Befremdlicher Psycho-Horror
Sergej Prokofjews „Feuriger Engel“ an der Bayerischen Staatsoper
Sergej Prokofjews teilweise im oberbayerischen Kloster Ettal entstandenes gut zweistündiges Musikdrama führt am Beispiel Renatas vor, wie im 16. Jahrhundert eine mädchenhafte Wahn-Fixierung auf die Erscheinung eines „feurigen Engels“ über sexuellen Missbrauch durch einen Adeligen und Flucht ins Kloster schließlich und endlich auf dem Scheiterhaufen endet: durch die ebenfalls wahnhaft fixierte Inquisition. Der Renata bald verfallene Ritter Ruprecht kann sie nicht retten; zeittypisch spielen auch eine Wahrsagerin, der Gelehrte Agrippa von Nettesheim, ein obskure Geheimschriften liefernder Antiquar, schließlich Faust und folgerichtig auch Mephistopheles irrational herein.
Evgeny Nikitin als Ruprecht, Kevin Conners als Mephistopheles, Opernballett und Statistierie der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl
Was insgesamt ein Parallelwerk zu Pendereckis „Teufeln von Loudon“ sein könnte, hat Regisseur Barrie Kosky im Münchner Nationaltheater enthistorisiert und völlig privatisiert. Eigentlich hätte am Ende seiner Neudeutung von Prokofjews „Feurigem Engel“ ein Wagen der Nervenheilanstalt Haar-München auf die Bühne rollen können, um die sich als „Renata“ ausgebende Svetlana Sozdateleva sofort einzuliefern. Denn was die Moskauer Sopranistin an hysterischer Gestik, selbstvergessener Körpersprache bis hin zu hektisch verquastem Aktionismus parallel zu immer wieder hochdramatisch ausbrechendem Gesang, kurz: „sänger-darstellerisch“ leistete, war nicht nur derzeit wohl konkurrenzlos, sondern auch ein perfekt gezeichnetes Krankheitsbild. Bravissima!
Koskys Ritter Ruprecht könnte ein international erfahrener Businessman von heute sein, der sich in die Luxus-Suite eines Top-Hotels einmietet. Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat das im bühnenbreiten Cinemascope-Format bis ins neobarocke Kitsch-Detail gestaltet. Zu diesem exakten Realismus passte nicht, dass Renata einfach unter dem Luxusbett hervorgekrochen kam. Doch es begegneten sich ja nicht Vicki Baums „Menschen im Hotel“, sondern eine Psychotin nahm den Raum samt Klavier in Besitz und verwüstete ihn gelegentlich. Parallel zu ihren Wahnschüben verengte sich der Raum mit fahrenden Wänden und Decke mal bedrängend oder er weitete sich gespenstisch bühnengroß.
In diese Psycho-Kammer ließ Regisseur Kosky dann mit Agrippa eine Jüngerschar hereinbrechen: Es sind Tattoo-bemalte Transvestiten in bauschigen Abendkleidern, die in Otto Pichlers Schlichtchoreografie mit ein bisschen „Rocky Horror“ begannen – und sich dann beim Auftritt von Faust und Mephistopheles in ein Sado-Maso-Gewusele mit Strapsen und Penis-Gewackel steigerten, hin zum „Höhepunkt“, dass ein Glied erst als Wurst gebraten, dann halb verspeist und schließlich Renata als Penis angenäht wurde. Befremdlich war auch Koskys Entschluss, alle Klosterinsassen im Kostüm eines dornengekrönten Christus frontal gereiht auftreten zu lassen. Da konnte speziell der von Stellario Fagone klanglich glänzend einstudierte Damenchor die deutlich verschieden komponierten Reaktionen der Nonnen nur singen. Unter ihnen stand – völlig sinnentfremdet – auch der Inquisitor als Dornen-Christus, der die vom Teufel besessene Renata ja dem Scheiterhaufen überantwortet… Doch ein wohl zunehmend laizistisches Premierenpublikum akzeptierte alles, denn es war theaterhandwerklich glänzend gemacht: Beifall, Jubel, kein einziges Buh. Jubel gebührte der musikalischen Seite der Aufführung.
Vladimir Jurowski konnte das Staatsorchester animieren, Prokofjews Vielfalt leuchten, glänzen und beeindrucken zu lassen – da stehen neben knallharter Rhythmik à la Strawinsky ariose Aufschwünge in der Nachfolge Tschaikowskys, slawische Kirchenmusikklänge kontrastieren zu ostinaten Wiederholungen à la Minimal Music und die Zwischenspiele sind grandiose Musikdramatik. Dennoch wurden neben der überragenden Svetlana Sozdateleva auch der kernige Bariton von Evgeny Nikitins Ruprecht oder stellvertretend für alle gut besetzten Nebenrollen der grell verstiegene Tenor von Vladimir Galouzines Agrippa oder der geifernde Mephisto-Tenor von Kevin Conners nie zugedeckt. Musikalisch bot der Abend echtes Staatsopernniveau, szenisch blieben Koskys inszenatorische Einseitigkeiten mehrfach fragwürdig.
Wolf-Dieter Peter |