Berichte
Eine Menge krasser Fieslinge
Hector Berlioz‘ »Die Trojaner« an der Sächsischen Staatsoper
Die Chöre spielen die Hauptrolle in Hector Berlioz‘ Großer Oper „Die Trojaner“, der man gerne die Rolle eines ästhetischen Gegenentwurfs zum Musikdrama Richard Wagners zuschreibt. Zu seinem 200. Geburtstag hat die Leitung der Semper-Oper dem Staatsopernchor dieses Werk „geschenkt“. Die Massenszenen „Die Einnahme von Troja“ im ersten und zweiten Akt und „Die Trojaner in Karthago“ in den Akten drei bis fünf sind an Spannung fast jedem Antikenfilm ebenbürtig.
Lydia Steier beginnt dort, wo Inszenierungen von Offenbachs „Schöner Helena“ enden müssen. Gedankenleer tänzelt das endlich wieder vergnügungslustige Volk der Trojaner nach zehn Jahren Krieg ins Verderben. König Priam ist ein pomadiger Operetten-Grandeur und die portalhohe Skizze des „Königlich-sächsischen Hoftheaters“ signalisiert Weltläufigkeit wie auf den Champs-Elysées. In die Feierfreude der Trojaner stoßen die schmerzzerrissene Andromaque und die als tumbe Kampfmaschinen paradierenden Militärs mit ihrem Anführer Énée und seinem Früchtchen Ascagne (Emily Dorn), das beim Abknallen von Soldaten und nordafrikanischen Angreifern noch größere Lust empfindet als der Papa. Die überlebenden trojanischen Soldaten scheuen sich nach ihrer Flucht nicht, den Spieß umzudrehen: von der Rolle der Besiegten in die der gewalttätigen Schmarotzer bei ihren arglosen Gastgebern in Karthago. So werden sie zu ebenso krassen Fieslingen wie die Griechen bei der Einnahme Trojas. Zum Höhepunkt kommt es in der Szene, in der zwei Soldaten eine entblößte junge Frau vergewaltigen, bevor die trojanische Meute dem olympischen Ruf nach Italien folgt.
Bryan Register als Énée, Alexander Stavrakakis als Mercure. Foto: Forster
In dieser Konfrontation der im Krieg abgestumpften Décadents aus Troja mit der Tyrischen Folklorerepublik Karthago erfindet Lydia Steier immer wieder starke Bilder von menschlicher Verrohung und Verirrung. Dabei riskiert sie Abstürze in Plumpheit und grobe Banalität. Diese Kontraste will das Publikum am Premierenabend nicht, es gibt heftige Buhs. Möglich, dass die mehrfach für den Theaterpreis „Der Faust“ nominierte Regisseurin den Ideen ihres Bühnenbildners Stefan Heyne und den wunderschönen Kostümkreationen Gianluca Falaschis allzu sehr nachgibt. Vielleicht hat Lydia Steier kein allzu profundes Interesse an der Psyche von Männern in Führungspositionen.
Es ist bezeichnend für den Abend, dass Details eher in Erinnerung bleiben als zentrale Szenen der Oper. Etwa der Moment, in der die an ihrem Weitblick verzweifelnde Cassandre die trojanischen Frauen mit mörderischer Brutalität zum Massenselbstmord zwingt. Da ist Jennifer Holloway, die sich in der Mezzodramatik der Seherin stimmlich perfekt und dramatisch bewegend auslebt, das Ereignis des Abends. Christa Mayer als First Lady der Ökorepublik Karthago zeigt sich im Vollbesitz aller von Berlioz geforderten Ausdrucksmittel und bewegt das Publikum deshalb zu Beifallsstürmen. Aber zu dieser Figur mit der enormen Fallhöhe von der geliebten Herrscherin zur innenpolitischen Versagerin fällt Lydia Steier wenig ein. Auch nicht zu Énée, einer formidablen Führer-Kampfdrohne, dem erst in der großen Arie kurz vor Schluss ein kleines emotionales Licht aufgeht. Da kann Bryan Register nicht ganz überzeugen. Den Sympathieträger Chorèbe, markant und schön gesungen von Christoph Pohl, hat man in den Blut- und Waffenmassen leider schnell vergessen. Poussiert und geflirtet wird allerdings von den meisten Chorherren weitaus besser.
Auch in den stark gestrichenen Ballettszenen hat der Chor ohne tänzerische Unterstützung vollauf zu tun. Insgesamt 120 Frauen, Männer, Kinder spielen und singen mit einer energischen Präsenz, die diese Premiere trotz mancher Flachheit zum großartigen Erlebnis machen. Jörn Hinnerk
Andresen ermöglichte seinen Kollektiven Bravour und Feinschliff, genaue Diktion und erstaunliche Energie. Die Chöre, auch weil sie in der Staatskapelle einen mustergültigen souveränen Mitspieler haben, erweisen sich als bessere Botschafter dieses hochkomplizierten Opernmonuments als das Produktionsteam, in dessen Auftrag die Trojanerinnen nicht nur von Soldaten geschändet werden, sondern sich auch untereinander abschlachten. John Fiore scheut sich am Pult etwas vor dramatischer Profilierung. So kommt es, dass die Bläser und alle anderen Gruppen eine Spur zu schön und viel zu elegant klingen. Sollte diese weiche musikalische Gestaltung den brutalen Zugriff auf der Bühne abfedern?
Roland H. Dippel |