Die dunkle Seite der menschlichen Psyche
Goyo Monteros »Latent« in Nürnberg
Augen strahlen beim frenetischen Schlussapplaus. Wieder einmal ist der Chef des Staatstheater Nürnberg Ballett ein neues Wagnis eingegangen. Ein weiterer Schritt hinein in die innersten Abgründe und Schattenseiten der menschlichen Seele. Und das Premierenpublikum zog mit. Albtraumhaftes scheint den Choreografen bei seinen Kreationen förmlich anzutreiben. Je schwärzer der Stoff, desto eindrücklicher wird das künstlerische Ergebnis.
Ensemble, Sayaka Kado und Max Zachrisson. Foto: Jesús Vallinas
Die dunkle Seite der menschlichen Psyche ist eben sein absolutes Steckenpferd. Außer sich zu sein, hat viele Facetten. So viele, dass Montero immer wieder neue Ansätze findet, die verschiedensten Formen und Zustände tänzerisch auszuloten. Sei es in handlungsgebundenem Kontext – sozusagen verpackt als Charaktereigenschaft agierender Figuren –
oder als Kern abstrakt angelegter Werke. In seiner jüngsten Kreation „Latent“ nun mehr zugespitzt auf verschiedene Phasen einer mentalen Dauerkrise. Und abermals strahlen die Augen des jungen Familienvaters, wenn er als persönliches Pendant die eigene, glücklich-erfüllte Kindheit anführt. Doch im Theater kann er nicht anders …
Monteros kongenialer Hauptinterpret: Max Zachrisson. Viele Rollen, darunter auch den Cinderella-Prinzen, hat der wandelbare Schwede bereits verkörpert. Nun ist er der in eine klaustrophobisch-karge Zimmerbox verbannte Außenseiter, den zunehmend migräneartige Anfälle, Halluzinationen, psychotische Schübe und instabile Gefühlszustände peinigen. Dazu rauscht eine elektroakustisch bedrohliche Aura aus Gemurmel und quälenden Soundturbulenzen (Auftragskomposition: Owen Belton) durch den Raum. Gesellen sich zur Angst noch grau vermummte Doppelgänger, jagen Schauer den Mann – quasi im schwerkraftlosen Spinnenmodus – die Wände hoch und über die Grenzen seiner introspektiven Zelle hinaus.
Als eigentlicher Motor und zugleich virtuoser Klangteppich für die Ensembleparts, die in die Isolation hineinimplodieren beziehungsweise den Protagonisten wie ein Panoptikum kurioser Visionen umspülen, fungiert Hector Berlioz’ fünfsätzige „Symphonie fantastique“. „Episoden aus dem Leben eines Künstlers“ lautet der Untertitel dieser ersten, 1830 in Paris uraufgeführten Programmmusik. Er verweist auf die instrumental dramatisierte, autobiografische Liebesversessenheit des Komponisten zur Schauspielerin Harriet Smithson. Tatsächlich verbanden den Musikpoeten und die Shakespearedarstellerin später einige unglückliche Ehejahre. Aber anders als seine Berufskollegen Léonide Massine (1948), Roland Petit (1975) oder Uwe Scholz (dessen Umsetzung Montero zu Beginn seiner Tänzerkarriere kennenlernte) fokussiert Nürnbergs Tanzchef in seiner zeitgenössischen Zwischenweltchoreografie kein Phänomen der Liebe.
Tänzerisch meisterhaft lotet Montero Untiefen einer angeschlagenen Seele aus. Ein wahrhaft gutes Plädoyer, das eigene Ich schätzen zu lernen.
Bereits in der Vergangenheit ließ der Spanier sein nach sieben Spielzeiten zu unverwechselbarer Form gereiftes Ensemble subtile Befindlichkeiten im Wechselspiel von Individuum und Gruppe durchspielen – mitunter in halsbrecherischem Tempo und über bewegtes Ausstattungsmobiliar hinweg. Erinnert sei an diverse Stufen der Melancholie in „Black Bile“ oder an lebensprägende Schlüsselmomente innerhalb seiner bahnbrechend dynamisch zwischen permanent umgruppierten Mauerquadern dahinströmenden Beethoven-Kreation „111“. Wie keinem Kollegen sonst gelingt ihm dabei trotz Einsatz ähnlicher Mittel und dank megakomplizierter Lichtgestaltung, Düsternis mit gezieltem Vermittlungsgespür für seine Ideen zum Leuchten zu bringen. Selbst dunkelsten Themen gewinnt er technisch und theaterhandwerklich bravourös eine Leichtigkeit ab, die den Zuschauer fesselt.
Ensemble, Sayaka Kado und Max Zachrisson. Foto: Jesús Vallinas
„Die Frage nach der mentalen Gesundheit hat mich einfach interessiert.“ Professionellen Rat holte sich Montero in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg. Impulse für neue Bewegungsideen waren die Folge: Er bringt uns hinein in den Kopf eines Mannes und lässt uns zugleich seine Psychosen sehen. Erhaben majestätisch und schimärenhaft – wie es besser nicht geht: weder eindeutig gut noch böse – visualisiert die Tänzerin Sayaka Kado die Bestie Wahnsinn. Ein zärtlich-perfides Ungetüm, das seine Macht schleichend ausbaut. Kado wird zur subtilen Lenkerin des im gesamten Tanzstück zur Schau gestellten Unterbewusstseins und zur Anführerin diverser Sinnestäuschungen.
Tänzerisch meisterhaft lotet Montero in choreografischen Wirbeln, mithilfe zu Wurfgeschossen zusammengeknüllter Rockstoffe, von Tänzerhand gesteuerter Scheinwerfer oder zwischen Wandritzen geklemmter Körper Untiefen einer angeschlagenen Seele aus. Irgendwo verloren im Nirwana psychischer Probleme, wo keine Grenzen mehr zwischen Realität und Albtraum existieren. Erst in den letzten Sekunden der Uraufführung enthüllt eine blitzschnelle Verwandlung der Bühne (Eva Adler/Goyo Montero): In ihren Wahnvorstellungen gefangen sind hier alle! Schonungslos krass. Ein wahrhaft gutes Plädoyer, das eigene Ich schätzen zu lernen.
Vesna Mlakar |