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Berichte
Oper für die Zukunft?
Unaufgeführte Uraufführung: »opera, opera, opera« in Halle
Corona und unglückliche Begleitumstände warfen dieses Opernprojekt aus der Zeit: „opera, opera, opera! Revenants and Revolutions“, der Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale, hätte zum Höhepunkt einer Reihe ungewöhnlicher Aufgaben für den Chor der Oper Halle werden können. Doch die Uraufführung am 17. Mai 2020 in München und die Vorstellungen in Halle ab 4. Juni 2020 platzten. Überdies eskalierte der „Theaterstreit von Halle“. Noch ungewiss ist deshalb, ob die Uraufführung des Musiktheaters von Ole Hübner (geb. 1993) mit dem Text von Thomas Köck (geb. 1986) auf der Bühne oder in digitaler Aufbereitung stattfinden wird.
Aufnahmen in Halle. Foto: Roland H. Dippel
Als Intendant der Oper Halle hatte Florian Lutz einen für aktuelle Themen offenen Spielplan mit diskursiven Herausforderungen an das Publikum und künstlerischen Überschreibungen realisiert. Video, ästhetische Brüche und Simultanaktionen waren wesentliche Gestaltungsmittel der Inszenierungen von Gästen und der hauseigenen Teams. Das begann im September 2016 auf der Raumbühne Heterotopia des für diese mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichneten Bühnenbildners Sebastian Hannak. In einem interaktiven „Fliegenden Holländer“ spielte das Chor-Ensemble Hostessen und Lagerarbeiter eines Online-Kaufhauses. In der Uraufführung „Mein Staat als Freund und Geliebte“ versetzte der Konzeptkomponist Johannes Kreidler 2018 den Chor als „vernachlässigten Charakter“ des Opernbetriebs aus seiner „Schattenfunktion“ in den Mittelpunkt. Nach Themen wie Neoliberalismus und strukturellen Verfallserscheinungen war die Uraufführung von „opera, opera, opera! Revenants and Revolutions“ – ein Rückblick aus der apokalyptisch entvölkerten Zukunft auf den kulturellen Luxusbetrieb – durch den seit 2019 von Johannes Köhler geleiteten Chor nahezu zwangsläufig. Künstlerischer Gesamtleiter und Regisseur dieses Projekts ist Michael von zur Mühlen, der bis zum Ende der Spielzeit 2020/2021 die Intendanz-Angelegenheiten an Lutz‘ designierten Nachfolger Walter Sutcliffe übergeben wird.
Der Autor Thomas Höck nannte „opera, opera, opera! Revenants and Revolutions“ den „verschollenen vierten teil der klimatrilogie – ein librettofragment für einen cyborg und einen singularitychor“. Die letzten Menschen dialogisieren nach dem globalen Kollaps mit einer künstlichen Intelligenz über Erinnerungen an die Spätzeit der Zivilisation, in der es noch Opernhäuser mit festem Personal gab. Als Ensemble und in Minisolorollen ist der Chor von den ursprünglich 140 Minuten Gesamtdauer in der Einrichtung für die Uraufführung noch immer 90 Minuten im Höchsteinsatz. Ole Hübner komponierte eine Partitur für mittelgroßes Orchester und Elektronik, großen Chor und Kinderchor. Neuland ist aber nicht nur die Musik, sondern auch das utopische Sujet und der Bruch mit der hierarchischen Arbeitsteilung. Angehörige des Produktionsteams sind Mitschöpfer. Mit Maria Huber und Jakob Boeckh hat sich Hübner zur Trias „the paranormal peer group“ zusammengeschlossen. Diese versucht eine „ganzheitliche Erneuerung des Mediums Musiktheater“.
Neben der großen Stimme des zerfallenen Kollektivs komponierte Hübner, wie schon von Kreidler und sogar von Botho Strauß im Schauspiel „Schlusschor“ vorausgedacht, das Zwitschern der diversifizierten Masse in Reibung an dem mit einem Countertenor besetzten Hybridwesen (Michael Taylor). Hübner greift in die Streicher-Vollen, über denen Zitate aus Aubers „Die Stumme von Portici“ an jene Vergangenheit erinnern, als Opernmythen und Opernwelt noch in Ordnung waren. „Man stand hier und hat zusammengehalten – in schlechten Stücken“, lautet im You-Tube-Trailer eine der Botschaften über die wenigen Solidaritäten im Neoliberalismus, bevor der grüne Planet grau wurde. Erst die Probenverzögerungen und letztendlich die Corona-Absage der Münchener Biennale machten die Uraufführung zunichte, obwohl der Chor nach über einjähriger Probenzeit das Werk fast fertig einstudiert hatte.
Sogar als kurz vor der Sommerpause personelle Entwicklungen in der Leitung der Bühnen Halle eskalierten, wollte die Oper Halle nicht auf dieses Projekt verzichten. In den nur vier Jahren der Intendanz von Florian Lutz hatte es das Opernhaus am Universitätsring zum bundesweit anerkannten Apokalypse-Experten geschafft. Doch gleichzeitig verlagerten sich im „Theaterstreit von Halle“ die Hauptinteressen von der Kunst auf Betriebsabläufe. Fast alle Leitungsprotagonisten, die das Biennale-Projekt nach Halle geholt hatten, sind weg: Als erstes zogen GMD Josep Caballé Domenech unwillig und Opernchor-Direktor Rustam Samedov freudig von dannen. Anfang Juli 2020 schieden im Umfeld der Pressekonferenz zur Spielzeit 2020/2021 erst der kaufmännische Geschäftsführer Stefan Rosinski (vorzeitige Vertragsauflösung durch die Träger) und kurz darauf Florian Lutz (vorzeitige Vertragsauflösung in gegenseitigem Einvernehmen).
Michael von zur Mühlen, jetzt unfreiwillig Alleingänger aus dem ursprünglichen Triumvirat der Opernintendanz bis zum Antritt des designierten Opernintendanten Walter Sutcliffe im Sommer 2021, und Michael Wendeberg, einer der beiden kommissarischen Opern-Musikdirektoren, waren sich einig: „opera, opera, opera! Revenants and Revolutions“, dieses Stückwerk beziehungsweise Gesamtkunstwerk über die post-apokalyptische Revitalisierung einer bürgerlichen Kunstform im Dialog der letzten Menschen mit einem Cyborg, muss heraus: Du hast deine Katastrophen, also nütze sie!
In diesem Stück, eine der heute raren und noch dazu langen neuen Choropern beziehungsweise Oper für Chorsänger, geht es auch um Erinnern, die Archivierung des Vergangenen und im Fluss der Zeit verlorene Lebensgefühle. Das ideale Werk also für eine digitale, performative oder cineastische Metamorphose. Für Möglichkeiten einer wie auch immer gearteten Aufführung nahm der MDR am 10. und 11. September das Opus und dessen zur Aufführung beziehungsweise Weiterverwertung nötigen Einzelstimmen in der Georg-Friedrich-Händel-Halle auf. Die Staatskapelle Halle agierte auf dem Podium, die 32 Mitglieder des Opernchors in den Zuschauerreihen. An eine Erstsendung von Ausschnitten im Rundfunk dachte man da noch nicht. Das Wort „Uraufführung“ für die Erstsendung von zirka 35 Minuten bei MDR Kultur und MDR Klassik am 24. Oktober wurde schnell aus der Ankündigung genommen. Diese Aufnahmen sind unverzichtbare Voraussetzung für ein digitales Environment, das die verschobene Uraufführung aber nicht unnötig machen oder ersetzen soll.
Der Bühnenbildner Martin Miotk kreierte tolles Bild- und Animationsmaterial für die menschlichen (Halb-)Wesen, die über Gewesenes, Kunst und Sein röcheln, raunen und seufzen. In virtuellen Räumen wächst ein Opernhaus, das zum Zeitpunkt der Handlung von „opera, opera, opera! Revenants and Revolutions“ nur als mentale oder digitale Erinnerung besteht. Die Kostüme und Masken der Figuren beziehungsweise ihrer Avatare werden zu einem bunten Gemisch schrill-fideler Hässlichkeit.
Trotz aller Schwierigkeiten sind das überaus lohnende Aufgaben für den Chor nach der in Michael von zur Mühlens „Aida“-Inszenierung thematisierten Flüchtlingsthematik, nach den Funktionärsbonzen in „Fidelio“ und für die neben dem Chorkollektiv in Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“ ihrer Sinnhaftigkeit verlustigen Solisten, Pianisten und Schauspieler: Niemand hätte während der Planungsphase des Biennale-Projekts daran gedacht, dass es auch im zweiten Lockdown ab 2. November erneut zu Proben in Videokonferenzen kommt und aus der Not der digitalen Kanalisierung von Einzelstimmen eine temporäre Tugend wird. Höck und Hübner sehen das in ihrer Opernvision durchaus zwiespältig.
Roland H. Dippel |