Berichte
Der stumme Schrei der Elektra
Richard Strauss‘ Oper am Theater Lübeck
Elektra kann nicht tanzen, Triumph steht ihr nicht an, sie beherrscht nur stumme Trauer. Ihr wie zum Schrei aufgerissener Mund formt den Namen des geliebten, von ihrer Mutter und deren Liebhaber ermordeten Vaters: „Agamemnon!“ War das Publikum knappe zwei Stunden gebannt und geschockt vom antiken Familien- und Psychodrama, das Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal in einer bis in die Tiefe der Seele schneidenden Dichte von Wort und Ton geschaffen haben, so ging am Ende das, was unsagbar blieb, noch tiefer unter die Haut.
Kammersängerin Brigitte Fassbaender hat „Elektra“ im Lübecker Jugendstiltheater inszeniert, die Premiere am 27. Januar 2024 sorgte bereits für begeisterte Beifallsstürme. In der dritten Aufführung am 18. Februar schienen der Schmerz, die seelische Angreifbarkeit und die Unerträglichkeit der Gesamtsituation für die Protagonistinnen noch greifbarer.
Trine Møller (Elektra) und Edna Prochnik (Klytämnestra). Foto: Jochen Quast
Die Produktion ist geprägt von einer höchst werkgetreuen Arbeit mit dem Libretto und den daraus sprechenden (familien-) psychologischen Abgründen, einer phantastischen Personen- und Bewegungsregie und drei Hauptdarstellerinnen, die in faszinierender Vielschichtigkeit diese allesamt unglücklichen Frauen zum ergreifenden Leben erwecken.
Das von Falk Hampel beleuchtete Bühnenbild von Bettina Munzer ist reduziert und, ebenso wie ihre Kostüme, zeitlos-modern. Aus der Uniformität der Bediensteten stechen die Kleider der Protagonisten heraus und betonen ihre jeweiligen Charakterzüge. Schauplatz des Dramas ist ein Komplex aus einfachen Gebäudeteilen und einer schlichten Pergola, was Aktionen zwischen vorne und hinten, oben und unten, innen und außen erlaubt. Kaum merklich, aber genial wirkungsvoll ist ein optischer Trick, nämlich ein Rahmen der Bühnen-Architektur, der die Profilierung des Proszeniums aufnimmt und so die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühnen-Innerem aufweicht; das sorgt für noch mehr Unmittelbarkeit.
Gesanglich und spielerisch einzigartig gibt die dänische Sopranistin Trine Møller eine deutlich autistische Elektra mit bedrückender Seelentiefe. In Pyjama und Handschuhe des schmerzlich vermissten Vaters gekleidet, ist sie nur noch Werkzeug ihrer eigenen Manie und Rachsucht. Hervorragende Textverständlichkeit im tiefsten Sinne des Inhalts verbinden sich bei ihr mit einer glutvollen, oft harten Diktion, dann wieder mit weichem Timbre, das ihre seelische Verwundung ahnen lässt.
Ebenfalls Werkzeug ihres blutigen Plans ist auch Elektras Schwester Chrysothemis, die sich aber danach sehnt, ein ganz normales Familienleben zu führen. Lena Kutzner spielt diese junge Frau, die vor der Bluttat zurückschreckt und einfach nur heraus will aus diesem Irrsinn. Ihr schmiegsamer Sopran und ihr ausdrucksstarkes Spiel formen sowohl schwärmerische Mädchenhaftigkeit als auch tiefste, zu Herzen gehende Verzweiflung; ebenso wie die Titelheldin hat sie keine Mühe, sich gegen das mächtige Orchester zu behaupten – eine beeindruckende Leistung!
In Darstellung und gesanglicher Größe steht Edna Prochnik als Klytämnestra den beiden Schwestern in nichts nach. Bestechend ist die Gestaltung dieser Rolle in all ihrer Boshaftigkeit – welche Mutter bringt es sonst über sich, über den Tod eines ihrer Kinder höhnisch zu lachen? – mit all ihrer Angreifbarkeit, inneren Zerrüttung und einem Rest an Sehnsucht nach Nähe, sogar zu Elektra. Die Sängerin verleiht der Rolle eine Vielschichtigkeit, die das Ganze noch unerträglicher, weil realistischer macht. Einen bösen Menschen zu verurteilen ist leicht – sich einer kaputten Seele zu nähern, verschafft Beklemmung.
Alle kleineren und Nebenrollen sind großartig besetzt, so gibt der Bass Rúni Brattaberg den Orest und Tenor Wolfgang Schwaninger den Aegisth. Als Mägde und Bedienstete erscheinen allesamt überzeugend Andrea Stadel, Natalia Willot, Laila Salome Fischer, Elvire Beekhuizen, Elizaveta Rumiantseva, Therese Fauser und Frederike Schulten, bei den Männern beeindrucken Noah Schaul, Changjun Lee und Laurence Kalaidjian.
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter GMD Stefan Vladar spielt brillant, stark und akzentuiert. Diese Musik ist schrecklich und wunderschön; vor allem lässt sie niemanden kalt, zumal in dieser Produktion.
Andreas Ströbl |