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Berichte

Auf den Inseln der Einsamkeit

Stefano Giannettis Tanzabend „Toccata 20“ in Dessau

Jede neue Ballettkreation, die nach diesem Sommer unseres Missvergnügens auf eine Bühne kommt, hat die Pandemie und ihre Folgen nicht nur im Blick, sondern ist eine unmittelbare Reaktion darauf. Das ist bei Stefano Giannetti in Dessau nicht anders als bei John Neumeier in Hamburg, Mario Schröder in Leipzig oder Can Arslan in Halberstadt. Die Abstandsregeln grätschen bei jedem Training und jeder Aufführung dazwischen und verlangen kreative Anpassung bei den Ideen und ihrer Ausführung. Dabei kann durchaus (im doppelten Wortsinn) ein großes Ballett rauskommen. Es kann aber auch ein eher kleinformatiges Versprechen auf das werden, was noch kommen soll. So wie jetzt in Dessau.

Die kleine dortige Ballettsparte hat ihre Meriten und seit Beginn der Spielzeit 2019/2020 einen neuen Ballettdirektor und Chefchoreografen. Giannetti musste nach seinem Einstieg zunächst einen bösen Bühnenunfall auskurieren. Dann kam Corona.

Marcos Vinicius dos Anjos und Martin Anderson. Foto: Claudia Heysel

Marcos Vinicius dos Anjos und Martin Anderson. Foto: Claudia Heysel

Bei der Uraufführung von „Toccata 20“ kann er jetzt immerhin den Bauhaus-Heimvorteil für sich und seine Truppe nutzen. Ein Gedanke, der mit Blick auf die jüngere Geschichte des Hauses naheliegt. In den Jahren 2013 bis 2015 wurde der Nibelungen-Ring unter anderem deshalb zum größten Erfolg des damaligen, regieführenden Intendanten André Bücker, weil er ihn als eine ästhetische Reminiszenz an die Klassische Moderne inszenierte. Beim neuesten Tanzabend von Giannetti soll eine Ikone aus dem Umfeld der Bauhaus-Ästhetik zum Leben erweckt werden. Jedenfalls teilweise. Getanzt wird im Erdgeschoss des neuen Bauhaus-Museums. Der Ballettchef hat seine kleine achtköpfige Gruppe nochmal in zwei Besetzungen aufgeteilt. Wer also die gesamte Truppe kennenlernen will, müsste sich zwei Mal das gleiche Stück ansehen.

Die berühmte Baukastenbühne des Schweizer Bühnenbildners Adolphe Appia (1862-1928), mit der er 1912 die Bühnenästhetik revolutionieren wollte und die 2017 für das Tanzzentrum in Dresden Hellerau rekonstruiert wurde, füllt einen großen Teil des (werk-)hallenartigen Foyers. Sie wird dort bis Dezember 2021 als Ausstellungsstück verbleiben. Deren Stufenbausteine bleiben allerdings nur eine unberührte, nicht einbezogene Hintergrunddekoration. Für die Solisten sind vier, deutlich weiter als die vorgeschriebenen sechs Meter voneinander entfernte weiße Sockel im Raum verteilt. Die etwa 30 Zuschauer sitzen dazwischen auf ihren Hockern. Man kann sich also nie allen Minibühnen gleichzeitig zuwenden, sondern muss sich permanent drehen. Da der Abend bereits nach nur 45 Minuten zu Ende ist, bleibt das verkraftbar.

Die Musikauswahl ist geradezu kongenial und wird leicht abseits live von einem Ensemble mit Trompeten, Posaunen, Tuba und Pauke unter Leitung von Kapellmeisterin Elisa Gogou beigesteuert. Die Folge von passend in diesen Raum und seine Akustik arrangierten Stücken mit einem Bogen von Barock bis Gegenwart entfaltet einen ganz eigenen Sog. Mit Monteverdis berühmter Toccata zu seinem „L’Orfeo“ halten Moe Sasaki, Leonor-Maria Campillo, Julio Miranda und Fergus Adderley Einzug und erklimmen ihre Bühnen. In der Abfolge der von Momenten der Stille unterbrochenen Musikstücke erleben wir einen permanenten Wechsel von solistischen Selbsterkundungen der völlig auf sich zurückgeworfenen eigenen Körper und deren Möglichkeiten für skulpturale Momentaufnahmen als Ausdruck von emotionalen Grundzuständen. Dann wieder, durch Lichtwechsel angekündigt, aufblitzende Momente von Synchronität der Abläufe und deren Wiederholung, die aus der Vereinzelung ausbrechen wollen. Während einer vermeintlichen (und geradezu betörenden) Melange aus Mahler-Sequenzen und Parsifal-Klängen dominiert die Melancholie der Bewegungen. Zu den Pauken-Soli von Bernd Franke wechselt das zu eruptiven Ausbruchsversuchen und einer Revolte gegen die Einsamkeit. Am Ende, nach der Toccata von Girolamo Frescobaldi, bleiben die Tänzer wie einsam schwankende Halme im Wind bei verlöschendem Licht auf ihren Inseln der Einsamkeit zurück. 

Joachim Lange

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