Editorial
Die Zeit des Verzichts ist vorbei
„Die Zeit des Schweigens muss vorbei sein!“ Mit diesen Worten schmückte Kulturstaatsministerin Monika Grütters jüngst die Pressemitteilung zur Gründung einer „Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung“. Mit großem Tam-Tam haben Frau Grütters, die Filmbranche und der Deutsche Bühnenverein diese neue Anlaufstelle angekündigt. So weit, so gut. Waren die politischen Institutionen angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen #MeToo-Debatte und der in ihrem Strudel an vielerlei Orten offengelegten Missbrauchserlebnisse doch gehörig unter Druck geraten, endlich etwas zu unternehmen. Der Vorwurf der jahrelangen Tatenlosigkeit stand im Raum. Offensichtlich war schnelles politisch vorzeigbares Handeln angezeigt.
Gerrit Wedel. Foto: Charlotte Oswald
Aber ist die Zeit des Schweigens wirklich vorbei? Für alle? Bei der Planung der Vertrauensstelle kamen die künstlerisch Beschäftigten der Theater und Orchester jedenfalls nicht zu Wort. Nun denn. Hoffen wir, dass diese Vertrauensstelle die erhoffte Wirkung auch tatsächlich entfaltet. Immerhin hat der Bühnenverein auf seiner Jahreshauptversammlung nun auch einen „Wertebasierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch“ verabschiedet, den die Mitgliedstheater und -orchester in ihren Häusern kommunizieren und individuell weiterentwickeln werden, wie es heißt.
Aber nicht nur die Zeit des Schweigens muss vorbei sein, auch die Zeit des Verzichtens muss vorbei sein! Schon lange erhoffen wir ein Ende der Haustarifverträge mit Gehaltsverzicht. Natürlich zweifle ich nicht daran, dass wir damit – zumindest in der Vergangenheit – eine wichtige und existenzsichernde Aufgabe zum Erhalt der kulturellen Strukturen in unserem Land wahrgenommen haben. Aber heutzutage ist es nicht mehr zeitgemäß, Theaterbeschäftigten weiterhin Sparmaßnahmen in Form von Verzichts-Tarifverträgen zuzumuten, die zunehmend institutionalisierte Lebenserhaltungsmaßnahmen für ausgemergelte Kulturbetriebe sind. Seit Jahren ist das Gefühl des Ausgeliefertseins, sind Existenzängste und Perspektivlosigkeit ständige Begleiter. Bei den Betroffenen drängt sich zunehmend – angesichts der guten volkswirtschaftlichen Entwicklung und prall gefüllter öffentlicher Kassen – das Gefühl der mangelnden Wertschätzung ihrer Arbeit auf.
Auf nahezu allen Ebenen wird vollmundig der Wert von Kunst und Kultur proklamiert und intensiv die Anerkennung der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft als Immaterielles Weltkulturerbe betrieben. Vor diesem Hintergrund gestaltet es sich zunehmend schwieriger, einen Verzicht auf tarifliche Ansprüche zu rechtfertigen und vermitteln zu können.
In jüngster Zeit können jedoch ganz aktuelle Entwicklungen in der Frage der Kulturfinanzierung hoffen lassen. So mehren sich die Anzeichen, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Schon bei der Aushandlung der letzten Theaterverträge hatte Thüringen beschlossen, dieses Problem anzugehen, wenn es auch noch nicht vollumfänglich erreicht werden konnte und daran weiter zu arbeiten sein wird. In NRW wurde der Kulturetat jüngst verdoppelt. In Sachsen gibt es ernstzunehmende Bestrebungen, flächendeckend tarifgerechte Zustände herzustellen, vornehmlich im ländlichen Raum durch entsprechende Stärkung der finanziellen Ausstattung. Selbst in Sachsen-Anhalt mehren sich die Zeichen, dass seitens des Landes die Grundfinanzierung für die Theater und Orchester nach oben korrigiert und die Dynamisierung der Zuschüsse angepasst werden muss. Ja sogar in Mecklenburg-Vorpommern ist der Plan für die leidige Zwangsfusion der Theater im Osten des Landes vom Tisch und eine Erhöhung der seit Jahrzehnten eingefrorenen Landesmittel in Aussicht.
Sollten sich diese Entwicklungen fort- bzw. durchsetzen, könnte dies zumindest ein Zeichen in Richtung der lang vermissten Wertschätzung der Arbeit der Kulturschaffenden sein.
Das Publikum jedenfalls schätzt „seine“ Künstlerinnen und Künstler! Die Faszination für den Erlebnisort Theater zieht sich durch die Bevölkerung. Und bei aller Belastung, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, ist es doch schön, auch einmal innezuhalten und sich bewusst zu sein, an was für einem kostbaren Ort wir uns jeden Tag befinden. Wir werden in der kommenden Spielzeit weiter gemeinsam mit Ihnen dafür kämpfen, dass auch die Politik das erkennt und den Worten Taten folgen lässt.
Zum Ende der Spielzeit möchten wir allen Mitstreitern und Mitstreiterinnen für Ihren unermüdlichen Einsatz und Ihre Arbeit danken.
Gerrit Wedel
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