Die unmittelbare
Wirkungsmacht der Musik
Umjubelte Uraufführung der »Schneekönigin« am DNT Weimar
Das Erfolgsrezept sei empfohlen zur Nachahmung: Der Komponist George Alexander Albrecht, der Textdichter Peter Truschner und der Regisseur Maximilian von Mayenburg nehmen Kinder als Publikum sehr ernst. Deshalb wurde „Die Schneekönigin“ kein auf Education-Power getrimmtes Werk, sondern eine echte Oper mit großem Orchester, die ihr junges Publikum für die Kunstform begeistert – in unterhaltsamen 80 Minuten. Es geht um große Gefühle, Gefahren, Bewährungen und den Glauben an das Gute. Ein Glücksmoment ist das auch insofern, weil Kinder nicht mit einem 100-Prozent-Happyend verschaukelt werden, sondern die Schneekönigin im Finale die Entfremdung als heutige „conditio humana“ benennt.
Die Schneekönigin - Steffi Lehmann als Gerda und der Opernchor des DNT Weimar. Foto: Ursula Kaufmann
Geradlinig wird das Märchen von Hans Christian Andersen nacherzählt: Kay verfällt durch zwei Glassplitter – einen ins Auge, einen ins Herz – der Schneekönigin. Seine Freundin Gerda überwindet alle Attacken des hier ins Zentrum gerückten bösen Kobolds und rettet Kay nach einer abenteuerlichen Reise durch die halbe Welt. Dabei gewinnt sie Freunde und wird erwachsen. Empfohlen ab 6 Jahren, gut geeignet für Ältere bis etwa 14.
Zu Beginn gibt es ein paar angeschrägte Töne, dann bleibt die Partitur mit tonalen Perioden und Gestenreichtum bis zum Ende in Spannung. Albrecht erfand für Kay und Gerda liedhafte Melodien. Den Kobold lässt er deklamieren wie Mime, die Schneekönigin führt er in irisierend hohe Lagen mit ausgezehrten Klängen. Für Raben und Räuber gibt es echt lustige Scherzi- und Genre-Flächen wie in einer guten Operette. Im Kontrapunkt rumoren, wenn nicht alles täuscht, auch „Walküre“-Motive. Doch stehen Humperdincks „Hänsel und Gretel“ Pate, denen Kay und Gerda als Mezzo
beziehungsweise Sopran-Besetzung entsprechen. Die Libretto-Verse riskieren im Metrum mitunter Monotonie und schaffen vor der Landung in banaler Reimbrecherei doch immer wieder den Abflug.
Die jungen Zuschauer saßen ohne Durchhänger, aufmerksam bis zum Schluss. Das zählt umso mehr, weil es weder Übertitel noch eine Inhaltsangabe im Programmheft gab. Albrecht fordert mit seiner Partitur die Hörer, überfordert sie aber nicht. Allenfalls die Blumenfrauen-Szene wirkt etwas zu lang. Kinder erfühlen so einiges von der unmittelbaren Wirkungsmacht von Musik und ihrem potenziellen Spannungsgehalt. Das setzte Maximilian von Mayenburg, Regisseur des Bayreuther Kinder-„Ring“ 2011, um wie ein gewichtiges Repertoirestück. Vor allem für den Chor gibt es dankbare Aufgaben: Die Szenen der Krähen und der Räuber mit der mehrschichtigen Figurencharakteristik ihrer Anführerin Ronja haben Witz. Vom Beginn in Kostümen wie zum Viktorianischen Frühstück beim Leipziger Wave-Gotik-Treffen bis zum Schluss-Vaudeville klang das rund und differenziert (Leitung: Markus Oppeneiger). Thilo Reuthers Bühne und Kostüme liefern klare Spielflächen mit Holzmöbeln daheim und einem riesigen Zeltrock der Schneekönigin.
Der Kobold als Conférencier des Bösen holt die Schneekönigin (Lini Gong mit gekonnt heiß-kalten Koloraturen) mittels eines Kurbelzugs. Jörn Eichler macht ihn mit vokaler Geschmeidigkeit zum ebenbürtigen Gegner Gerdas. Steffi Lehmann gibt ihrem umfangreichen Part passend mehr Pamina-Substanz als Gretel-Naivität. Mit freudig-beglückter Würdigung seien hier Eleonora Vacchi (Kay), Rebecca Teem (Großmutter/Blumenfrau), Daeyoung Kim (Rabe) und Sayaka Shigeshima (Ronja) genannt. Ein spezieller Sympathieträger ist Alik Abdukayumov als Rentier, mit dem liebevoll gestalteten Kopf aus Holzlatten und braunglänzenden Kulleraugen ist er vokal-szenisch schier verwachsen. Dominik Beykirch schlug mit der Staatskapelle Weimar Funken, Farben und Feuer aus der Partitur und agierte präzisionsscharf mit der Szene.
Roland H. Dippel
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