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Berichte
Distanzierte Sehnsucht
»Eugen Onegin« am Münchner Gärtnerplatztheater
München hat eine Tradition mit speziellen Theaterformen, zum Beispiel ein herrlich weites, edles Oval, in der zentralen Loge im Balkon ein paar Menschen, etliche weitere im weiten Rund: Das waren die berühmten Separatvorstellungen für König Ludwig II. ab 1872. Ganz ähnlich wirkten jetzt die rund 300 Besucher der Premiere im Gärtnerplatztheater mit seinen 900 Plätzen in Parkett und vier Rängen – eine kulturpolitische Absurdität im bis 2019 totalrenovierten Komplex mit der modernsten Lüftungsanlage aller Münchner Theater – während vollbesetzte Flieger vom Airport starten dürfen…
Emma Sventelius (Olga), Alexandros Tsilogiannis (Lenski), Matija Meic (Onegin), Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: Christian Pogo Zach
Der dankbar herzliche Applaus schloss am Ende alle mit ein, auch wenn das Bühnenteam den hörbar schwächeren Beifall für sich registrieren konnte. Das lag nicht an den Corona-Vorgaben, speziell den Distanz-Vorschriften für alle Bühnenfiguren. Regisseur Ben Baur hatte mithilfe von Uta Meenens Kostümen das Werk in der zaristischen Gesellschaft angesiedelt, wo „Distanz“ zur gesellschaftlichen Konvention gehörte. So sangen die Bauernchöre erst schön brav und breit „vor der Herrschaft“ aufgestellt, tanzten derb auf der Stelle – überzeugend gelöst. Später im St. Petersburger Palast des Fürsten Gremin: Ein Walzer, auch eine Polonaise können ja durchaus mal mit sehnsuchtsvoll ausgestreckten Armen, aber ohne Handberührung getanzt werden – eben gesellschaftliche Form vor Bewegungsfreude (Choreinstudierung: Felix Meybier; Choreografie: Lillian Stillwell). Auch in der „Liebe“ galten ja Zucht und Ordnung, was Olga und Lenski temperamentvoll, Tatjana und Onegin weniger überzeugend steif vorführten. Da begann Regisseur Baur sich selbst ein Bein zu stellen. Onegins „weltmännisches Gehabe“ bis zur kühlen Arroganz war nicht gut inszeniert und ließ wünschen, dass Regisseur wie Sänger einmal die Körpersprache in John Crankos genialem „Onegin“ studieren. Warum Baur diesen Onegin durchweg, bis in Fürst Gremins Ballsaal, in Hemdsärmeln und Reitstiefeln auftreten ließ, blieb sein Regie-Geheimnis. Wollte er das Ganze als Tatjanas „Traum zurück“ – von der ersten Pose im Vorspiel bis zur Schlussszene einschließlich irrealer Auftritte eines Tatjana-Kindes – zeigen? Baurs Lichtregie jedenfalls (realisiert zusammen mit Michael Heidinger) banal bis „nicht existent“… Als sein eigener Bühnenbildner ließ Baur sein Halbrund aus hohen Lamellentüren, ein paarmal quer gezogenen Vorhängen zur Schaffung eines „Zimmers“ und ein paar Stühlen keine „Rolle“ spielen.
Ganz anders die musikalische Seite der Premiere. Der von den Theaterarchitekten Achatz beim Umbau raffiniert bis zum Äußersten vergrößerte und akustisch verbesserte Graben bleibt für ein großes Tschaikowsky-Orchester zu klein – gar Distanz für die Musiker: unmöglich. Die Lösung: Das Staatstheater leistete sich eine reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow, einem selbst komponierenden Tschaikowsky-Kenner. Die 24 Instrumentalisten brachten unter Chefdirigent Anthony Bramall nicht nur die großen Highlights der Partitur – Tatjanas Briefszene, Lenskis Todesahnung, Onegins Verzweiflung, Gremins Liebesbekenntnis – zum Klingen; sie gaben dem Ganzen einen Hauch von salonartigem Kammerkonzert, was „Tschaikowsky-nahe“ klang. Eine gelungene Adaption über Corona-Beschränkungen hinaus.
Deswegen hätten alle Sänger weniger „Premieren-Power“ geben, noch mehr zum Partner statt ins leer tönende Theaterrund singen können. Dafür gelang Juan Carlos Falcón mit Triquets Couplet
ein fein ziseliertes Kunststückchen vor allen anderen guten Nebenfiguren. Sava Vernić war ein volltönender Fürst Gremin mit alles überragender Bühnenerscheinung. Anna-Katharina Tonauers Olga klang mädchenhaft gegenüber der hörbar gereiften Camille Schnoor: Ihre Tatjana besaß Gefühlstiefe und gebändigte Leidenschaftlichkeit bis hin zur Ohrfeige für Onegins Duell-Provokation, zu Recht viel Beifall für ihre Briefszene. Mathias Hausmanns runder, kerniger Bariton passte genau für den überheblichen Gesellschaftslöwen und -verächter Onegin. Tenor Lucian Krasznec stand in München vor dem Trauma, gegen das seit 1962(!) unübertroffene, todesverschattete Ideal von Fritz Wunderlichs „Wohin, wohin…“ als Lenski anzusingen – und das gelang vom gehauchten Pianissimo bruchlos in den schmerzlichen Ausbruch – bravo! So bewies der Abend: Herrlich, wieder musikalisches Theater zu erleben! – Und: Ein realitätsnahes Kunstministerium könnte locker 600 Besucher im Theaterrund erlauben!
Wolf-Dieter Peter |