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Eroberung statt Sprengung

Zum Tod von Pierre Boulez

Der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez, einer der weltweit bedeutendsten Vertreter der musikalischen Avantgarde, ist tot. Er starb im Alter von 90 Jahren in Baden-Baden. Als junger Mann wollte er die Opernhäuser sprengen – stattdessen hat er die Bühnen der Welt erobert. Um den am 26. März 1925 geborenen Provokateur aus Frankreich war es zuletzt ruhiger geworden. Der international renommierte Komponist, Dirigent und Lehrer von Weltruf hatte schon länger gesundheitliche Probleme und hatte sich in seinen Altersruhesitz Baden-Baden zurückgezogen. In den Kurort am Schwarzwald war er im Laufe seiner Weltkarriere immer wieder gekommen, um dem Trubel in Paris zu entfliehen, zur Erholung nach weltweiten Konzerttourneen und zum Komponieren.

Seit über einem halben Jahrhundert hatte der radikale Erneuerer die Musikwelt aufgemischt. Er hat im Laufe seines Lebens viel ausgeteilt – an tote und lebende Komponisten – und auch einiges einstecken müssen. Beirren ließ er sich bei seiner Suche nach dem Neuen aber nicht.

Pierre Boulez im Jahr 2009 beim Lucerne Festival. Dessen Leiter Michael Haefliger beauftragte ihn mit der Gründung und Durchführung der Lucerne Festival Academy. Auf dem Programm dieser Ferienkurse standen Komposition, Dirigieren, Analyse und Instrumentalspiel im Ensemble und im Orchester. Rund hundertdreißig junge Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt trafen sich jährlich in Luzern, um Klassiker des 20. Jahrhunderts und neue Werke einzustudieren und aufzuführen. Foto: Priska Ketterer, Lucerne Festival

Pierre Boulez im Jahr 2009 beim Lucerne Festival. Dessen Leiter Michael Haefliger beauftragte ihn mit der Gründung und Durchführung der Lucerne Festival Academy. Auf dem Programm dieser Ferienkurse standen Komposition, Dirigieren, Analyse und Instrumentalspiel im Ensemble und im Orchester. Rund hundertdreißig junge Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt trafen sich jährlich in Luzern, um Klassiker des 20. Jahrhunderts und neue Werke einzustudieren und aufzuführen.
Foto: Priska Ketterer, Lucerne Festival

Ravel, Strawinsky, Schönberg – das war einmal. Der Mathe-Freak und Sohn eines Stahlfabrikanten aus Montbrison im Loire-Tal entwickelte die Zwölftontechnik von Arnold Schönberg zur sogenannten Seriellen Musik weiter; einer Strömung der Neuen Musik, die auf Zahlen- oder Proportionsreihen aufbaut. Seine in den 1950er-Jahren rigide konstruierte Musik trug ihm den Spitznamen „Robespierre“ ein.

Die Modernität seiner Kompositionen wie „Notations“ oder „Le marteau sans maître“ wird von Kritikern und Musikliebhabern häufig als atonal, chaotisch und ungeordnet empfunden. Was auch daran liegen dürfte, dass Boulez‘ Werk nicht unbedingt leicht zugänglich ist: „Viele Leute tun sich schwer“, weiß Musikwissenschaftler Dariusz Szymanski. Wer das Werk von Boulez verstehen und lieben will, muss neugierig sein und sich Zeit nehmen, hat sein Weggefährte, der Pianist Pierre-Laurent Aimard, einmal gesagt. „Es ist eine sehr reiche Musik.“ Kühl – wie manche sagen – sind seine Kompositionen keinesfalls, meint der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm: „Es ist eine Musik von großer Geschmeidigkeit, Eloquenz und Verführungskraft.“

Boulez hat – entgegen seiner ungestümen Worte zu Beginn seiner Karriere – kein Opernhaus gesprengt, dafür gängige Vorurteile. Etwa über Richard Wagner. 1976 dirigierte er in Bayreuth die legendäre „Ring“-Inszenierung von Patrice Chéreau – den sogenannten Jahrhundert-Ring 100 Jahre nach den ersten Wagner-Festspielen – mit ganz anderen Tempi: „Ich wollte bewusst mit der Tradition brechen, nie aber mit der Geschichte“, sagte er einmal. Und hat damit manchen Skeptiker bekehrt: „Boulez hat mich mit Wagner versöhnt“, sagt der Baden-Badener Festspielhaus-Intendant Andreas Mölich-Zebhauser. „Es gibt nicht viele solcher Menschen, die uns Neues geben und Altes besser verstehen lassen.“

Boulez ist mit den Jahren poetischer geworden, sich aber auf der Suche nach dem Neuen treu geblieben. Sein Repertoire reichte von klassischer über „mikrotonale“ Musik mit Computer bis hin zu Konzerten mit Bruce Springsteen oder Frank Zappa. Festlegen ließ er sich nie – weil er kaum etwas so hasste wie Routine.

Der Ausnahmemusiker verstand sich in erster Linie als Komponist. Er wurde aber auch für seine Interpretationskunst und seine präzisen Orchestrierungen gerühmt. Als Dirigent verzichtete er dabei auf Frack und Taktstock: „Mit den Händen kann man mehr ausdrücken als mit einem Holzstäbchen.“ Zudem war Boulez Kulturmanager, Musikphilosoph, international gefragter Lehrer und Gründer des Pariser Forschungsinstituts für Akustik/Musik IRCAM.

Boulez‘ Weltkarriere führte ihn vom Sinfonieorchester des damaligen Südwestfunks in Baden-Baden über das BBC Symphony Orchestra in London bis hin zum New York Philharmonic Orchestra. Er wurde mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen geehrt und zum 90. Geburtstag auch mit der Ehrenbürgerwürde von Baden-Baden. Im Jahr 2001 wurde Boulez mit dem Wilhelm-Pitz-Preis der VdO ausgezeichnet.

Zu den Konzertreihen zu Ehren seines Geburtstages im Kurort und auch in Berlin konnte Boulez im Frühjahr 2015 schon nicht mehr selbst kommen. Der Maestro verfolgte sie gleichwohl von zu Hause per Live-Schaltung auf dem Bildschirm mit. Sein Kopf sei noch immer „voller Musik“, sagte damals sein Sprecher.

Susanne Kupke

 

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