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FAST HUNDERT JAHRE IN DER SCHUBLADE
Meine Skandale
Gabriel Astruc: Meine Skandale. Strauss, Debussy, Strawinsky. Aus dem Französischen von Joachim Kalka. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Olivier Corpet. 128 Seiten, Abbildungen, Halbleinen, fadengeheftet. Berenberg Verlag Berlin, Herbst 2015, 22 Euro, ISBN 978-3-937834-84-9
Gabriel Astruc, den Gründer des Théâtre des Champs-Élysées, kennen die wenigsten, denen die Pariser Turbulenzen um Richard Strauss´ „Salomé“, Debussys „Prélude à l´après-midi d´un faune“ und Strawinskys „Sacre du Printemps“ vertraut sind. Doch das könnte sich ändern, denn mit „Meine Skandale“ hat der wohl mutigste Impresario der ausgehenden Belle Époque bereits 1936 einen wichtigen Beitrag zur Geschmacks- und Sittengeschichte der Musik wie des Tanzes verfasst, der bis 2013 auf seine Erstveröffentlichung warten musste. Er beginnt mit der französischen Erstaufführung der „Salome“ 1907 – wo der „Skandal“ schon in der Schwierigkeit bestand, einen Aufführungsort zu finden – und endet mit der Uraufführung des „Sacre“, bei der Nijinskys ungewohnt eckige, bodenerschütternde Choreografie derart lautstarke Proteste hervorrief, dass die Musik darin unterging.
Astruc schreibt farbig, spannend und anekdotenreich, schöpft aus vielen Quellen und nimmt Selbstherrlichkeit und Größenwahn seiner Zeitgenossen (und vor allem der Komponisten) wie ein Karikaturist aufs Korn. Das trotz einer beigefügten Astruc-Biografie und zweier Texte zum Fast-Sofort-Konkurs seines „nach zehn Jahren Zwangsarbeit“ errichteten eigenen Theaters dünne Bändchen enthält vielfältige Illustrationen und den ganzen Reichtum der untergegangenen Welten von Diaghilews Ballets Russes, Künstlern wie Proust und Rodin, Luxuslimousinen und der spitzen Feder des greisen Camille Saint-Saens. Doch der Berliner Berenberg-Verlag stellt mit der deutschen Erstausgabe der „Skandale“ auch die Frage, „in welchem Maße der Begriff des ‚Skandals‘ wesentlich zur ästhetischen Moderne gehört“. Astruc selbst spricht von der „bewundernswerten Kontinuität der Ignoranz“ und zitiert einen Musikkritiker, der 1820 Rossinis „Barbier von Sevilla“ als „formloses Durcheinander“ beschrieb. Ähnliche gereizte Reaktion traut man den „Auguren der Premierenpausen“ auch heute noch zu, während neue Formen im Tanz längst nicht mehr gleich die öffentliche Moral auf den Plan rufen. 1912 schrieb ein von Astruc so genannter „Kunstrichter“ über Nijinskys „krasse Bewegungen“ als Faun sehr apodiktisch: „Die Realität des bloß Tierischen wird vom wahren Publikum niemals akzeptiert werden.“
Sabine Leucht
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