Berichte
Eine vertane Chance
»Les Troyens“ von Hector Berlioz am Staatstheater Nürnberg
Hector Berlioz’ monumentales Meisterwerk über den Untergang Trojas und den Aufenthalt der Trojaner in Karthago ist eine Choroper par excellence. In der genau ausbalancierten Nummernfolge nehmen die Chöre zwischen den Arien, Ensembles und Instrumentalstücken eine tragende Rolle ein. Sie fassen die wechselnden Gemütsverfassungen der agierenden Kollektive mal in kraftvolle, bisweilen fast gewalttätige Ausbrüche, dann wieder in resignative Trauergesänge. Der Chor des Staatstheaters Nürnberg war für diese Produktion um einen Extrachor und Gäste auf eine Zahl von 72 verstärkt worden, und weil Tarmo Vaask daraus einen überwältigend durchschlagskräftigen, dabei aber differenzierten Klangkörper geschaffen hatte, avancierten die Sängerinnen und Sänger zu den heimlichen Helden einer insgesamt eher enttäuschenden, weil szenisch willkürlich und zerfahren wirkenden Aufführung.
Regisseur Calixto Bieito beschäftigt die Chorsänger ziemlich, ohne dabei freilich besonderes Gespür für Berlioz’ Musik an den Tag zu legen. Die Pantomime „Königliche Jagd und Sturm“ zu Beginn des vierten Aktes, das orchestrale Glanzstück der Oper, lässt er von ihnen unrhythmisch zertrampeln, am Ende müssen sie zu den zerbrechlichsten Abschiedsseufzern der Dido lautstark aus dem Hintergrund heranrobben. Auch seine auf gut drei Stunden gekürzte Schrumpffassung zeugt nicht unbedingt von Respekt vor der wunderbaren Partitur.
Choroper par Excellence. Foto: Ludwig Olah
Szenisch beginnt es eigentlich ganz ordentlich: Das von einem Kind auf Papier gemalte, bald blutrot bespritzte Pferd ist ein durchaus prägnantes Bild für den ersten Teil. Halbwegs plausibel auch, wie Bieito die Trojaner als ein vom Krieg traumatisiertes Volk mit umgeschnalltem Sprengstoff zeichnet. Kassandra ist in ihrem hellsichtigen Wahn nur eines von vielen Opfern. Roswitha Christina Müller bekam dafür von Bieito eine überschaubare Auswahl an Gestik und Mimik an die Hand, vermochte den seelischen Ausnahmezustand aber vokal eindringlich zu vermitteln, ohne die Gesangslinie allzu sehr zu vernachlässigen. Mit Jochen Kupfer als markantem, voluminösen Chorèbe lieferte sie sich ein stimmlich packendes Duett.
Hinter der Papierleinwand verbirgt sich bei Bieito und seiner Bühnenbildnerin Susanne Gschwender das Holzgerüst eines zweistöckigen Hauses. In Karthago bildet dieses dann als Didos karger Palast das zentrale, ausgiebig gedrehte, aber kaum bespielte Element. Die gestrandeten Trojaner kaufen sich mit allerhand Geschmeide und einem Sack Geld bei ihren Gastgebern ein, die in weißen Schutzanzügen anscheinend mit den Folgen eines Chemieunfalls beschäftigt sind. Die Oberschicht vergnügt sich unter afrikanischen Masken mit brutalen Ritualen (zur oben erwähnten Jagd-Pantomime) oder zwingt einen Angestellten, halsbrecherisch ans Holzgerüst gehängt ein schönes Lied anzustimmen (bewundernswert: Alex Kim mit der Arie des Iopas).
Weil Tarmo Vaask einen überwältigend durchschlagskräftigen, dabei aber differenzierten Klangkörper geschaffen hatte, avancierten die Sängerinnen und Sänger zu den heimlichen Helden der Aufführung.
Die Beziehung zwischen Dido und Aeneas interessiert Bieito kaum, er deutet sie als von vornherein kaputte, korrupte Zweckgemeinschaft zweier einsamer Seelen. Gedankenversunken beträufeln sie zum herrlichen Duett „Nuit d’ivresse“ einen hilflosen Nackten mit Öl (wurde damit auch das Trojanische Pferd gemalt?). Ihre Trunkenheit rührt eher von Wohlstand und Überfluss denn von Liebe her: „Abondance!“ pinselt Narbal derweil auf die Rücken einiger Chorsänger. Eingestimmt durch die Rezitation eines Houellebecq-Gedichts, wählen beide zeitversetzt den Pillen-Freitod – aus der Gründung Roms durch Aeneas wird also nix. Das Gedicht und sein Titel „Isolement“ verweisen dabei im Prinzip korrekt, aber doch etwas eindimensional auf Berlioz’ psychische Verfasstheit, die dieser in seinen brillanten Memoiren als „mal de l’isolement“ (Krankheit der Vereinsamung) beschrieben hat.
Drastische Bilder mit Roswitha Christina Müller als Cassandre, Irina Maltseva als Hécube und dem Chor des Nürnberger Staatstheaters. Foto: Ludwig Olah
Gesungen wird auch im zweiten Teil sehr beachtlich: Irina Maltseva gestaltet die Partie der Anna etwas steif, aber klangschön; sie und Nicolai Karnolsky (Narbal) stehen stellvertretend für ein gut präpariertes, engagiertes Ensemble mit passabler französischer Diktion. Mirko Roschkowski meistert die anspruchsvolle Partie des Aeneas mit kernig-durchschlagskräftigem, aber auch zu lyrischer Zurücknahme fähigem Tenor. Einzig ein paar Spitzentöne schleudert er unkontrolliert und stilfremd heraus. Katrin Adel hat als Dido Stimmvolumen und Vibrato meist gut unter Kontrolle und gibt der großen Finalszene die nötige Würde.
Dirigent Marcus Bosch startete mit der ausgezeichnet aufgelegten Staatsphilharmonie fulminant und machte mit griffiger Verve manch fehlende Klangnuance wett. Im zweiten Teil schien er angesichts des Bühnengeschehens ein wenig die Lust zu verlieren, was sich im Orchester als Spannungsabfall bemerkbar machte.
Peter Theiler hat in seiner zehnjährigen, mit dieser Saison auslaufenden Nürnberger Intendanz der französischen „Grand Opéra“ und ihren Verwandten erfreulich viel Raum zugestanden. Schade, dass am Ende dieser Ära nun eine einigermaßen vertane Chance stehen wird.
Juan Martin Koch |