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Kulturpolitik

Refugees welcome

Über das Engagement der Staats- und Stadttheater in der Flüchtlingsfrage

Juni 2015: In einem bedrückenden Bühnenraum mit kahlen Betonwänden, herunterhängenden Kabeln, billigen Büromöbeln hat die Produktion „Brennpunkt: X“ des Saarländischen Staats theaters Saarbrücken Premiere. Der Autor Nuran David Calis hat in einer örtlichen Erstaufnahmestelle recherchiert und daraus ein Stück destilliert, das, wie es in einer Rezension heißt, die Geschichten und Schicksale von Menschen nicht erzählt, sondern spürbar macht. Mitglieder des Schauspielensembles stehen neben Laien aus Syrien und dem Iran auf der Bühne, deren eigene Flucht-Erfahrungen in den Text eingeflossen sind. Von der Kritik wird die Produktion gelobt als „nahegehendes, entdeckungsreiches, außergewöhnliches Theatererlebnis“. Einige Wochen später, nach der Sommerpause: Das Flüchtlingsdrama ist plötzlich in greifbare Nähe gerückt, die Menschen stehen zu Tausenden am Münchner Hauptbahnhof.

Willkommenstüten für die Flüchtlinge, die die Vorstellung „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ besuchten.

Willkommenstüten für die Flüchtlinge, die die Vorstellung „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ besuchten.
Foto: Saarländisches Staatstheater

Als die Intendantin des Saarländischen Staatstheaters, Dagmar Schlingmann, bei Spielzeitbeginn zu gemeinsamem Engagement aufruft, tritt sie eine Lawine der Hilfsbereitschaft los. Mitarbeiter des Theaters erkundigen sich, was in der Erstaufnahmestelle am dringendsten benötigt wird, man sammelt Kleider-, Sach- und Geldspenden, lädt in der Adventszeit Flüchtlingsfamilien ins Theater ein, lässt das Weihnachtsmärchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ins Arabische übersetzen, organisiert einen Fahrdienst und packt sogar Nikolaustüten. Ein Schauspieler hat die Idee einer Jobbörse: Maskenbildner und Mitarbeiter der Kostümabteilung setzen registrierte Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose für professionelle Porträts in Szene, die mit Angaben zu Fähigkeiten, Sprachkenntnissen und Ausbildung im Foyer aufgehängt werden. „Es kommen so viele Leute ins Theater, vielleicht sieht einmal ein Arbeitgeber ein solches Portfolio und kann genau diesen Menschen gebrauchen,“ hofft Dagmar Schlingmann.

„Das Einbinden von Flüchtlingen in Theaterproduktionen ist ein Weg, um aus den Angekommenen Neubürger zu machen. Wir im Theater können Dinge ausprobieren, weil wir die Welt jeden Tag neu erschaffen. Wir haben den Auftrag, auch in die Zukunft zu denken und Utopien darzustellen, und wenn etwas nicht klappt, können wir am nächsten Tag etwas Neues versuchen.“

Saarbrücken ist keine Ausnahme. Die Internetplattform nachtkritik.de hat die Aktivitäten von über 70 deutschsprachigen Bühnen, überwiegend aus dem Schauspielbereich, zusammengetragen, ein „Who’s Who“ der theaterpraktischen Flüchtlingshilfe von Aalen bis Wuppertal. Und das sind keineswegs alle, wie der Blick auf die Webseiten weiterer Häuser, etwa der Staatsoper Hamburg, zeigt. Das Spektrum ist breit gefächert: kostenlose Vorstellungsbesuche und Führungen, Deutschkurse, Begleitung bei Behördengängen, Hausaufgabenbetreuung, Bastelangebote in Flüchtlingsunterkünften, Matratzenlager in der Garderobe, Praktikumsplätze, Informationsabende, Gelegenheiten zu Begegnung und Austausch beim arabischen Buffet.

Staatstheater Karlsruhe. Oben: Katharine Tier als Iphigenie mit Damen des Staatsopernchors und dem Bewegungschor (Mitte). Foto: Falk von Traubenberg.

Staatstheater Karlsruhe. Oben: Katharine Tier als Iphigenie mit Damen des Staatsopernchors und dem Bewegungschor (Mitte). Foto: Falk von Traubenberg.

Mancherorts verbindet man den Dialog mit der künstlerischen Produktion. Am Theater Oberhausen etwa entstand im Zusammenhang mit Elfriede Jelineks Stück „Die Schutzbefohlenen“, das wie schon bei der Hamburger Uraufführung Flüchtlinge in die Inszenierung einbindet, die Reihe „Die Erzählungen der Schutzbefohlenen“: Darsteller aus der Flüchtlingsklasse eines Berufskollegs erzählen auf der Studiobühne von ihren Erfahrungen, simultan übersetzt von einem Schauspieler, anschließend besteht die Gelegenheit zur Diskussion. „Unsere Idee war auf der einen Seite eine politische, wir finden es politisch richtig, über solche Schicksale zu berichten, aber es sind auf der anderen Seite auch spannende Geschichten, die etwas über die Welt erzählen“, erklärt der Dramaturg Tilmann Raabke.

Die Betroffenen in die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik einzubeziehen, ist an mehreren Häusern Praxis. Unumstritten ist diese Verknüpfung nicht: Immer wieder werden kritische Stimmen laut, die Theater instrumentalisierten die Flüchtlinge, schlachteten ihr Leid künstlerisch aus, degradierten sie gar zu Dekorationselementen. Auf Seiten der Macher verbindet man indessen mit derartigen Produktionen vielfach positive Erfahrungen. So am Badischen Staatstheater Karlsruhe, das in seiner Inszenierung von Glucks Oper „Iphigenie auf Tauris“ einen Bewegungschor aus Geflüchteten auf die Bühne bringt: „Es war für alle ein besonderes Erlebnis. Für uns als Haus war es eine schöne Begegnung, aber auch für die 21 Männer – wir haben ihnen Zugang zu einer Kunstform und zu einem Theaterbetrieb verschafft, die sie überhaupt nicht kannten“, sagt der Dramaturg Raphael Rösler. Gemeinsam mit einer Theaterpädagogin ist er im Vorfeld in Flüchtlingsheime in der Umgebung gefahren, hat das Projekt vorgestellt, von den Besonderheiten des Theaters erzählt und den „uralten, blutrünstigen Stoff“ vermittelt. „Von vielen habe ich nach diesen Workshops gehört, dass sie die Musik am Anfang kalt gelassen hat, aber mit der Zeit haben sie Gefallen daran gefunden.“ Aus der Sicht von Jan Linders, Schauspieldirektor am Badischen Staatstheater, ist das Einbinden von Flüchtlingen in Theaterproduktionen ein Weg, um „aus den Angekommenen Neubürger“ zu machen, ebenso wie das Vermitteln von Arbeitsplätzen oder der Dialog mit den Einheimischen. Das Theater als Mikrokosmos – und als gesellschaftliches Labor: „Wir im Theater können Dinge ausprobieren, weil wir die Welt jeden Tag neu erschaffen. Wir haben den Auftrag, auch in die Zukunft zu denken und Utopien darzustellen, und wenn etwas nicht klappt, können wir am nächsten Tag etwas Neues versuchen.“

Geflüchtete zu Gast beim Weihnachtsmärchen. Foto: Onuk/Martin Schmitt

Geflüchtete zu Gast beim Weihnachtsmärchen. Foto: Onuk/Martin Schmitt

Gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen und weiterzudenken, gehört zum Selbstverständnis des Theaters. Dass das Engagement die Bühne verlässt und in die Gesellschaft selbst hineinwirkt, ist im derzeitigen Ausmaß neu – und findet offenbar breite Zustimmung in der Bevölkerung: Nur vereinzelt berichten Theatermacher von kritischen Reaktionen, vom Protest gegen das an der Fassade aufgehängte „Refugees Welcome“-Transparent oder von Beschwerden langjähriger Abonnenten, die sich an der Kleidung und den aufleuchtenden Smartphones der eingeladenen Flüchtlinge stören. Deutlicher reagierten Gegner der Willkommenskultur in Cottbus: Der großformatige Aufsteller mit der Aufschrift „verweile doch! Akzeptanz – Toleranz – Hilfsbereitschaft“ vor dem Staatstheater wurde binnen kurzem zweimal mit rechtsradikalen Parolen beschmiert. Den Intendanten Martin Schüler spornt das in seinem Engagement umso mehr an: „Für mich hat das auch etwas von Kunst“, sagt er. „Ich hätte gerne den Kampf aufgenommen und so lange ein neues Schild davorgestellt, bis die andere Seite aufgibt.“ Schüler ist Mitglied der Initiative „Bündnis für Brandenburg“, die sich für die Integration von Flüchtlingen einsetzt; für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Theater in der aktuellen Situation positionieren: „Die Integration muss gelingen, da gibt es keine Alternative. Und wenn die Politik die Weichen so gestellt hat, haben wir als moralische Institution Theater das Bedürfnis, uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.“ Für die kommende Spielzeit hat er Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf den Spielplan gesetzt, ein Stück, in dem unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen, dieses Mal mit den Europäern in der Rolle der Fremden. Das Werk soll ganz für sich sprechen: „Wir reisen mit Belmonte in den Orient und kommen mit einem anderen Verständnis zurück“ – eine Umkehr der Perspektive also.

Dass das Engagement in der Flüchtlingsthematik sich nicht in Sozialarbeit und in kurzfristigen Projekten erschöpfen darf, da-rüber herrscht weitgehend Konsens; ebenso darüber, dass auch die Theater davon profitieren – und profitieren dürfen: Sie gewinnen an Relevanz, können neue Publikumsschichten rekrutieren, erweitern den eigenen Horizont. Und im Idealfall erlangen sie einen neuen Blick auf sich selbst. Dagmar Schlingmann, die Intendantin des Saarländischen Staatstheaters, formuliert es so: „Dass über alle Abteilungen und Hierarchien hinweg Leute gesagt haben, wir müssen etwas tun, schweißt zusammen – und das ist eine schöne Erfahrung.“

Eva Blaskewitz


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