompagnie, das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Es gibt eine großartige Tanzszene hier in Berlin, die ich aber nicht als Konkurrenz sehe, sondern als Inspiration.
O&T: Sie haben gerade auch von Problemen, Tränen und Konflikten gesprochen. Da bleibt es nicht aus, das Thema #MeToo zu erwähnen, das ja auch die Ballettszene betrifft. Wie gehen Sie damit um? Welche Möglichkeiten der Prävention oder der Unterstützung von Betroffenen gibt es?
Spuck: Wir haben in der Stiftung Oper in Berlin verschiedene zuständige Mitarbeiter*innen wie Konfliktberater*innen oder Frauenbeauftragte. Manchmal haben wir auch hier in der Leitung die Situation, dass wir vor einem schwierigen Gespräch stehen und uns überlegen müssen, wie wir vorgehen, ohne verletzend zu sein. Wir haben zum Glück eine konstruktive Nähe zum Ballettvorstand entwickelt, der uns dann auch Feedback gibt, wie bestimmte Dinge bei den Künstler*innen ankommen.
Ab der nächsten Spielzeit wird das Education-Programm TiK! (Tanz ist KLASSE!) eine eigene Abteilung des Staatsballetts sein. Das war vorher ein eigener Verein. Ich habe jetzt auch einen regelmäßigen jour fix mit den Mitarbeiter*innen, die das leiten. Da ist es sehr spannend zu hören, wie schwer es ist, an bestimmten Brennpunktschulen zu unterrichten. Auch da gab es den Wunsch, professionelle Gesprächsbegleitung zu bekommen, die dabei unterstützt, mit der Situation zurechtzukommen. Education ist wichtig, aber eben auch schwierig.
O&T: Das heißt, dass diese Nachwuchsarbeit zukünftig auch mehr Bedeutung erhält?
Spuck: Das TiK!-Programm, das ich vorgefunden habe, ist sehr breit aufgestellt und ich habe es als ein Geschenk empfunden. Deshalb haben wir das ganz schnell unter den Mantel des Staatsballetts Berlin geholt, um die Mitarbeiter*innen zu unterstützen, um es noch weiter auszubauen und auch die Kontakte zu den Künstler*innen zu intensivieren. Sie sollen zum Beispiel mitgehen in eine Schule, oder es gibt Gespräche nach einer Vorstellung. Viele Tänzer*innen hier wissen gar nicht, was da geleistet wird; so haben sie die Möglichkeit, einmal über ihren Tellerrand hinaus Erfahrungen zu machen.
#MeToo ist aber auch ein Thema hier am Haus. Wir haben zum Beispiel eine non-binäre Tänzerin (sie möchte selbst in der weiblichen Form genannt werden) in der Compagnie – und hatten neulich einen ebenfalls non-binären Gast aus Hamburg. In solchen Situationen wird deutlich, in welch altem System wir noch leben. Es gibt an der Deutschen Oper eine Herren- und eine Damenseite, eine Herren- und eine Damentoilette. An diesen alltäglichen Gegebenheiten arbeiten wir und wollen auch ein wenig Vorreiter sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt.
O&T: Es gibt immer wieder auch von #MeToo betroffene Menschen, die sich nicht trauen, sich zu Wort zu melden, weil sie Angst vor Konsequenzen haben. Haben die eine Chance, unterstützt zu werden?
Spuck: Da gibt es die Möglichkeit von Vertrauenspersonen, die auch innerhalb der Compagnie gewählt sind. Es gibt die Möglichkeit, zum Vorstand oder zu den Konfliktberater*innen oder Frauenbeauftragten zu gehen. Betroffene müssen nicht unbedingt zur Leitung kommen. Von meiner Seite besteht immer das Angebot der offenen Tür. Und Betroffene können auch immer jemanden vom Ballettvorstand mitbringen, um unterstützt zu werden. Wir kommunizieren das regelmäßig. Es hängt bei uns auch groß aus, wo es Kontaktmöglichkeiten gibt.
O&T: Ein weiteres Thema ist die Diskriminierung. Wenn, wie es in dem von Correctiv aufgedeckten Geheimtreffen vorgeschlagen wurde, eine „Remigration“ stattfinden soll, gäbe es in Deutschland vermutlich keine Ballettcompagnien mehr, weil so viele unterschiedliche Nationen in den Ensembles vertreten sind. Wie kommt das in Ihrem Haus an? Bewegt es die Tänzer*innen?
Spuck: Wenn so etwas wie Remigration stattfinden sollte, dann wird unsere Gesellschaft in Europa nicht mehr funktionieren. Das ist etwas zutiefst Menschenverachtendes. Wir machen das hier allerdings nicht aktiv zum Thema. Es ist nicht unsere Aufgabe im Betrieb Politik zu machen. Aber wenn das aufkommt und zum Gespräch wird, hören wir natürlich zu und reagieren darauf. Wir besprechen außerdem immer in der Leitungs- und Marketingrunde das politische Tagesgeschehen. Wir besprechen es vor allem auch in Bezug auf die sozialen Medien, mit denen wir nach außen gehen: Müssen wir reagieren? Sollen wir ein Statement abgeben? Vom Betrieb selbst kommt glücklicherweise fast niemand zu uns, der sich bedroht fühlen könnte.
In einem Fall hat sich allerdings durchaus jemand bedroht gefühlt. Er hat das Gespräch mit mir gesucht, weil er sich nicht mehr in der Lage sah, zur Arbeit zu kommen. Nach langen Gesprächen gab es den Wunsch, das mit der gesamten Compagnie zu besprechen. Das haben wir gemacht. Wir haben eine „Bovary“-Bühnenprobe 20 Minuten früher beendet, und ich habe diese Ängste zum Thema gemacht. Ich war dann ein bisschen erschrocken, wie wenig manche Tänzer*innen über die politische Situation wussten. Wir mussten erst einmal informieren, um Verständnis zu erzeugen. Wir haben dann gemeinsam entschieden, wie wir diesen Kollegen schützen können. Hinterher sind viele Tänzer*innen auf mich zugekommen und haben deutlich gemacht, dass sie es gut finden, dass so etwas gemeinsam besprochen wird – und das auch noch in der Arbeitszeit!
O&T: Wenn Sie solche Themen in der Leitungsrunde besprechen, heißt das auch, dass Sie sich in der Verantwortung fühlen sich zu positionieren?
Spuck: Wir sind eine führende kulturelle Institution, wir haben eine gewisse Verantwortung, auf gesellschaftliche Strömungen zu reagieren. Wir haben aber keinen politischen Auftrag. Wir möchten sehr reflektiert sein über das, was in der Welt passiert und sehen uns auch in einer besonderen Verantwortung, uns dazu zu positionieren.
O&T: Es wird ja immer wieder moniert, ob zu Recht oder nicht, dass die Kultur sich nicht ausreichend positioniert.
Spuck: Mir erscheint, dass das Problem die allgemeine Angespanntheit in der Kommunikation und die Vereinfachung von Positionen ist, ob Berlinale, Antidiskriminierungsklausel oder documenta fifteen. Wichtig finde ich, wenn man etwas kommuniziert, dass es ein Bewusstsein deutlich macht und Raum für Diskussionen schafft, also konfliktentschärfend ist. Und das passiert zu selten.
O&T: Ein weiteres Thema ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Ein Vorzeigehaus wie das Staatsballett hat ja eine gewisse Vorreiterrolle, und wir werden demnächst gemeinsam im Rahmen eines Haustarifvertrags über weitere Verbesserungen verhandeln. Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse von Compagnien. Wo sehen Sie den großen Fokus für das Staatsballett, das in gewisser Weise diesen Vorzeigecharakter hat?
Spuck: Grundsätzlich möchte ich für den Betrieb hier die bestmöglichen Arbeitsbedingungen schaffen, bei denen sich alle wohl fühlen und bei denen wir unserer Aufgabe gerecht werden. Wenn das funktioniert und das zum Modell werden sollte, fände ich es großartig. Aber ich glaube, es muss immer aus dem Betrieb selbst herauswachsen.
Unsere Gespräche mit dem Ballettvorstand zum Beispiel sind sehr konstruktiv. Wir haben gemeinsam das Ziel, eine Lösung zu finden, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Ich habe den Ballettvorstand am Anfang meiner Intendanz ganz anders erlebt. Dieses Aufeinanderzugehen, Miteinanderkommunizieren ist immer ein Geben und Nehmen. Wenn das alle verstehen und man eine Balance findet, dann ist es in Ordnung. Wenn es dann gut funktioniert, wenn die Welt das mitbekommt und wir eine Art Leuchtturm werden, dann ist das großartig. Aber das kann nicht die Hauptmotivation sein. |