|
Berichte
Kluger Cranko – kluger Anderson
Reid Anderson in seiner letzten Spielzeit als Ballettchef in Stuttgart
Es sind die letzten Tage angebrochen. Noch einmal trägt der Spielplan seine Handschrift. „Cranko Pur“ nannte Reid Anderson die erste Premiere seiner letzten, der 22. Spielzeit als Intendant des Stuttgarter Balletts. Der Abend dürfte bereits jetzt als einer der wertvollsten Abende im Tanzland Deutschland betrachtet werden. Anderson, von dem man wahrlich das Ballett-Kuratieren lernen konnte, hat seine Compagnie erstmals drei Kurzstücke des – 1973 zu jung verstorbenen – Compagniegründers John Cranko gebündelt auf die Bühne bringen lassen. Andersons kluge Auswahl und die spezifische Reihenfolge der Werke ermöglichen beispielhaft, die Bandbreite von Crankos Schaffen abseits der abendfüllenden Handlungsballette zu begreifen: eines der zentralen Markenzeichen des Stuttgarter Balletts.
„L´Estro Armonico“, vier Monate nach der legendären Neufassung von „Romeo und Julia“ entstanden und am 27. April 1963 erstmals aufgeführt, lässt sich mit einem Werk von Mondrian vergleichen, das der Besitzer lange in seinen Privaträumen bewunderte, ehe er es der Öffentlichkeit zugänglich machte.
David Moore und Martí Fernández Paixà in „L’Estro Armonico“. Foto: Stuttgarter Ballett
Nur zweimal ließ sich bisher ein Blick darauf werfen: Vor knapp 30 Jahren, unter der Direktion von Marcia Haydée, und im Jahr 2007, als die John-Cranko-Schule die Erlaubnis erhielt, das Werk zu tanzen. Das kraftvolle, bezaubernde, sprungstarke Werk folgt drei von insgesamt zwölf im Jahr 1711 erschienenen Streicherkonzerten von Antonio Vivaldi. Eingebettet in die Farben weiß, schwarz und rot, die das schlichte Kostüm- und Bühnenbild bestimmen und in jedem Konzert in neuer Anordnung zu erleben sind, offenbart sich „L´Estro Armonico“ als Visitenkarte Crankos im Bereich der konzertanten Choreografie. Es scheint, als ob er jede Note, jeden Ton, jeden melodischen Fluss und jede Bewegung der Musik in einen Schritt oder Sprung, ein Spiel der Füße übersetzt hat. Oft bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer in Reihen. Jeweils zu sechst oder zu dritt gestalten sie im Dialog und in Reaktion auf eine Solistin oder einen Solisten, mal verdichtet im Pas de Trois, dann wieder in die Gruppe aufgelöst, die Musik zu immer neuen, miteinander korrespondierenden Strukturen.
Die Stuttgarter Compagnie tanzt das in großer Symmetrie choreografierte Werk mit Frische und Verve. Sie ermöglicht dadurch, vielfältige Bezüge in die amerikanische Neoklassik à la Balanchine, aber auch in die Gegenwart herzustellen. Nicht zuletzt Christian Spucks „das siebte blau“ kann, was den Umgang mit dem Körper im Raum anbelangt, als zeitgenössische Position dazu in Linie gebracht werden. Mit den folgenden Werken, „Brouillards“ und „Jeu de Cartes“, ebnet Anderson dem Zuschauer den Weg in Crankos Narrativität. Diese thematisierte immer gerne das Tragikomische in den Bemühungen des Menschen, seiner Fehlbarkeit und Verwundbarkeit, aber auch seiner Freundschaftlichkeit. „Brouillards“, 1970 als schnelle Nummer ohne Ausstattungsetat zu Musik von Claude Debussy choreografiert, passt in seiner Zurückgenommenheit grandios zu „L´Estro Armonico“. Die zehn ganz in weiß getanzten Episoden, eingerahmt von einer an den Armen miteinander verschränkten Gruppe, die wie Nebel oder Wolken atmosphärisch die Bühne durchwehen, lassen schmunzeln, lachen, seufzen oder nachdenklich werden. Unerwiderte Liebe, Dreiecksgeschichten, ein lapidarer Tod in Slapstick-Manier inszeniert, sind Crankos getanzte Kommentare zu der Erkenntnis, dass jeder in seiner selbst konstruierten Welt lebt und oft nur schmerzhaft erkennt, dass das nichts mit der Welt des anderen zu tun hat.
Adhonay Soares da Silva in „Jeu de cartes“. Foto: Stuttgarter Ballett
Mit „Jeu de Cartes“, 1965 vier Monate vor „Onegin“ entstanden, folgt dann die trotz aller Lustigkeit knallharte Parabel auf Macht und Ohnmacht, Willen zur Dominanz und Teamgeist. Der als Clown maskierte Joker, der wie ein Wirbelsturm die Szenerie der Kartenfamilien von Herz, Pik oder Kreuz aufmischt, sich als Mitspieler hineinzudrängeln versucht und am Ende triumphiert, ist die eine Lesart. Die andere besteht in der hohen Referenzialität des Balletts. Es nimmt sowohl berühmte Momente in Petipas „Dornröschen“ als auch in Balanchines „La Valse“ aufs Korn. Von der Bewegungssprache her kann „Jeu de cartes“ getrost als Vorläufer der „Widerspenstigen Zähmung“ genossen werden. Chapeau!
Alexandra Karabelas |