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Hintergrund
Gefährdet und beständig
Das Handlungsballett heute
Das Handlungsballett – landauf, landab füllte es auch in dieser Saison die Spielpläne. Schöner Tanz, der lächelnd eine alte Geschichte erzählt, gilt in diesem Fach aber schon lange nicht mehr. Der Blockbuster in Spielfilmlänge fordert Choreografen inhaltlich, ästhetisch und choreografisch – sei es als völlige Neukreation, als Neuinterpretation eines bereits mehrfach bearbeiteten Stoffes und dessen Musik oder als Wiedereinstudierung eines Klassikers. Ein Vorlauf von mehreren Jahren ist nicht ungewöhnlich. Eine Dramaturgie zu entwickeln, die einen Abendfüller von Anfang bis Ende auf den Punkt bringt und damit den Beweis für dessen Relevanz in der Gegenwart erbringt, bedarf eines starken Intellekts, großen Wissens und eines langen Atems.
In keinem anderen Format sind Kunst, Kommerz und Selbsterhalt des Bühnentanzes innerhalb der Mehrsparten-Betriebe derart eng miteinander verschränkt: „Die abendfüllenden Ballettproduktionen verkaufen sich meist besser als mehrteilige Abende und können somit eine Notwendigkeit für Compagnien sein“, bringt es Christian Spuck, Direktor des Ballett Zürich, nüchtern auf den Punkt. Einen tanzstrategischen Blick wirft Stephan Thoss, Intendant Tanz am Nationaltheater Mannheim, auf das Literaturballett: „Um den Tanz am Theater stabiler zu fixieren, muss man dem Handlungsballett neues Leben einhauchen und es so gut wie möglich präsentieren. Wird es zu häufig umgangen, empfinde ich Angst um den Tanz am großen Haus. Da fühle ich mich persönlich verpflichtet, beizutragen dass der Job des Tänzers erhalten bleibt.“ Martin Schläpfer, Direktor des Balletts am Rhein, würde persönlich jedoch kein Handlungsballett planen, nur damit das Haus voll werde. Einen wichtigen Auftrag an die Choreografen und Direktoren sieht er darin, „zu klären, wie ich mich mit dieser Kunstform, die so fragil und gefährdet ist, in der Öffentlichkeit positioniere, um sie wirklich auch zu verteidigen und beizutragen, dass sie in der Gesellschaft verankert ist“. Dennoch kennt er selbstverständlich wie seine Kollegen das Ringen mit der großen Form allzu gut.
Martin Schläpfer. Foto: Max Brunnert
Wie die weiteren Gesprächspartner – Goyo Montero, Ballettdirektor am Staatstheater Nürnberg, Marco Goecke, designierter Ballettdirektor am Staatstheater Hannover, John Neumeier, Direktor des Ballett Hamburg und Yuki Mori, Tanzchef am Theater Regensburg – haben Schläpfer, Thoss und Spuck das Handlungsballett bereits als Tänzer und Hauschoreografen von Anbeginn in sich aufgenommen und studiert. „Romeo und Julia, Dornröschen, Cinderella, Nussknacker – all diese Stoffe bilden sozusagen meine Kindheit als Tänzer“, fasst es Montero zusammen. Unter kunstpsychologischer Perspektive bilden Historie, Figuren und choreografische Ausarbeitungen von Handlungsballetten eine innere Familie, mit der alle Künstler irgendwann in ein Zwiegespräch gegangen sind, als es darum ging, selbst eine eigenständige, künstlerisch erzählerische Position aufzubauen. Heute gehören alle bislang Genannten zu den Entscheidern über den Fortbestand des Handlungsballetts. Welche Zukunftsfähigkeit sie diesem extrovertierten Format zuschreiben, das der französische Choreograf und Tanztheoretiker Jean-Georges Noverre Mitte des 17. Jahrhunderts in einem diskursorischen Kraftakt als modellhaften Hybrid entwickelt hat, um den Tanz als eigenständige Kunstform neben Oper und Ballett zu etablieren, bildete eine wichtige Frage auf der Spurensuche nach dem Stand der Dinge beim Handlungsballett.
Goyo Montero. Foto: Gregory Batardon
Die Auswahl zeigt allerdings, wie sehr das etablierte Tanzfeld weiterhin männlich besetzt ist und der Stellenwert des Handlungsballetts von Männern (und der ihnen zur Verfügung stehenden Compagniegröße) entschieden wird – selbst dessen lupenreine Dekonstruktion und die Befreiung des Tanzes von der Aufforderung, Geschichten zu erzählen durch William Forsythe bereits im Jahr 1988. Lustvoll ließ dieser in „Impressing the Czar“ den Ausverkauf aller Gegenstände des Handlungsballetts zelebrieren. Die Bühne verwandelte sich in eine wild bevölkerte Resterampe. Zwischendrin eroberte sich mit „In The Middle, Somewhat Elevated“ jener „storylose“, jedoch assoziativ-sinnhafte Tanz wieder den Raum, der mehr zum Ausdruck bringen durfte als er qua auferlegter Story sollte. Dieser Überschuss an unmittelbar verstehbarer Bedeutungsproduktion von Tanz im Rahmen eines festen Stils jenseits konkreter narrativer Aufträge an seine Bewegungsfolgen war nicht erst beispielsweise George Balanchine, sondern auch Noverre bewusst gewesen. Sehenden Auges opferte dieser ihn jedoch, folgt man dem Tanzwissenschaftler Stefan Hölscher, zugunsten einer beredten Bewegungskunst, in der der Tanz, so Hölscher, zum Transportmittel für literarisch vorgegebene Abläufe wurde.
Marco Goecke. Foto: Regina Brockes
Diesem vitalen, irritierenden Moment, begegnen Choreografen bis heute. Yuki Mori etwa verspürt das tiefe Bedürfnis, sich tief in ein Thema hineinzuarbeiten und etwas zu erzählen. Als zeitgenössischer Choreograf, der Prägungen wichtiger Bewegungsstile aus dem 20. Jahrhundert in sich trägt, zieht es ihn jedoch sehr zu jenem Tanz, der abstrakt und voller Assoziationen ist. Dementsprechend schwierig gestaltete sich die Neufassung der „Carmen“. Schlussendlich verwandelte er sie sowohl in ein der Bewegung aus Stille und Musik dienendes Tanzpoem als auch in ein figuratives, nacherzählendes Kapitel. Martin Schläpfer erläutert, wie er für sich zuerst jene Form üben und beherrschen wollte, „die man als abstrakten Tanz bezeichnet, wobei es diesen sogenannten handlungslosen Tanz bei guten Stücken ja gar nie gibt“, schränkt er ein. Guter Tanz müsse einen dramaturgisch begründeten Grund haben, sagt er – und sei es im Aufbau einer Gegenposition. Marco Goecke, zurzeit mit „La Strada“ beschäftigt, hat wie kaum ein anderer alles daran gesetzt, einen unverwechselbaren Stil herauszubilden. „Stil entsteht durch Reduktion, durch eine intensive Beschäftigung damit, was ich anhand aller Möglichkeiten weglasse“, erklärt Stephan Thoss. Den Impuls dazu beschreibt Goecke als Wunsch, ausbrechen zu müssen. „Vielleicht gibt es mal einen Abendfüller, wo gar keine Gruppenszene drin ist. Nur weil andere das wollten, muss bei mir eine bestimmte Struktur nicht sein“, so Goecke. Ähnliche Überlegungen beschäftigen auch Goyo Montero. Wenn nur eine Person auf der Bühne stünde, könne das unter Umständen auch ein Handlungsballett werden“, erwägt der designierte Tanzpreis-Aktuell-Träger.
Yuki Mori. Foto: Jochen Quast
Neben der hier angedeuteten Lust, mit dem Format zu experimentieren, es an seine Grenzen zu führen oder es gar auszuhebeln, sind die befragten Künstler sehr an der exakten Personenführung, an der Arbeit an einem in jedem guten Handlungsballett auffindbaren substanziellen Kern, an dessen Überführung in die Gegenwart und der Entwicklung von Charakteren mit Tiefe interessiert. Hat also Forsythes Vorstoß dreißig Jahre später seine Wirkung verloren, weil sich doch ein Festhalten am erzählenden Abendfüller feststellen lässt? – Zumindest erscheint die von John Cranko und John Neumeier in den 1960er- bis 1980er-Jahren eingeschlagene Psychologisierung des Handlungsballetts weiterhin attraktiv, wie Neumeier berichtet: Sein Augenmerk sei zunehmend darauf ausgerichtet, weniger „äußere“ Geschichten zu erzählen, als vielmehr der inneren, psychologischen Entwicklung seiner Figuren nachzuspüren. Auch Goyo Montero ist für sein Talent bekannt, den Kanon des bereits Erzählten zu Projektionsflächen für die Gegenwart umzuformen, so dass seine eigenen Botschaften ankommen. Dies funktioniere jedoch nur, wenn man seine ehrliche Vision habe, betont er. Dann könne man diese mit den Tänzern teilen und der jeweilige Abendfüller werde wirklich ein eigenes Projekt. Ob es das Handlungsballett immer geben werde? Das bejahen alle Choreografen, schlicht deswegen weil es live sei, so Goecke. „Darin liegt seine große Kraft, seine Chance und Notwendigkeit. Man ist im Theater sensibel für die Bilder, egal welche Handlung erzählt wird.“ Stephan Thoss hält es in diesem Zusammenhang für wichtig, eine Sprache zu finden, die „die immer besser ausgebildeten Tänzer mögen, um etwas zu erzählen“. Thoss möchte Mut machen, dass die jüngeren Choreografen neue Themen für Handlungsballette finden und diese neu erzählen. Die Originale zu erhalten und sie aber so neu weiterzugeben, dass sie zu einem Körper von heute passen, erscheint auch Schläpfer ein richtiges Ziel.
Nachdenklich wird Christian Spuck bei dieser Frage nur an einem Punkt: „Im Tanz ist viel passiert. Das 20. Jahrhundert hat uns alle gelehrt, Ballett zu hinterfragen, und dieses Hinterfragen muss auch weiterhin sichtbar und spürbar bleiben – sei es als Ironie, als Provokation, als Kommentar. Wird all das, was im 20. Jahrhundert im Tanz erarbeitet wurde, übergangen, dann stagniert das Handlungsballett. Das ist eine Gefahr, die ich sehe.“
Alexandra Karabelas
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